Es geht manchmal ganz einfach: Ein antiker Philosoph, Diogenes von Sinope, soll seinen
Becher weggeworfen haben, als er einen schlabbernden Hund sah, um fortan aus der hohlen Hand zu trinken. Ähnlich einfach mag es mit der eigenen Befreiung sein, wenigstens für Augenblicke: Im Tanz nämlich wird Freiheit nicht gefordert, sie ist einfach da. Aber vielleicht lieber mit eigener Erfahrung anfangen, denn wer nicht selbst getanzt hat, sollte auch nichts dazu schreiben: Dabei unterscheiden sich meine Erlebnisse kaum von denen anderer, die sich vor zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren in alternativen Discos die Nächte vertrieben, vor und nach dem Tanzen verbotene Pflanzenextrakte inhalierten, rumknutschten oder mit dem letzten Glas Schnaps in der Ecke einschliefen. Nach dem Mauerfall, begleitet von ersten Handys und Privatfernsehen sowie neu entstehendem Internet, brachen Gewissheiten weg, alles schien irgendwie größer zu werden, und uns fiel nicht viel mehr dazu ein, als mit U2, The Cure, Nirvana zu tanzen und mit Kurt Cobain zu leiden. Und dann, zwischen Qualmschwaden aus Tabak und Hanf, dem Dunst von Patschuli und durchgeschwitzten T-Shirts, verschmolzen wir mit schrappenden, rauchigen Schreien und Tönen („Halleluja, der Turm stürzt ein“, Ton Steine Scherben) zu etwas noch Unbestimmtem, Neuem. Unsere Ohren, Bäuche, Gedanken, Herzen, Aktionen und Bewegungen wurden eins. Tagsüber und abends besetzten und verteidigten wir Häuser und rollten leere Fässer durch die Straßen, riefen: „Kein Blut für Öl.“ Und nachts tanzten wir.
Und da kommt denn auch schon der Emma Goldmann zugeschriebene Satz, „Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution“, ins Spiel. Tanz und Befreiung passen zusammen. Nicht zufällig gibt es seit einigen Jahren wiederkehrende Nachttanzdemos. Ein veranstaltendes „Kritisches Kollektiv“ aus Heidelberg schreibt dazu: „Unsere tanzenden, schwitzenden Leiber sind unser Statement gegen die Enge des langweiligen Spießbürgerdenkens. Mit stampfenden Bässen und elektrisierenden Sounds erobern wir den öffentlichen Raum zurück. Nehmen wir uns, was uns sowieso schon zusteht. Wir schaffen den Freiraum jetzt, und wir machen es hier auf der Straße.“ Obwohl es beim Tanzen oft geordneter, wenn auch nicht unbedingt langsamer, zugeht als mit wilden Zuckungen im großstädtischen Elektrobeat, so scheint auch zu anderen Zeiten und Orten etwas Widerständiges auf. Ein scheinbar harmloser Frontreigentanz wie der Rince Fada in Irland etwa war nicht nur gelebte kollektive Freude, sondern auch Ausdruck eigener Identität gegen die englische Kolonisation. Selbst irische Piraten haben ihn wohl nicht nur in historischen Romanen getanzt, wenn auch wohl nicht unbedingt in der typischen Frau-Mann-Aufstellung und bestimmt nicht nüchtern. Es geht dabei nicht zuletzt um Gleichheit. Für den katalanischen Nationaltanz Sardana, einen Kreistanz, drückte es der Friedensaktivist und weltberühmte Cellist Pau Casals (1876 – 1973) so aus: „Das Symbol des
