Der nachfolgende Text[1]http://recomposition.info/response-to-direct-unionism/ wurde 2012 auf der mittlerweile eingestellen Internetseite recomposition.info mit folgender Vorbemerkung veröffentlicht:
„Dieser Beitrag stammt von unserem Freund und IWW-Mitglied John O’Reilly. John schreibt als Antwort auf das Diskussionspapier „Direct Unionism“, das in IWW-Kreisen Gegenstand einiger Diskussionen war. Für diejenigen, die das Diskussionspapier noch nicht gelesen haben, ist Johns Antwort ein guter Ausgangspunkt für den Einstieg in die Diskussion.“
Das genannte Diskussionspapier scheint bei unseren IWW-Genoss:innen nach wie vor als zentrales Strategiedokument zu gelten.[2]https://www.wobblies.org/portfolio-category/broschueren/strategiedebatte/ Diese IWW-Strategiedebatte ist aber zumindest an der Direkten Aktion in den letzten zehn Jahren anscheinend vorbeigegangen – auch an den Anarchosyndikalist:innen hierzulande?
Deswegen schlage ich vor, hier eine der treffendsten und knappsten Antworten innerhalb dieser Debatte zu dokumentieren – als „Einstieg“ und als Diskussionsanregung. Denn die aufgeworfenen Fragen bezüglich einer arbeitsrechtlich-offiziellen bzw. auch nur in den Augen der Kolleg:innen legitimen „Anerkennung als Gewerkschaft“ ließen sich wohl auch erkenntnisgewinnbringend in der FAU diskutieren.
Bspw. im Hinblick auf die Teilnahme an Betriebsratswahlen oder dem oft ausgegebenen Ziel des Abschlusses von Haustarifverträgen. Anschließend sind noch zwei Antworten von Wobblies auf den Artikel von John O’Reilly dokumentiert.
Eine Antwort auf „Direct Unionism“ von John O’Reilly
Ein neues Pamphlet mit dem Titel „Direct Unionism: A Discussion Paper“, das von einigen IWW- Mitgliedern verfasst wurde, hat in den letzten Monaten viele Diskussionen ausgelöst. Ich stimme einem Großteil des Papiers zu und halte es für eine nützliche Möglichkeit, Gedanken darüber voranzutreiben, was die Gewerkschaft tut und wie sie das, was sie tut, schon heute besser machen kann. Ich denke, dass jede ernsthafte Schrift, die von IWW-Mitgliedern über unsere Methoden und Ideen veröffentlicht wird, ein wichtiger Beitrag zu unserer Organisationskultur ist, und ich freue mich, dass es so viel Resonanz auf diese Schrift gab. Ich habe einige Meinungsverschiedenheiten mit dem Pamphlet, von denen ich glaube, dass sie es wert sind, dargelegt zu werden. Ich werde mich nicht mit den Punkten aufhalten, in denen ich mit dem Pamphlet übereinstimme, sondern werde stattdessen respektvolle Kritik äußern, wie das Ganze meiner Meinung nach verbessert werden könnte.
Zunächst eine Zusammenfassung der grundlegenden Argumentation der Schrift: Die Autor:innen kritisieren mehrere Praktiken oder Ideen einiger IWW-Mitglieder. Ihre Hauptkritik richtet sich gegen den Vertrag[3]In etwa für den Rechtsrahmen der BRD: den Haustarifvertrag. als Endziel einer IWW-Kampagne im Betrieb. Der Vertrag, so argumentieren die Autor:innen, sei nicht nur ein unzureichendes Ziel, weil er in Folge eines Abschlusses stagnierende Kämpfe in den Betrieben nach sich zöge und uns damit Kopfschmerzen bereite. Er bremse zudem auf politischer Ebene aktiv den Klassenkampf, indem er als Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital fungiere. Der im Vertrag verkörperte Kompromiss fördert den sozialen Frieden und nicht den Kampf. Durch den Abschluss und die Einhaltung eines Vertrages wird eine Gewerkschaft vom Kampf in den Betrieben weg und hin zum Kontraktualismus („contractualism“) am Arbeitsplatz geführt. Die Autor:innen schlagen auch einen nützlichen Umgang mit der Frage vor: „Was ist, wenn die Mitglieder in einer demokratischen Organisation eben einen Vertrag wollen?“ Sie argumentieren schlüssig, dass wir als gute Organizer:innen versagt haben, wenn die Mitglieder diesen wollen – egal welche Resultate das dann zeitigt.
