Das anarchistische Familientreffen

Zwischen dem 19. und 23. Juli 2023 versammelten sich mehr als 4000 Menschen im Schweizer Dorf Saint Imier anlässlich des 151. Jahrestages der Gründung der Anti-Autoritären Internationale an jenem Ort. Dieser wurde aufgrund seiner geographischen Lage als Drehkreuz der europäischen Länder, wegen des Asyls verfolgter Revolutionär*innen in der Schweiz, sowie aufgrund der starken anarchistischen Strukturen vor Ort gewählt. Im Sinne der Dezentralität, Autonomie und des Föderalismus erweist er sich bis heute als viel symbolträchtiger, als es eine der Hauptstädte der europäischen kapitalistischen Nationalstaaten sein könnte.

Geschichtsbewusstsein, Familientreffen, Begegnungsort und Experiment

Als heimat- und rastloser, arbeitsscheuer und chronisch skeptischer Geselle sah ich mich Mitte Juli an keinem Ort besser aufgehoben, als unter zufällig versammelten Genoss*innen, die sich ebenfalls auf die Reise gemacht hatten. Verständlicherweise war ich im Vorhinein gespannt, was mich erwarten würde. Vier Aspekte dieser Zusammenkunft schienen mir von Bedeutung zu sein: das Geschichtsbewusstsein, der Charakter eines Familientreffens, die Gelegenheit zur Begegnung und das lebhafte Experiment.

Das Treffen in Saint Imier trug zur Herausbildung eines anarchistischen Geschichtsbewusstseins bei bzw. war Ausdruck für jenes. Auch vor 150 Jahren verorteten sich die Anarchist*innen in einer widerständigen Tradition. Doch schufen die Entstehung des modernen Staates, des Kapitalismus, der bürgerlichen Kleinfamilie, des Nationalismus und die wiedererstarkte Rolle der Kirchen bestimmte Rahmenbedingungen, zu denen sich die anarchistische Strömung innerhalb des Sozialismus konträr positionierte. Emanzipation wurde dementsprechend umfassend und in verschiedenen Dimensionen gedacht. Präfigurativ sollte die kommende Gesellschaftsform bereits vorweggenommen werden, statt auf die politische Revolution und die Übernahme der Staatsmacht zu setzen. Als Modell diente die Föderation dezentraler autonomer Kommunen und die Grundannahme einer rationalen Selbstorganisation der Gesellschaft, bei Überwindung von Privateigentumsordnung und staatlicher Regierung. Es ist wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass Anarchist*innen kontinuierlich in sozialen Bewegungen aktiv waren und sie beeinflusst haben. Sie haben Geschichte geschrieben, auch wenn wir davon in Lehrbüchern kaum etwas, und wenn, dann nur verzerrt lesen.

Zweitens erwartete uns bei der Internationalen Anti-Autoritären Zusammenkunft ein Familientreffen. Die meisten von uns gehen mit gemischten Gefühlen zu derartigen Versammlungen. Statt aufgrund ihrer Gene, waren die Genoss*innen in ihren Leidenschaften verwandt. Und wenn es leidenschaftlich wird, führt dies bekanntermaßen schnell zu Konflikten. Dabei ist Streit äußerst wichtig, um nicht zu stagnieren, sich zu verständigen und weil es schlichtweg von Bedeutung ist, wie wir uns positionieren, wo wir hinwollen und wie wir handeln. Doch werden Kontroversen in anti-autoritären Szenen häufig nicht besonders respekt- und verständnisvoll und zielorientiert, sondern polemisch, aggressiv und missverständlich geführt. Vielleicht war das eigentlich Überraschende, dass sie dennoch alle kamen: Anarch@-Syndikalist*innen und Insurrektionalist*innen, anarchistische Kommunist*innen und Individualanarchist*innen, Waldbesetzer*innen, Basisgewerkschafter*innen, Lebenskünstler*innen, Aufständische und Queerfeminist*innen. Trennungen sollen hierbei nicht klar gezogen werden. Dennoch prägen bestimmte Vorstellungen, Aktivitäten und Kampffelder jene, die Stile und Sprache jener, die sich ihnen umfangreich widmen. Wer einen Blick dafür hat, erkennt dies. Ideengeschichtlich und politisch-theoretisch betrachtet, haben die Anhänger*innen der jeweiligen Strömungen und Gruppen die selben Wurzeln – welche gleichwohl schon seit ihrem Beginn wie ein Wurzelgeflecht verzweigt waren. Ob und wie diese verworrene Vielfalt zusammenwirken konnte, war eine spannende Frage hinsichtlich der Zusammenkunft.