Tanzes besteht darin, sich in vollkommener Harmonie und Gleichheit die Hände zu reichen.“Tanz kann sogar noch mehr: Vor allem in Brasilien wurde der Kampftanz, der Capoeira, der auf den afrikanischen NiGolo, den „Zebratanz“, zurückgeht, Mittel der Selbstverteidigung und Befreiung der Versklavten. Tanz schuf hier den scheinbar Wehrlosen eine tödliche Waffe gegen das Verbrechen der Sklaverei.Doch Tanz kann immer noch mehr: Es gibt einen Zusammenhang von Tanz, Ekstase und Erleuchtung. In Gary Zukavs Buch mit dem rätselhaften Titel „Die tanzenden Wu-Li Meister“ zum Beispiel wird die westliche Quantenphysik mit fernöstlicher Mystik wie dem Taoismus verglichen, und heraus kommt, nun ja, eben Tanz. Tanz der Elemente und des Kosmos. Die Alevi werden als spirituelle Richtung von einigen zu den schiitischen Muslimen (Partei Alis) gerechnet, von anderen nicht, aber unstrittig ist, dass ihr prägender Gelehrter Hadschi Bektasch Veli bereits im Mittelalter radikal humanistische Ideen vertrat. In ihren Gotteshäusern, den Cemevi, tanzen Frauen und Männer gemeinsam zu den Lauten der türkischen Saz, einer Laute ähnlich. Dies ist ihr Gebet, mit dem sie dem Universum danken. Auch die tanzenden Derwische drehen sich unentwegt im Kreis, um Gott zu schauen. Und noch weiter zurück können wir gehen, sehr weit, bis zu den Anfängen der Menschheit: Schamanische HeilerInnen trommeln und tanzen bis zur Trance, bis sie sich mit Geistern der Ahnen und Tiere vereinen und sich das Tor in die andere Welt öffnet. Wem das zu esoterisch klingt, sollte bedenken, selbst im Trancetanz kann Revolte lauern, wie der Geistertanz nordamerikanischer UreinwohnerInnen zeigt. Allerdings ist er auch erschütterndes Beispiel dafür, dass Tanz alleine keine erfolgreiche Befreiung herbeiführen kann. Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert wollten die Lakota tanzen, bis ihre durch Seuchen und Kugeln getöteten Verwandten und die abgeschlachteten Büffel wiederkehrten und die Weißen, die „bösen Geister“, die ihnen die heiligen Berge und Prärien raubten, wieder verschwanden. Die Hoffnung war wahnhaft, aber in den Reservaten tanzten Tausende, und sie tanzten friedlich, was die US-Armee allerdings nicht davon abhielt, 350 GeistertänzerInnen 1890 bei Wounded Knee zu massakrieren. So ganz und gar irrig war dieser Tanz aber vielleicht nicht. Wir sind mehr als Staub und Wasser, mehr als ein Zufallsprodukt. Das Streben für eine anarchistische Gesellschaft hat meiner Meinung auch überhaupt erst Sinn, wenn wir unser Bedingtsein in Natur und Kosmos anerkennen. Goldmanns Gedanke abgewandelt: Eine freiheitliche Revolution müsste lebendig tänzerisch sein, oder sie droht Wesen und Dynamik zu verlieren. Bisher gab es in Revolutionen meist schon nach wenigen Wochen und Monaten das Zurückgleiten in das allzu tiefe Flussbett des Herrschens und Beherrschtwerdens, am Ende verflüssigte sich entweder die Freiheit oder die Gleichheit. Tanz alleine reicht aber nicht: Revolutionäre Mittel bleiben Streik, Versammlungen, Besetzungen und Übernahme von Land, Verkehr, Fabriken durch die dort arbeitenden und betroffenen Menschen, schließlich die Neuorganisation auf der Basis von Gemeineigentum.Das Rätsel der Menschheitsgeschichte, nämlich Grundbedürfnisse, Gleichheit und Freiheit zu vereinen, kann gelöst werden. Dann wird wahrscheinlich auch viel getanzt werden. „Wahrscheinlich“, deshalb, weil es keinen Zwang dazu geben wird. Wer sich wie der eingangs erwähnte Diogenes lieber reglos neben seinem Fass sonnen will, darf auch das tun.