Die Autor:innen setzen diesem vertraglichen Ansatz eine Gewerkschaft entgegen, die sich auf den
Kampf konzentriert, auf das Hinarbeiten auf betriebliche Auseinandersetzungen, auf Siege und Niederlagen und auf eine demokratische, aber intelligente Organisation. Sie formulieren eine klare und überzeugende Perspektive dafür, was die IWW tun sollten. Wir sollten eine Gewerkschaft kämpferischer Arbeiter:innen sein, die sich direkt für den Aufbau des Klassenkampfes einsetzt und das Bewusstsein, die Erfahrung und das Engagement ihrer Mitglieder für die Klasse ständig steigert. In zwei wichtigen Details ist ihre Kritik jedoch falsch: in ihrer mangelnden Sorge um die Organisationsform und ihre Gegenüberstellung von Verträgen einerseits und Nicht-Anerkennung („non-recognition“) andererseits.[4]Zur Weiterführung dieser Debatte siehe bspw.: https://organizing.work/2022/10/practice-involuntary-recognition/
Die Autor:innen schreiben, dass sie sich nicht sonderlich darum kümmern, in welcher Form der Kampf am Arbeitsplatz stattfindet. Sie sagen: „Wir versuchen, den Formalismus nicht überzubetonen (…) wir beurteilen einen Kampf nicht einfach nach seiner besonderen Form – sei es die Form der Gewerkschaft, die Form der Betriebsversammlung oder die Form eines ‚Rates im Betrieb‘.“ Das ist ein Fehler, und er wird in einem Abschnitt mit dem fragenden Titel „Versuchen wir, eine ‚Gewerkschaft‘ aufzubauen?“ ausbuchstabiert. Für die direct unionists scheint die Antwort darauf „nicht unbedingt“ zu sein. Ich bin anderer Meinung.
Die Gewerkschaftsform, zumindest die IWW-Version der Gewerkschaftsform, ist wichtig. Wir müssen eine formale Organisation aufbauen, und wir müssen in der Lage sein, diese zu nutzen, um eine IWW-Identität aufzubauen. Eine Gewerkschaft, wie sie von den IWW praktiziert wird, ist eine Gruppe von Arbeiter:innen, die zusammenkommen, um ihre Interessen zu vertreten. Sie gehen schon heute gegen die Interessen der Unternehmer:innen vor und bauen damit einen Kampf für morgen gegen die Interessen der Kapitalist:innenklasse auf.
Durch den Aufbau der Gewerkschaft verbreiten wir unsere Botschaft in der gesamten Klasse und haben eine Fahne, auf die wir zeigen und sagen können: „Schaut her, das ist es, was die Gewerkschaft tut.“ Durch die IWW-Kampagne in den Jimmy-John’s-Sandwichläden in den twin cities wissen die Beschäftigten in Fastfood- und Restaurantbetrieben, dass es da draußen eine Gewerkschaft für sie gibt. Ohne die Gewerkschaftsform hätten diese Arbeiter:innen schon längst wieder die dort aufscheinenden Möglichkeiten vergessen, weil es keine Organisation gäbe, an die sie sich anschließen könnten. Eine klare Organisation ist wichtig, weil sie es uns ermöglicht, durch eine Kultur der Solidarität eine starke gewerkschaftliche Identität aufzubauen und es anderen Gruppen von Arbeiter:innen zu ermöglichen, unsere Vision in der Praxis zu sehen und sich uns anzunähern.
Die Organisation ist nicht, oder sollte zumindest nicht, eine „Gewerkschaft von Militanten“ sein, wie das Papier zu suggerieren scheint, sondern stattdessen eine „Gewerkschaft von militanten Arbeiter:innen“. Damit meine ich, dass die IWW keine Organisation von hochgezüchteten Kaderorganizer:innen sein sollte, die Kämpfe am Arbeitsplatz anheizen, sondern eine formale Gewerkschaft, die sich aus Arbeiter:innen mit unterschiedlichem Bewusstseinsständen und Organisierungsfähigkeiten zusammensetzt. Eine formale Gewerkschaft, die immer darauf drängt, ihre Mitglieder weiterzuentwickeln.
Es wird immer Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungs- und Bewusstseinsniveaus geben, und indem wir uns die Gewerkschaftsform zu eigen machen, können wir Arbeiter:innen, wo auch immer sie sich befinden, einbeziehen und sie als Revolutionär:innen weiterentwickeln. Denn wenn wir es mit dem revolutionären Kampf ernst meinen, müssen wir unsere organisatorischen Fähigkeiten in der Breite der Klasse eben durch den Klassenkampf aufbauen. In demjenigen Geiste, welchen frühe IWW-Organizer:innen vorschlugen, wenn sie sagten, dass die revolutionäre Industriegewerkschaft uns für die Übernahme der Wirtschaft nach einer Revolution befähigen sollte. Indem wir die Gewerkschaft aufbauen, indem wir Arbeiter:innen einbeziehen und mit ihnen Erfahrungen im Kampf machen, haben wir Räume, in denen wir Arbeiter:innen zu Organizer:innen und Revolutionär:innen ausbilden.