Das Treffen sollte drittens zu einem Ort der Begegnung werden, in welchem sich vereinbarter oder beiläufiger Austausch ergeben konnte, um die anarchistischen Netzwerke zu stärken und pulsieren zu lassen. Ob dies auch von den international vernetzten Geheimdiensten so gesehen wurde, ist mir nicht bekannt. Allerdings hätten die Teilnehmenden wohl in keinem europäischen Land so ungestört von der Polizei zusammenkommen können, wie in Saint Imier. Auf dem Treffen wurde mir bewusst, was ich vorher nur wenig begriffen hatte: das Diskutieren selbst ist eine wichtige Praxis, die es zu pflegen und auszuweiten gilt. So erhob sich ein großes Gemurmel von der Veranstaltung. Ich kann mich an keine andere in dieser Größenordnung erinnern, auf welcher ein dermaßen interessierter Austausch stattgefunden hat. Dies wurde mir besonders am Samstagabend bewusst, als der Marktplatz von hunderten Menschen gesäumt war, die sich unterhielten und ihre Gemeinschaft genossen. Wer sprachlich bewandert oder besonders interessiert ist, konnte so auch an den Debatten der Genoss*innen aus anderen Ländern teilnehmen und von ihnen lernen. Andere begegneten Bekannten aus ihren Herkunftsländern wieder oder blieben stärker in ihren jeweiligen Grüppchen. Ob in Workshops, bei Konzerten, der Essensschlange oder auf der Wiese – Begegnung war bei vielen Gelegenheiten möglich, wenn man sie suchte. Und tatsächlich zeigten sich ausgewiesene Anarchist*innen dabei in der Regel weit offener, als viele ihrer Kolleg*innen zumindest in der deutschen radikalen Linken.

Schließlich war die Zusammenkunft in Saint Imier ein großes soziales Experiment. Großveranstaltungen wie Festivals oder politische Camps kennen wir, ebenso lokale Szenen, in denen explizite Anarchist*innen meistens in der Minderheiten sind. Was aber würde passieren, wenn mehrere tausend von ihnen zusammenkämen? Würden sie ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein entwickeln und sich darauf beziehen? An welchen Punkten konnten sich die Clans versöhnen und verständigen und an welchen musste es unweigerlich zu Spannungen und Konflikten kommen? Würden uns die Begegnungen und der Austausch auf dem Treffen inspirieren und motivieren, eher frustrieren oder gar langweilen? Wie viel Struktur braucht es, um ein derartiges Großevent letztendlich zu organisieren – bei der Küche, der Buchmesse, dem Zeltplatz, dem Workshop- und Kulturprogramm? Und wie viel Offenheit und Vertrauen in den Prozess der Selbstorganisation muss man mitbringen, damit die Teilnehmenden nicht ihren chronisch anti-autoritären Reflexen erliegen und aus Prinzip rebellieren? Letztendlich konnte niemand einschätzen, was geschehen würde…

Gewusel, Verworrenheit und Spontaneität

Die Atmosphäre der Zusammenkunft war eine zwischen Festival und Kongress, zwischen alternativem Campingurlaub und ernsthaften Vernetzungsbestrebungen. Sie bewegte sich zwischen den Wünschen, eine gemeinsame Identität herzustellen und Differenzen zu markieren, sollte Bildungsveranstaltung und Ort des Feierns werden. Meiner Wahrnehmung nach handelte es sich hierbei nicht um eine Unentschiedenheit, sondern um eine wilde Mischung, welche den eigenartigen Charakter des Internationalen Anti-Autoritären Treffens prägte. Am besten waren die Teilnehmenden darauf vorbereitet, wenn sie wussten, worauf sie selbst Lust und woran sie Interesse hatten und gleichzeitig die Offenheit, die Spontaneität sowie ein paar Freund*innen mitbrachten, um sich auf Ungeplantes einzulassen.

