Im April 2015 zwang ein Urteil des ägyptischen obersten Verfassungsgerichts mehrere Arbeiter in den „Ruhestand“, die sich in Gewerkschaften engagiert und zu Streiks aufgerufen hatten. Dies geschah, obwohl sich nach der ägyptischen Revolution im Januar 2011 zahlreiche unabhängige Gewerkschaften neu gegründet hatten. Was hindert diese jungen Gewerkschaften daran, die Arbeitenden zu unterstützen?
Da ist zum einen der juristisch völlig ungeklärte Status unabhängiger Gewerkschaften: Das noch geltende Gewerkschaftsgesetz 35 erkennt nur die 1957 von Präsident Gamal Abdel Nasser gegründete ETUF (Ägyptische Gewerkschaftsförderation) als legitime Vertretung der ArbeiterInnen an. Neu gegründete unabhängige Gewerkschaften bewegen sich also in einer juristischen Grauzone, die ihre Verhandlungsstärke und Anerkennung beschneidet. Bereits vor der Auflösung des ägyptischen Parlaments 2012 lagen zwei Gesetzesentwürfe vor, welche die juristische Situation potenzieller neuer Gewerkschaften grundlegend verändert hätten: Ein Gesetzesvorschlag stammte von der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit – d.h. der Partei der Muslimbruderschaft –, der andere vom früheren Minister für Zuwanderung, Ahmed El-Borei. Nach der Revolution übernahm der Vizepräsident der ETUF das Amt des Ministers für Arbeit. Da die Führungsriege der ETUF unabhängige Gewerkschaften als illegitim und illegal betrachtet und darüber hinaus der Muslimbruderschaft nahe steht, unterstützte er den Gesetzesvorschlag der Muslimbrüder. Dieser Gesetzesentwurf wurde jedoch von anderen Gewerkschaftsführern stark kritisiert und schließlich abgelehnt, da er keine Neugründung von Berufsverbänden gestattet und eine stark zentralistische Organisation des Gewerkschaftsbundes fördert. Darüber hinaus verlören Arbeitende, die aus der ETUF austräten, ihren Anspruch auf den Sozialfonds – Geld für Pensionen und Krankenversicherung und bezuschussten Urlaub, das ihnen direkt vom Lohn abgezogen wird und ausschließlich der ETUF zufließt. El-Boreis Gesetzesentwurf hätte zwar Gewerkschaftsfreiheit (ohne Nachteile für die Arbeitenden) ermöglicht, aber die Regierung lässt ihn inzwischen seit vier Jahren in den Archiven verstauben.
Politische und strukturelle Isolation
Zum anderen mangelt es an Vernetzungen und strukturellen Beziehungen zwischen den jungen Gewerkschaften. Dies hängt unter anderem mit einem tiefgehenden Bruch zwischen den zwei jüngsten Gewerkschaftsbünden zusammen: Die EDLC (Ägyptischer demokratischer Arbeiterkongress) ist aus einer Spaltung von EFITU (Ägyptischer Verbund unabhängiger Gewerkschaften) hervorgegangen, die vor allem auf ideologischen Unterschieden beruhte, wie etwa, ob man zur Organisation der Gewerkschaften einen „bottom-up“ (EDLC) oder „trickle-down“-Ansatz verfolgen sollte. Hinzu kommt, dass die Regierung der Muslimbrüder ab Juli 2013 den harten neoliberalen Kurs des vormaligen Mubarak-Regimes weiterverfolgten: Laut Jano Charbel, einem ägyptischen Journalisten und Anarcho-Syndikalisten, behinderte das Ministerium für Arbeit unter der Herrschaft der Muslimbrüder die Anerkennung neuer Gewerkschaften und kollaborierte mit der muslimbrüdernahen ETUF. Die Ministerin für Arbeit, Nahed el-Ashry, äußerte sich in diesem Zusammenhang dahingehend, dass die Unterzeichnung der Konvention der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) 1987 „nicht gleichbedeutend mit Gewerkschaftsvielfalt“ sei.
Zuletzt ist die Gewerkschaftsarbeit aus historischen Gründen weitgehend entpolitisiert: Das Regime von Präsident Hosni Mubarak (1981-2011) trennte sehr deutlich zwischen sozioökonomischen Forderungen und politischer Agitation. Ersteres, wie z.B. lokale Streiks wurden vom Regime weitgehend mit nachsichtiger Ignoranz bedacht. Letzteres, wie z.B. organisierte landesweite Streiks und Kritik am Regime konnten Verhaftungen der Protestführer durch den ägyptischen Sicherheitsapparat und systematische Repression der Gewerkschaftsarbeit zur Folge haben. Daher besteht nach wie vor ein tiefes Misstrauen der Arbeiterschaft in die Zusammenarbeit mit politischen Gruppierungen. Die Herrschaft der Muslimbrüder oder General al-Sisis ab 2014 haben daran wenig geändert. Im Gegenteil: Zu Beginn der Regierung der Muslimbruderschaft 2013 bemühten sich viele Gewerkschaftsführer, besonders aus der EFITU, ihr Fähnchen nach dem Wind des Arbeitsministeriums zu hängen, um möglichst Reibungen zwischen Gewerkschaften und Politik zu minimieren.
Auswirkungen auf das öffentliche Leben
Inwiefern wirkt sich diese Situation auf den ägyptischen Alltag aus? Streiks bleiben weiterhin oft das einzige Mittel, um Arbeitgebern Druck zu machen, da diese die neueren Gewerkschaften nicht anerkennen bzw. als Verhandlungspartner akzeptieren. Das öffentliche Schulsystem und die öffentliche Gesundheitsversorgung liegen brach, weil unterbezahlten Ärzten und Lehrern eine Überzahl an Patienten bzw. Schülern gegenübersteht. In der ägyptischen Mittelschicht gehört es zum Standard, für seinen Nachwuchs zusätzlichen privaten Nachhilfeunterricht zu buchen, damit er zu etwas Wissen kommt und die Abschlussprüfungen besteht. Die Lehrer verdienen sich so das nötige Zubrot oder arbeiten als Taxifahrer. Ähnlich ist die Situation in öffentlichen Krankenhäusern: Eine angemessene medizinische Behandlung können die unterbezahlten Ärzte mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln nicht bewerkstelligen. Ein umfassender Protest der Ärzte im Jahr 2012 gegen diese Bedingungen wurde nach einer Intervention der Muslimbruderschaft im Ärzte-Syndikat schlicht bis 2013 „ausgesetzt“.
Kurz gesagt: Solange die Gewerkschaften sich nicht von politischer Einflussnahme freimachen und nicht geeint und gut vernetzt agieren, werden Arbeitsproteste die Arbeitsbedingungen nur begrenzt ändern können.