Die direct unionists bestehen auf der „Notwendigkeit der Organisation“, erklären aber nicht ausreichend, was Organisation bedeutet. Wenn wir der Organisation nicht genug Aufmerksamkeit schenken, wird unsere Analyse, wie wir handeln sollen, unscharf. Dann könnten wir Fehler begehen, die weder den Klassenkampf voranbringen noch unsere Praxis besser machen. Wir treten geschlossen und öffentlich auf, weil wir nur so Macht haben. Wir sollten ein revolutionäres gewerkschaftliches Banner tragen und in revolutionär-gewerkschaftlicher Weise handeln. Wenn nicht, welche Führung könnten wir dann sonst anbieten?
Sich darüber klar zu werden, was wir sind und was wir tun, ist ein wichtiger Teil der Organisierung. Wie oft haben wir jemandem die Politik der IWW in einem persönlichen Gespräch erklärt und haben gehört: „Wow, die IWW glauben an etwas! Das ist inspirierend!“ Die Wahrheit ist, dass, ob es einem gefällt oder nicht, Arbeiter:innen bei Organizer:innen und Aktivist:innen nach Ideen suchen. Indem wir die Fahne der IWW hochhalten und uns als formale, revolutionäre Gewerkschaft aufbauen, erleichtern wir den Anschluss an die Organisation – indem wir also eine IWW-Identität durch Kultur und Organisierung aufbauen. Und wir machen es uns einfacher, unsere Mitglieder intern weiterzubilden, indem wir bewusst als Organisation über Mitgliederentwicklung nachdenken.
Der zweite hauptsächliche Fehler der direct unionism Perspektive ist die Verwechslung der Anerkennung als Gewerkschaft und Kontraktualismus als ein und dieselbe Sache. Hier lohnt es sich, den Text ausführlich zu zitieren:
„[Wir] möchten anmerken, dass direct unionism die Anerkennung als Gewerkschaft nicht ablehnt. Sie lehnt nur die offizielle Anerkennung als Gewerkschaft und die legalistischen Methoden ab (Verträge, labor board-Wahlen, Registrierung als Gewerkschaft) die zu diesem Zweck eingesetzt werden. Dieses Pamphlet betont absichtlich das ‚Hier und Jetzt‘. Aber wenn wir einen Punkt erreichen, an dem die IWW die Mehrheit in einem Betrieb stellen, wird Anerkennung als Gewerkschaft nicht viel mehr bedeuten, als einen durch das Management anerkannten IWW-Delegierten im Betrieb als erste Anlaufstelle für das Management zu haben, wenn es um die Arbeitsbedingungen im Betrieb geht.“
Die direct unionists argumentieren, dass die Anerkennung als Gewerkschaft in ferner Zukunft eine Möglichkeit sei, aber kurzfristig seien die meisten Formen der Anerkennung als Gewerkschaft einfach nur Kontraktualismus und sollten vermieden werden. Es ist erwähnenswert, dass die direct unionists den Kontraktualismus als IWW-Strategie in dem gesamten Beitrag effektiv demontieren – eine Kritik, die ich teile. Sie argumentieren jedoch, dass wir entweder Verträge abschließen und in die damit verbundenen negativen Aspekte hineingezogen werden, oder aber direkt als Gruppe von Arbeiter:innen handeln könnten, indem wir direkte Aktionen durchführten und all diese Fallstricke vermieden. Aber die Frage der Anerkennung als Gewerkschaft stellt sich nicht erst in ferner Zukunft, sie ist sogar einer der wichtigsten Gegenstände der meisten unserer aktuellen Kampagnen in Betrieben.
In allen gewerkschaftlichen Kämpfen der IWW, an denen ich teilgenommen oder mit denen ich zu tun hatte, war die Frage der Anerkennung als Gewerkschaft und Legitimität ein wiederkehrendes Thema – manchmal explizit und manchmal implizit. Die Bosse versuchen manchmal, die Gewerkschaft zu delegitimieren, indem sie argumentieren, dass ein Ansatz direkter Aktion kein gewerkschaftlicher Ansatz sei. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen, aber am häufigsten geschieht dies, indem der Chef sagt: „Wenn sie sagen, dass sie eine Gewerkschaft sind, dann sollten sie eine Gewerkschaftswahl beantragen.“ Hier versucht der Chef die Legitimität der Gewerkschaft am Arbeitsplatz in Frage zu stellen, oft als Teil eines Versuchs, die Gewerkschaft als unnötige dritte Partei zu verdrängen.