Im Unterschied zum Treffen von 2012 – und der Kritik daran – gab es kein festgesetztes und begutachtetes Programm, sondern eine digitale Maske, in welcher man im Vorfeld einen Workshop einreichen konnte. Dies hatte zweierlei zur Folge: Bei einem Viertel der eingetragenen Workshops erschienen die Gastgebenden gar nicht. Dies mag verschiedene Gründe haben, ist aber ärgerlich, wenn Teilnehmende sich einen bestimmten Input gewünscht oder ihre Wege danach ausgerichtet haben. Häufig wurde dann von einigen Anwesenden vorgeschlagen, den Workshop trotzdem spontan durchzuführen und das jeweils vorhandene Wissen zusammen zu tragen. Die Qualität der angebotenen Inhalte und ihre methodische Erarbeitung und Vermittlung schwankte aus diesem Grund enorm. Weiterhin ergab sich aus der Art der Zusammenstellung des Programms, dass vereinzelt Veranstaltungen mit verschwörungsmythologischen, antisemitischen oder patriarchalen Denkmustern angeboten wurden. Wenngleich es nicht zu einer ernsthaften Kaperung des Programms kam, ist es doch schwierig, wenn zumindest einige rote Linien nicht deutlicher bestimmt werden. Übrigens lag das Schwergewicht der Veranstaltungen keineswegs allein auf anarchistischer Geschichte, Einblicken in soziale Kämpfe oder Begriffe. Vielmehr erfreuten sich Angebote zu Theater, Selbstreflexion und Praxistipps großer Beliebtheit.

Gefeiert wurde ab Donnerstagabend ebenfalls – mit alten Bekannten von früheren Begegnungen, Freund*innen aus den eigenen Städten und anderen, die sich spontan in Gruppen zusammenfanden. Während Hunderte bei Konzerten im „Salle de Spectacles“ schwitzen, im anarchistischen Kulturzentrum „Espace Noir“ in der Dorfmitte, dem leerstehenden ZAF oder kleineren Räumen zusammenkamen, blieb es auf dem Zeltplatz und in der Turnhalle doch erstaunlich ruhig. Dass es sich um eine Atmosphäre handelte, in welcher die meisten Teilnehmenden den größten Teil der Zeit äußerst achtsam und wertschätzend miteinander umgingen, wird erst im Vergleich zu anderen Veranstaltungen dieser Größenordnung klar. Ebenfalls bestand die Bereitschaft vieler Teilnehmender, beim Aufbau und Abbau, beim Reinigen der Toiletten oder an einer Bar auszuhelfen. Dennoch war besonders das Care-Team oft unterbesetzt und wurde teilweise als eine Art Dienstleistungsgruppe missverstanden. Durchaus gab es auch Personen, welche das Treffen eher konsumierten und ihren Beitrag offenbar allein in ihrer Anwesenheit sahen. Eine grundlegende Kritik an der Orga-Gruppe ist dahingehend zu formulieren, dass sie sich während des Treffens nicht ansprechbar zeigte – und damit ein Stück aus der Verantwortung für den Rahmen zog, den sie mit geschaffen hatte.

Während viele der Teilnehmenden sich zu den Essenszeiten an der Großküche in der Schlange fanden und dort auch ziemlich gewiss zufällig Bekannte trafen oder sich Gruppen herum sitzender Unbekannter anschließen konnten, war die Buchmesse in der großen Eissporthalle eine Reise für sich wert. An den unterschiedlichsten Ständen konnte man sich hier klassische und brandaktuelle Bücher und Zines anschauen, Aufnäher und Postkarten mitnehmen, Zeitungen durchblättern und sich wiederum in Gespräche verstricken lassen. Der Austausch von Publikationen gehört somit seit eh und je zu anarchistischen Zusammenkünften, wie der Austausch von Erzählungen, Praxistipps, Gedanken, Kontakten und Körperflüssigkeiten. Ich für meinen Teil bin gesättigt von Büchern und war daher eher an Begegnungen interessiert, die aber ab dem dritten Tag auch zu überfordern begannen.

Feiern, Organisierung und Spannungen

Auch die großen Themen wurden beackert, am heftigsten vermutlich das Verhältnis zum Krieg in der Ukraine. Von traditionalistischen Anarch@-Syndikalist*innen aus Italien, deren Antimilitarismus eher phrasenhaft vorgetragen wurde, über Anhänger*innen der gewaltfreien Strömungen, die zur Desertion aufriefen und Insurrektionalist*innen, welche die Sabotage propagierten, hin zu Menschen, die nachvollziehen konnten, dass man gegen die russische Invasion zur Waffe greift, waren alle Positionen vertreten. Menschen aus der Ukraine, Russland und Belarus, waren fassungslos vor der Ignoranz ihrer Genoss*innen und wurden teilweise angegangen. Dahingehend ließ sich auf dem Treffen leider keine Verständigung erzielen, sondern wurde auf bittere Weise die Gräben offenbar, welche die anarchistische Szene zwischen und innerhalb der verschiedenen Länder spaltet.

