Arbeitsverträge können, z.B. wegen einer zu geringen Bezahlung, „sittenwidrig“ sein. Dieser Artikel schildert Voraussetzungen, Rechtsfolgen und politische Implikationen der gesetzlichen Bestimmungen über sittenwidrige Verträge.
Grundlegendes
Eine allgemeine Bestimmung über sittenwidrige Verträge findet sich in §138 BGB. Der erste Absatz des Paragraphen ist kurz, aber sehr allgemein gehalten: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.“ Was die „guten Sitten“ sind, wird weiter unten erklärt; ein „Rechtsgeschäft“ ist u.a. der Abschluss eines Vertrages.
Nach dem zweiten, deutlich komplizierteren Absatz liegt eine solche „Nichtigkeit“ insbesondere dann vor, wenn es sich um ein Rechtsgeschäft handelt, durch das jemand, z.B. ein Betrieb, sich „unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche“ der anderen Vertragspartei „für eine Leistung“, z.B. Lohn, „Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen.“ Ein solcher Vermögensvorteil ist auch die Arbeit, die eine Person für eine andere Person oder einen Betrieb leistet.
Ein solches Missverhältnis kann hypothetisch sowohl darin bestehen, dass die Arbeit angesichts des vereinbarten Lohns unangemessen wenig ist, als auch darin – was der typische Fall ist –, dass der Lohn angesichts der geleisteten Arbeit unangemessen niedrig ist. Aufgrund des hohen Drucks, einen Job finden zum müssen, um zumindest einigermaßen gut leben zu können, und in Anbetracht der starken Verhandlungsposition der BesitzerInnen der Produktionsmittel, kommt praktisch nur der zweite Fall vor.
Ist ein Vertrag sittenwidrig, also nichtig, wurde aber trotzdem Arbeit geleistet, stellt sich die Frage, wie diese Arbeit – in Anbetracht des Fehlens einer rechtsgültigen vertraglichen Lohnvereinbarung – stattdessen zu bezahlen ist. Diese Frage ist in §612 Absatz 2 BGB geregelt: „Ist die Höhe der Vergütung nicht bestimmt, so ist bei dem Bestehen einer Taxe die taxmäßige Vergütung, in Ermangelung einer Taxe die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen.“ Taxe bedeutet hier so viel wie Tarif bzw. Tarifvertrag.
Wann ist nun aber ein Vertrag sittenwidrig?
Der Begriff der „guten Sitten“ in §138 BGB ist kein Begriff, der erlaubt, die je eigene Moral oder eine linke politische Programmatik in das Bürgerliche Gesetzbuch hineinzulesen. Den „guten Sitten“ einer bürgerlichen Gesellschaft widerspricht nicht, dass überhaupt Ausbeutung stattfindet, sondern dass sie deutlich stärker ausfällt als üblich.
Laut dem Duden sind Sitten die in einer Gemeinschaft geltenden, dort üblichen, als verbindlich betrachteten Gewohnheiten und Gepflogenheiten, die im Laufe der Zeit entwickelt und überliefert wurden. Folglich ist gerade das, was vom Üblichen abweicht, das Sittenwidrige. Damit kann es politisch durchaus problematisch sein, sich auf den Begriff des „Sittenwidrigen“ zu berufen.
In juristischer Terminologie werden – nach einer bereits vom Reichsgericht des deutschen Kaiserreichs entwickelten Definition – die „guten Sitten“ durch „das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ bestimmt. Kuriose Sondermeinungen und radikale politische Positionen bleiben also außer Betracht. Es kommt auf das „Durchschnittsempfinden“ an, wie Brockhaus Recht anschaulich, aber nicht ganz präzise schreibt. Das Studienlexikon Recht spricht von „herrschender Sozialmoral“. Es kommt allerdings weniger auf die Moral als Norm bzw. als Lippenbekenntnis an, als auf das, was der herrschenden Praxis entspricht (siehe Teil 2 für den Fall, dass Tarifverträge allgemein nicht eingehalten werden).
Selbst mit der Definition des Reichsgerichts bleibt aber noch ein weites Feld: Es geht um ein „Gefühl“, was als solches schon eine ziemlich vage Sache ist, und auch Ausdrücke wie „Anstand“ und „gerecht“ sind hoch umstritten. Ein solcher „unbestimmter Rechtsbegriff“ wie die „guten Sitten“ lässt den Gerichten also sehr viel Spielraum. Das ist u.a. deshalb problematisch, weil die sozialen Zugangshürden zum Beruf des Richters bzw. der Richterin noch höher sind als beispielsweise zu einem Abgeordnetenmandat im Parlament. Während von Rechts wegen alle Leute ab einem bestimmten Alter als Abgeordnete gewählt werden können, müssen BerufsrichterInnen Abitur und Studium absolviert haben. Außerdem sind RichterInnen demokratisch noch indirekter legitimiert als Abgeordnete. Da so die Gerichte kaum den Blickwinkel sozial Deklassierter teilen, ist es angebracht, der bürgerlichen Justiz mit einem gewissen Misstrauen gegenüberzutreten.
Im zweiten Teil in der nächsten Ausgabe wird es um das Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung, die Ausbeutung von Zwangslagen, den gesetzlichen Lohnanspruch und praktische Beispiel gehen.
PhilosophIn und PolitikwissenschaftlerIn. Hat zuletzt in einem Projekt zum Thema „Der Rechtsstaat in Deutschland und Spanien“ gearbeitet.