Was wollen die eigentlich ständig von mir?

Die Gattung des klassischen Chefs, autoritär bis cholerisch, praktisch immer männlich, der auf die Pauke haut, wenn die Mitarbeitenden nicht spuren oder wenn es Druck von der Führungsetage des Betriebs gibt, ist heutzutage immer seltener anzutreffen. In heutigen Betrieben wurde erkannt, dass die Ausbeutung der Lohnarbeitenden noch viel effektiver gestaltet werden kann, nämlich indem diese in den Prozess der Organisierung ihrer eigenen Ausbeutung einbezogen werden. Die Schlagworte, die die Betriebe sich auf die Fahne schreiben, hören sich dann auch gleich viel sympathischer an: Flache Hierarchien, Partizipation, Möglichkeiten zur Entfaltung der eigenen Potenziale usw. Eine Folge: Wir werden regelmäßig zu Gesprächen auf Augenhöhe in vertrauensvoller und offener Atmosphäre eingeladen. Um wirkliche Gesprächseinladungen handelt es sich hierbei faktisch nicht – denn diese dankend abzulehnen, bringt in der Regel Ärger mit sich.

Wie die Vorgesetzten dazu kommen, sich in Mitarbeiter-, Zielvereinbarungs- oder Kooperationsgesprächen konstruktiv mit uns unterhalten zu wollen, ergibt ein Blick in einschlägige (Lehr-)„Werke“, die unter anderem in der Betriebswirtschaftslehre Verwendung finden. Zielvereinbarungen, bei denen MitarbeiterInnen und Vorgesetzte einmal pro Jahr Ziele festlegen, die der oder die MitarbeiterIn bis zum nächsten Jahr erreicht haben soll, sind zum einen ein Instrument der Personalentwicklung und zum anderen ein Führungsinstrument (Becker 2002). Eine „gute“ Personalentwicklung zeichnet sich demnach dadurch aus, die Leistungsfähigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zu verbessern und gleichzeitig die individuellen Potenziale der Mitarbeitenden zu entfalten. Für Letzteres ist wiederum der Lernbedarf der einzelnen Mitarbeitenden ausschlaggebend. Vorgesetzte ermittelten diesen am besten anhand des Verhaltens ihrer Untergebenen und aus deren Umgang mit Fragestellungen aus deren täglichen Arbeitsfeldern (Wegerich 2007). Als Instrument der Personalentwicklung sind die Zielvereinbarungen dazu da, das Leistungs- und Kooperationsverhalten der Mitarbeitenden zu verbessern (Becker 2002). Jahr für Jahr soll sich also sowohl unsere Leistung als auch unsere Kooperation gegenüber KollegInnen und Vorgesetzten erhöhen. Als Führungsinstrument sind Zielvereinbarungen so perfide wie allgegenwärtig: Vorgesetzte sollen entlastet werden, indem Fremdführung durch verstärkte Selbstführung ersetzt wird (Becker 2002). Im Idealfall brauchen die Lohnarbeitenden also gar nicht mehr von ihren Chefs unter Druck gesetzt werden, sondern setzen sich von alleine selber noch viel stärker unter Druck, um die „vereinbarten“ Ziele – an deren Festlegung sie selbst beteiligt waren – zu erreichen. Damit die Zielvereinbarungen ihren gewünschten Effekt erfüllen, sind vor allem eine gute Zielplanung (die Ziele müssen im Einklang mit den übergeordneten Unternehmensstrategien stehen) wichtig, und eine entsprechende Überprüfung. Im klassischen Ist-Soll-Vergleich wird bei jedem Gespräch überprüft, inwieweit die Ziele des letzten Gespräches erreicht worden sind. Die Konsequenzen bei „guter“ oder „schlechter“ Zielerreichung können ebenfalls gemeinsam von Vorgesetztem/r und MitarbeiterIn festgelegt werden – beispielsweise können sie sich über Erfolgsanteile bei anforderungsgerechter Zielerfüllung und über Sanktionen bei selbstverschuldetem Nicht-Erreichen der Ziele verständigen. Dies fördere unternehmerisches Handeln und Denken und aktiviere Potenziale (Kohnke 2001), sprich, die Selbstführung nach ökonomischen Wunschkriterien anderer. Die Ergebnisse der Zielvereinbarungsgespräche und weiterer Gespräche ähnlicher Natur werden in der Personalakte festgehalten. Die Effekte der beschriebenen „konstruktiven Gesprächskultur“ dürften klar sein: Zum einen ist es schwerer, sich gegen Maßnahmen aufzulehnen, die mensch (zumindest dem Anschein nach) selber mit-bestimmt hat. Zum anderen wird versucht, auf diesem Wege und durch den Anreiz von Aufstiegschancen eine höhere Identifikation mit dem Unternehmen zu erreichen, was neben einer größeren Bereitschaft zu immer höherer Leistung und bspw. Überstunden eine leichtere Akzeptanz von Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen hervorruft und Widerstand am Arbeitsplatz unwahrscheinlicher werden lassen soll. Nicht zuletzt sind die Macht- und Ausbeutungsverhältnisse im Betrieb durch die beschriebenen Maßnahmen weniger direkt spürbar, sondern machen sich eher subtil bemerkbar, was es unter anderem erschwert, KollegInnen für Widerstand am Arbeitsplatz zu gewinnen. Jan Möllhoff, Personalleiter der IKB Leasing GmbH, erklärt in Bezug auf Zielvereinbarungsgespräche: „Wenn die Mitarbeiter realistische Weiterentwicklungs- und Aufstiegschancen im eigenen Unternehmen erkennen, steigt ihre Bereitschaft, ihre persönlichen Interessen mit den betrieblichen Zielsetzungen in Einklang zu bringen“ (Wegerich 2007, S. 185).

 

Literaturhinweise:

Becker, Manfred (2002): Personalentwicklung. Bildung, Förderung und Organisationsentwicklung in Theorie und Praxis. Stuttgart.

Kohnke, Oliver (2002): Die Anwendung der Zielsetzungstheorie zur Mitarbeitermotivation und -steuerung., in: Bungart, Walter, Kohnke, Oliver (Hrsg): Zielvereinbarungen erfolgreich umsetzen. Wiesbaden.

Wegerich, Christine (2007): Strategische Personalentwicklung in der Praxis. Instrumente, Erfolgsmodelle, Checklisten. Weinheim.

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