Ein kleinerer Konflikt entfaltete sich daran, dass die Orga-Gruppe zwar einen Zeltplatz für FLINTA- und queere Personen eingerichtet hatte, aber nicht bedachte, dass beide Begrifflichkeiten jeweils bestimmte Gruppen ausschließen und unterschiedliche Auswirkungen haben. Tatsächlich treten dabei wenige Anarchist*innen so auf, dass sie sich aggressiv einem der Lager anschließen und dabei mittels Unterstellungen dem anderen gegenüber feindlich auftreten. Dennoch ist die Debatte darum, auf welche Subjekte der geschlechtlichen und sexuellen Emanzipation sich bezogen wird, nicht unwesentlich. Letztendlich entschieden sich einige Personen einen eigenen queeren Zeltplatz zu eröffnen und organisierten selbst verschiedene Workshops, wie auch eine Party Freitagabend, welche großen Zulauf hatte. Allerdings konnte das Haus der Kirchgemeinde St. Georges dafür nicht genutzt werden, so dass schließlich in einen Raum der Eishalle gefeiert wurde.

Schwerwiegender wog ein Konflikt mit der französischen Gruppe Federation Anarchiste. Jene weigerte sich, ein islamkritisches Buch zurückzunehmen, dessen Vorwort Michel Onfray geschrieben hat, welcher mittlerweile mit der extremen Rechten in Frankreich kollaboriert und Querfrontpolitik betreibt. Nach dem Polizeimord an Nahel und den anhaltenden Protesten war somit verständlich, dass sich rassistisch diskriminierte Menschen davon provoziert fühlten und sich andere mit ihnen solidarisierten. Angehörige der Federation Anarchiste zeigten bedauerlicherweise auch nach einem sechsstündigen Vermittlungsgespräch keinerlei Einsicht, sabotierten ein Verständigungstreffen der auf der Buchmesse vertretenen Gruppen und traten äußerst aggressiv auf. Dies führte zur offiziellen Beendigung der Buchmesse am Sonntag und verunmöglichte somit einen Abschluss in gegenseitigem Respekt.

Das Thema wurde Sonntagnachmittag bei einer Veranstaltung mit Open Mic wieder aufgegriffen. Bevor diese begann, wurde der Raum von singenden und rufenden Demonstrierenden genommen, welche sich auf der Bühne niederließen. Sie positionierten sich als migrantisch und rassistisch unterdrückt und kritisierten vehement die Ausschlüsse, welche auf der Zusammenkunft stattgefunden hatten. Statt das weiße Mittelschichtskinder Drogen nehmen, eine Party feiern und sich ihrer politischen Identität vergewisserten, brennt die Welt heute ab, werden Menschen von der Polizei ermordet, im Mittelmeer ertrunken gelassen oder müssen in Flüchtlingscamps vor sich hin vegetieren. Die Kritik war zutreffend und verschaffte einer Wut und Unzufriedenheit Raum, die sich über die Tage bei verschiedenen Gruppen angestaut hatte. Auch besonders kinderfreundlich war das Treffen nicht und auch nicht barrierefrei. Weiterhin bemerkten Teilnehmende aus lateinamerikanischen Ländern, dass es einem Selbstverständnis der Internationalität wohl kaum gerecht wird, sondern besser europäische Zusammenkunft heißen sollte – was nicht vorrangig die Anzahl der Teilnehmenden aus verschiedenen Ländern betraf, sondern vor allem den oft fehlenden Blick über den europäischen Tellerrand hinaus. Warum diese Kritik sich aber daran zuspitzte, dass immer noch einige weiße Anarchist*innen Dreadlocks tragen, kann ich persönlich schlecht nachvollziehen. Skurril erschien dann, dass auch ein Punk sich äußerte, „diskriminiert“ worden zu sein, weil ein Workshop zur Unterdrückung von Männern abgelehnt wurde, ebenso wie ein weiterer Redner auf manipulative Weise bestritt, dass es so etwas wie kulturelle Aneignung gibt. Übrig von dieser zerfaserten Diskussion blieb ein bedrückendes Gefühl.

