Das Jahr 1968 wird zur Zeit hoch und runter bejubelt. Wir wollen daran auch teilhaben: 1968 begann der englische Anarchist Nicolas Walter am Küchentisch, während er seine jüngste Tochter im Kinderwagen schaukelt, den inzwischen zum Klassiker avancierten Text „Betrifft: Anarchismus“ nieder zu schreiben, der später in 15 Sprachen übersetzt wurde.
Nicolas Walter (1934-2000) war studierter Historiker und als Publizist tätig, der seit den 1950’er Jahren der anarchistischen und anti-militaristischen Bewegung in England angehörte. Sein Text „About Anarchism“ erschien erstmals 1969 als Sondernummer der 100. Ausgabe der Zeitschrift „Anarchy“ und bald darauf im Verlag Freedom Press als Broschüre, erlebte bis 1977 fünf Auflagen und 1979 erschien die erste Auflage in deutscher Sprache im West-Berliner Libertad Verlag als kleinformatiges Taschenbuch mit beigefügter Bibliographie. Jetzt liegt die dritte deutsche Auflage vor, die neu übersetzt auf der letzten englischen Ausgabe von 2002 basiert.
Walter hat, im Gegensatz jedweder historischen Gepflogenheiten, seinen Text nicht mit Jahreszahlen und Lebensdaten bespickt, sondern sein Einführungstext in die Ideenwelt des Anarchismus basiert auf vier Themenschwerpunkte: Was glauben Anarchist*innen, wie unterscheiden sie sich, was wollen sie und was tun die Anarchist*innen. In einem lockeren Ton arbeitet Walter seine eigenen Erfahrungen, Träume und Wünsche heraus, die z.T. recht angenehm an die Sprache von Horst Stowasser erinnert. Keine Besserwisserei, kein Klugscheissen. Obwohl der Text jetzt 50 Jahre alt ist (und zwischendurch schon mal erweitert wurde), gibt die Tochter Natasha Walter im Nachwort die Bedenken ihres Vaters zum Ausdruck, der darauf hinwies, dass die zwischenzeitlichen Entwicklungen der Neuen Sozialen Bewegungen, wie etwa Feminismus oder die Öko-Bewegung, noch unbedingt hätten mit eingearbeitet werden müssen, bildet dieser Grundlagentext immer noch ein solides Fundament für jede am Thema interessierte Person. Das Problem, dass meist Anarchist*innen anscheinend „Einführungen“ lesen und kritisieren, ist wohl weit verbreitet, aber „Einführungen“ werden in erster Linie für Menschen geschrieben, die nicht im Thema stecken und einen möglichst kurzen und prägnanten Text lesen wollen, um dann bei Bedarf sich tiefer mit dem Thema zu beschäftigen. Und dafür scheint mir doch der Walter-Text bis heute eine gute Basis zu sein.
Am besten gefiel mir persönlich bei dem Kapitel „Was tun die Anarchist*innen?“ der erste Satz: „Das erste, was die Anarchisten und Anarchistinnen tun, ist denken und reden.“ Selbstverständlich folgen noch andere Tätigkeiten, aber dieser erste Satz fand ich humorvoll und prägnant – und wenn der vor jeder Aktion auch angewendet wird, erscheint er mir recht sinnvoll zu sein.
Über die Hälfte des Buches macht jener Teil aus, der in der zweiten deutschen Ausgabe mit zum Buch gehörte, nämlich eine vom Verleger Jochen Schmück zusammengestellte und kommentierte Bibliographie von rund 250 Buchtiteln, die hier natürlich aktualisiert wurde und bis in die neuesten Entwicklungen in den USA reichen. Eine strenge Strukturierung der Bibliographie hindert manchmal etwas beim stöbern, aber für eine gezielte Suche ist ja das Inhaltsverzeichnis da, die dann nach Themen geordnet einen raschen Zugriff auf die Titel bietet.
Wer sich also bei dem Walter-Text angesprochen fühlt, kann sich ohne weiteres gleich mit entsprechender Literatur versorgen. Und es ist dem Text hoch anzurechnen, dass er keine Richtungen bevorzugt, sondern eher eine gemeinsame Sache in den Vordergrund stellt, die uns heutigen Aktivist*innen auch dazu anregen sollten, öfter mal über den eigenen Tellerrand hinaus zu sehen und uns doch – zumindest Stückweise – als eine (kämpferische) Einheit zu sehen. Dieses Buch, nun seit knapp vierzig Jahren, erneut zu lesen, war durchaus ein Gewinn. Auf der anderen Seite war es eine Freude für mich persönlich, dass der Libertad Verlag (inzwischen ja von West-Berlin nach Potsdam verzogen), nach Jahrzehnten der Beschäftigung mit dem Internet (Aufbau der DadA-Website, Digitalisierung des „Lexikon der Anarchie“ usw.), sich nun auch wieder dem Buch zuwendet. In einem recht persönlichen Geleitwort schildert Jochen Schmück seinen Weg, als Hauptschüler und Mitglied der „Rote Garde“ (Jugendorganisation der maoistischen KPD/ML) zum Anarchismus und der Gründung des Libertad Verlages, Mitte der 1970’er Jahre im Herzen der West-Berliner Bestie, Neukölln. Alles für meinen Geschmack etwas zu kurz, genauso wie die biographische Notiz über Nicolas Walter von seiner Tochter Natasha, aber alles sehr interessant zu lesen. Es ist die Leichtigkeit des Anarchismus, die wir unbedingt brauchen in diesen Zeiten.
Nicolas Walter, Betrifft: Anarchismus / Jochen Schmück, Leitfaden in die Herrschaftslosigkeit. Mit einem biografischen Nachwort von Natasha Walter. Herausgegeben, neu aus dem Englischen übersetzt, mit einem Geleitwort, Anmerkungen und einer kommentierten Anarchismus-Bibliographie versehen von Jochen Schmück. Libertad Verlag Potsdam 2018, 198 S. 12,80 Euro
Beitragsbild: Libertad Verlag Potsdam ©