Am Wochenende vom 21. bis zum 23. Oktober 2011 trafen sich IWW-Mitglieder [1] aus den Branchengewerkschaften (Industrial Unions) 460, 640 und 660 in Portland, Oregon. In diesen Industrial Unions organisieren sich ArbeiterInnen aus der Lebensmittelindustrie, dem Einzelhandel und dem Vertrieb, sowie aus Restaurants, Hotels und der Gebäudereinigung. Die mit Abstand meisten Konflikte dieser Gewerkschaften in den letzten Jahren betrafen Restaurants und Lebensmittelgeschäfte – einige wurden mit öffentlichkeitswirksamen Kampagnen wie bei Starbucks und Jimmy John‘s international bekannt, andere wurden nicht öffentlich ausgetragen und betrafen sowohl andere große Ketten wie auch kleinere, unabhängige Geschäfte in ganz Nordamerika.
Das ganze Wochenende hindurch tauschten die AktivistInnen in organisierten Panels und Workshops, aber auch informell, Geschichten und Wissen über Betriebsarbeit aus, diskutierten über Themen der Gewerkschaft und der Arbeitswelt, sowie die Perspektive, durch die offizielle Gründung der Food and Retail Workers United ein schlagkräftigeres Netzwerk von IWW-Organizern und Mitgliedern in der Lebensmittel- und Einzelhandelsbranche in ganz Nordamerika zu schaffen. So kamen Delegierte aus Portland, Seattle, Kansas City, der Bay Area, Twin Cities, Baltimore, Richmond und anderen Städten der USA und ein Kollege aus Kanada. Das Treffen begann mit einem vom Kollektiv Red&Black Café organisierten Abendessen. Während des Essens diskutierten Wobblies mit unterschiedlichen Erfahrungen in Restaurants, Lebensmittelgeschäften und Coffee Shops über die Erfolge und Fehler vergangener Kampagnen, aber auch zukunftsgewandte Fragen wie die Möglichkeiten zur Überwindung der kapitalistischen Ordnung. Ein Kollege kommentierte das Dinner sogar mit der Bemerkung, dass dies die wohl größte Ansammlung von Wobblies in einem Raum sei, die er je gesehen hätte. So profitierten denn auch viele der anwesenden Organizer von der Möglichkeit des sozialen Beisammenseins und des Austausches.
Die beiden Folgetage beinhalteten Arbeitstreffen um das Gründungsstatut und die Gründungserklärung in ihre endgültige Form zu bringen, so dass sie noch im November im jährlichen Referendum der IWW zur Abstimmung gestellt werden können. Darüber hinaus wurden in kleineren Arbeitsgruppen zukünftige Aktivitäten geplant und Verantwortlichkeiten geklärt, um das gemeinsame Projekt voran zu bringen. Die Arbeitsgruppen für rechtliche Fragen, Bildung und Kampagnenarbeit, IT, Medien, Forschung sowie Fundraising werden als Organe der IWW Food and Retail Workers United weiterbestehen und praktische Handreichungen wie einen „Organizing-Werkzeugkoffer“, eine „Kenne-Deine-Rechte“-Broschüre für legale und illegalisierte ArbeiterInnen in den USA, ein Training für die Pressearbeit und eine eigene Website erstellen sowie bereits existierende Projekte wie das IWW-Sommer-Bildungstreffen unterstützen, welches im nächsten Jahr in Minnesota stattfinden soll.
Neben dem formellen Teil des Treffens gab es reichlich Zeit, um sich mit KollegInnen aus der Dienstleistungsbranche in ganz Nordamerika auszutauschen und neue Netzwerke zu schaffen. Am Sonntag boten viele Einzelpersonen und Gruppen wie das Frauenkomitee des allgemeinen Syndikats aus Portland thematische Workshops an, deren Bandbreite von der erfolgreichen Durchführung einer Direkten Aktion am Arbeitsplatz über den alltäglichen Kampf von Arbeiterinnen und Gewerkschaftsmitgliedern bis zur klugen Planung einer Medienkampagne reichte. Diese Workshops bereiteten den Weg für tiefergehende Diskussionen über wichtige taktische Fragen, die die Organizer der IWW zur Sprache brachten.
Eine intensive Diskussion wurde besonders zu einem Punkt geführt: Die Fähigkeit und Notwendigkeit, eine vielschichtigere Gewerkschaft zu werden, die in der Lage ist, auch Arbeiterinnen und Arbeiter in prekärsten Arbeitsverhältnissen zu vertreten. Inputreferate, die alternative Beispiele wie das Seattle Solidarity Network zeigten, führten zu einem Lernprozess und zu einer Auseinandersetzung mit Themen, die sonst selten auf Treffen der IWW behandelt werden. Als Gewerkschaft, die ihre historischen Wurzeln im Organisieren von ethnischen und sozialen Minderheiten hat, will auch die Food and Retail Workers United die Solidarität mit den marginalisiertesten Gruppen von ArbeiterInnen im Dienstleistungssektor stärken und sieht sich in der Verantwortung, diese Gruppen als Teil der Arbeiterklasse anzusprechen. Alle, die im Kapitalismus Lohnarbeit betreiben, werden täglich unterdrückt. Die Art sich zu organisieren und die nimmermüden Gespräche und Diskussionen über manchmal unbequeme Themen sind es aber, die die Gewerkschaft weiter voranbringen.
Wenn die vorgeschlagene Satzung der Food and Retail Workers United angenommen wird, wird sie zukünftig einmal im Jahr einen Kongress abhalten, um die revolutionäre Arbeit der IWW im Niedriglohnsektor bei Dienstleistungen fortzuführen. Für die nordamerikanische Gewerkschaftsbewegung, die größtenteils von bürokratischen Gewerkschaften bestimmt wird, ist die Gründung einer kämpferischen Branchenorganisation für den Bereich Nahrung und Einzelhandel ein historisch bedeutsamer Schritt.
[1] IWW steht für Industrial Workers of the World und ist ein weltweiter Verband kämpferischer, meist lokal beschränkter Gewerkschaften, dessen historischer und aktueller Schwerpunkt aber eindeutig in den USA liegt. 1905 gegründet, organisierte sie zunächst vor allem Wanderarbeiter und andere in den traditionellen Gewerkschaften schlecht vertretene Gruppen. Die Mitglieder bezeichnen sich traditionell als Wobblies.