Trotz berechtigter Kritik hätte ich dem Orga-Team gewünscht, dass andere Teilnehmende ebenfalls ihre Wertschätzung ausgedrückt hätten. Immerhin ist es ein Haufen Arbeit, selbstorganisiert und ohne Bezahlung so ein Großevent auf die Beine zu stellen. Dass man damit nicht allen Ansprüchen und Erwartungen gerecht werden kann – zumal, wenn sie von Anarchist*innen kommen, die sich selbst viel zu ernst und zugleich viel zu wenig ernst nehmen – ist selbsterklärend. Deutlich wurde dadurch allerdings auch, dass mehr Teilnehmende als erwartet nicht zur Feier eines historischen Ereignisses oder ihrer eigenen politischen Identität gekommen waren, sondern sich konkretere Solidarisierung mit ihren Kämpfen, sowie Debatten in größerem Rahmen erhofft hatten. Letzteres ließe sich gestalten, bräuchte dazu aber eine gezielte und kluge Vorbereitung, um gewinnbringend zu sein.

Zerfaserung, Rückkehr und Nachklang

Aufgrund der trubeligen Atmosphäre war ich wohl nicht der einzige Teilnehmende, dem es schwer fiel, auf die eigenen Grenzen zu achten. Auch andere hatten genug und weite Wege vor sich und reisten Sonntagnachmittag ab. Von den Reisenden hatten sich manche zusammengefunden und hingen noch einige Tage herum oder schlugen sich weiter durch. Dabei gab es eine Menge abzubauen und aufzuräumen. Im Städtchen blieb der Eindruck von einer Meute bunter Menschen zurück, die sich meistens freundlich und achtsam verhielten, aber über die Bahngleise liefen, nicht im vorgesehenen Bereich zelteten, Wände besprühten und es mit dem Bezahlen im Supermarkt nicht so genau nahmen. Zu hoffen ist, dass die lokal ansässigen Genoss*innen nicht all zu viel Zorn auf sich zogen, durch jene, die meinten, sich in ihrer anarchistischen Identität zu bestätigen, indem sie aus Prinzip provozierten. Dem Turnus nach haben sie neun Jahre Zeit dafür, in einem der privilegiertesten und wohlhabendsten Flecken der Welt, eine Neuauflage zu organisieren. Ich selbst würde wieder teilnehmen, zumal, wenn ich nun einen Eindruck davon habe, was mich vor Ort erwarten könnte.

Allerdings wäre es tatsächlich an der Zeit, die kontroversen Themen in großer Runde kollektiv zu besprechen. Beschlüsse können auf so einer Zusammenkunft nicht getroffen werden. Dazu sind die Perspektiven und Positionen zu unterschiedlich und begegnen sich die Anhänger*innen verschiedener Strömungen und Gruppen in ihren lokalen und regionalen Szenen auch nur punktuell. Selbstverständlich ist alles richtig und wichtig: Der Arbeitskampf und der Aufstand, die Veränderung des eigenen Lebens und die soziale Revolution, die Organisierung von unterdrückten Minderheiten und der Kontakt zu den Nachbar*innen. Dahingehend eine gemeinsame Strategie oder ein geteiltes Grundsatzprogramm festlegen zu wollen, kann nur jenen in den Sinn kommen, die am anarchistischen Familientreffen noch nicht verzweifelt sind. Oder jenen, die gelernt haben, dass dessen eigentlicher Wert darin besteht, tiefe Gemeinsamkeiten in äußerster Vielfalt zu entdecken, damit Spannungen auszuhalten, ohne in die Beliebigkeit abzudriften. Dieses Vertrauen zu lernen und zu erfahren, dass die wirklich radikalen und emanzipatorischen Veränderungen alltäglich und ruhig stattfinden, während wir zugleich der Sehnsucht nachgehen, dass eine ganz andere Gesellschaftsform möglich werden soll, ist ein potenzieller Gewinn, den man aus der Internationalen Anti-Autoritären Zusammenkunft in Saint Imier ziehen konnte.

 

Titelbild: https://anarchy2023.org/de

Einen weiteren Artikel zum Thema findet ihr hier.

5 Kommentare zu «Das anarchistische Familientreffen»

  1. Schade und sehr traurig, dass in der DA autoritäre und aggressive Vorgehensweisen gegen Teilnehmende verschwiegen und womöglich im Vorfeld legitimiert werden, das heißt konkret Drohungen, zerstören unliebsamer Bücher inklusive öffentlicher Verbrennung, das Umwerfen von Büchertischen Andersdenkender, die dazu mit Gegenständen beworfen wurden. Kein guter Diskussionsstil , besonders an diesem Ort des vielseitigen und vielfachen Austauschs. Die Aktionen gegen die FAF gingen von Personen aus, die sich dem libertären Lager im weitesten Sinne zurechnen, und die außerdem durchweg der weißen Mittelschicht angehören, was die Sache im Übrigen weder verschlimmert noch verbessert.

    Blöd auch dass darüber die mögliche Debatte über die beiden inkriminierten Bücher respektive von Hamid Zanaz, L’impasse islamique – la religion contre la vie und von René Berthier, Un voile sur la cause des femmes vollkommen untergeht. Die Titel hier nur, damit die Leute selber sich eine Meinung bilden können und nicht von Vernichtungsaktionen durch Stellvertreter oder von Interpretationen Dritter abhängig werden.

    Das Vorwort von Michel Onfray zum ersten Buch ist 2009 geschrieben worden, lange bevor er mit Rechten liebäugelte und hat mit der jüngst begangenen Tötung Nahels, dessen Familie sich weitere politische Aneignungen inzwischen verbeten hat, keinen kausalen Zusammenhang.

    „Da Religionskritik (an allen Religionen) nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht für alle freien Geister ist, erklären sich die unterzeichnenden Herausgeber feierlich für die Veröffentlichung von Hamid Hazaz’ L’impasse islamique politisch mitverantwortlich und werden dem Autor, dem Vorwortschreiber und dem Herausgeber zur Seite stehen, falls es zu Druck oder Drohungen gegen sie kommen sollte.“ (S. 2 des verbrannten Buchs)

    Unterzeichner waren AAEL, CIRA, CNT, Egrégores, FZM, la Digitale, l’Attrape science, le Coquelicot, l’échappée, l’Impossible, L’Insomniaque, le Mot et le Reste, Marginales, Le Monde Libertaire, Nautilus, No Pasarán, Place d’armes, Tops, Solitude Urbaine.

    Insgesamt betrachtet, kann an einem Treffen wie in St Imier und an seiner Organisation immer viel Kritik geübt werden, überwiegend ist es aber eine immense Leistung gewesen, etwa dass für fast ebensoviele Leute über die Tage gekocht wurde wie in der Stadt leben, dass letztere uns alle nicht nur friedfertig ertragen sondern auch seine Infrastruktur bereitgestellt hat, oder dass die Buchmesse trotz der Störaktionen auf absolut mehrheitlichen Beschluss der Bücherstände bis zum Ende dann friedlich fortgesetzt wurde. Und auch wenn Teilnehmende, überwiegend aus Osteuropa, wohl nicht zu unrecht das insgesamt sehr Party- und Lifestyle-orientierte Schwergewicht der Tage beanstandet haben.

  2. Danke dir für den Bericht. Schade finde ich, dass nicht mehr auf die gewerkschaftlichen Programmteile und die anwesenden Gewerkschaften eingegangen wurde. Insgesamt hast du dich – für meinen Geschmack – ein wenig zu sehr an dem erwartbaren Spektakeln und Skurrilitäten abgearbeitet.

  3. Hallo Anèse Kayal und Steff Brenner, ich habe eure Kommentare gelesen und möchte mich knapp dazu äußern:

    Was den Hinweis von Anèse angeht, danke für deine Ergänzungen und eigene Sichtweise. Ich sehe es ähnlich, dass solche Fragen kontrovers disutiert werden sollten. Allerdings erschien mir der Fall eben nicht so eindeutig, wie du ihn geschildert hast. Religionskritik ist wichtig und die Verbrennungs-Aktion kein gutes Signal. In einen Zusammenhang mit der Kollaboration Michel Onfreys mit der extremen Rechten in Frankreich habe ich den Mord an Nahel gestellt, um darauf hinzuweisen, warum einige Teilnehmende vermute ich zurecht verärgert waren. Sich daraufhin umgekehrt mit Baseballschlägern zu bewaffnen und jegliches Vermittlungsangebot zu sabotieren, spricht nicht dafür, dass die FAF an der Behebung des Konfliktes interessiert war.

    Was Steff schreibt: Ja, das kann ich verstehen, auch an dieser Stelle. Ich würde es sogar begrüßen, wenn Leute aus klarer syndikalistischen Perspektiven Berichte und sonstige Beiträge schreiben. Das kann ich aber nur bedingt leisten. Deswegen mache ich transparent, dass ich Dinge vor allem aus Sicht eines synthetischen Anarchismus betrachte. Für mich waren die Spektakel und Skurrilitäten nicht ganz so erwartbar, wie du meinst. Abgesehen davon, gehören sie meiner Ansicht nach dennoch in einen Bericht, wenn sie die Atmosphäre eines solchen Treffens stark mitgeprägt haben.

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