Wir können darauf mit der Beantragung von Gewerkschaftswahlen im Betrieb antworten, was die direct unionists und ich aus denjenigen Gründen ablehnen würden, die sie in der Broschüre darlegen. Oder wir können hartnäckig weiter nur auf direkte Aktionen drängen, ohne die Frage unserer Kolleg:innen zu beantworten, warum wir keinen Antrag auf Gewerkschaftswahlen stellen werden. Unter den derzeitigen Bedingungen des Arbeitsrechts und des Klassenbewusstseins ist es keine wirklich wirksame Antwort, wenn wir einem:einer Kolleg:in einfach sagen, dass eine Wahl eben eine schlechte Idee sei. Denn die IWW und die Arbeiter:innenbewegung haben aktuell nicht die kulturelle und ideologische Macht, die wir bräuchten, damit die meisten Menschen unsere Antworten akzeptieren würden – ganz ohne diese selbst in der Praxis funktionieren zu sehen. Ein fellow worker sagte mir, dass es seiner Meinung nach genau aus diesem Grund dazu käme, dass alle neuen Sektionen („branches“) mindestens eine Vertragskampagne durchführten.
Die Frage der Legitimität stellt also einen Machtfaktor in unseren Gewerkschaftskämpfen dar. Ich bin mit dem Kontraktualismus nicht einverstanden, denke aber auch, dass die Antwort der direct unionists ebenfalls schwach ist. Wenn wir uns nur auf direkte Aktionen stützen, müssen wir uns fragen, warum wir überhaupt eine Gewerkschaft gründen und uns nicht auf informelle Arbeitsgruppen beschränken sollten – was die direct unionists ja ebenso ablehnen. Wir müssen einen Weg finden, um eine Antwort auf die Frage nach der Legitimität der Gewerkschaft zu geben. Ich denke, wir können diesen in dem Beispiel finden, das die direct unionists selbst verwenden, um für den Nichtkontraktualismus („non-contractualism“) zu argumentieren. Nämlich das Local 8 in Philadelphia der IWW-Langstreckenschiffer in den 1910er und 20er Jahren. Die direct unionists sagen:
„Sie [Local 8] etablierte die ‚Arbeiter:innenkontrolle‘ in den Docks von Philadelphia und schaffte dabei einen Ausgleich zwischen Tageskämpfen und radikalen, nichtkontraktualen Prinzipien. Um dies zu erreichen, bestreikten die Hafenarbeiter:innen von Philadelphia jeden Pier, an dem ein:e Reeder:in versuchte, Arbeitskräfte, die nicht gewerkschaftlich organisiert waren, zum Entladen der Fracht einzusetzen.“
Was die direct unionists hier jedoch nicht erwähnen, ist, dass Local 8 durch eine starke Organisierungskampagne, die sich über Jahre hinzog, von der Organisation der Reeder:innen als legitime Vertreterin der Langstreckenschiffer in Philadelphia anerkannt wurde. Die IWW hatten ein Vermittlungsbüro, das von den Reedereien genutzt wurde, um Arbeiter:innen anzuheuern – ähnlich, wie es auch heute unter den Gewerkschaften der Langstreckenschiffer:innen üblich ist. Auch die Arbeiter:innen waren überzeugt, dass die IWW ihre legitime Vertretung sei und weigerten sich, mit solchen Kolleg:innen zu arbeiten, die ihre Mitgliedsbeiträge nicht bezahlt hatten oder keine Gewerkschaftsanstecker trugen. Kurzum, die IWW kämpften durch eine energische Kampagne direkter Aktionen für eine formale Anerkennung als Gewerkschaft außerhalb eines vertraglichen Rahmens und erhielten diese auch. (Siehe Peter Cole’s „Wobblies on the Waterfront: Interracial Unionism in Progressive-Era Philadelphia“ zur Belegung dieses Abschnitts)
Die direct unionists könnten hier das Kind mit dem Bade ausschütten. Selbst wenn wir den Kontraktualismus für einen Fehler in der revolutionären Gewerkschafterei halten, müssen wir feststellen, dass es verschiedene Arten der Anerkennung als Gewerkschaft gibt. Die Frage der Legitimität kann nicht einfach durch das Hoffen darauf gelöst werden, dass die Arbeiter:innen eine Gewerkschaft, die sich nur auf direkte Aktionen verlässt, irgendwie als legitim ansehen werden. Die kapitalistische Ideologie ist allgegenwärtig, und wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass sich die Arbeiter:innen, wenn sie heute vor die Wahl gestellt werden zwischen einem puren Ansatz der direkten Aktion und einem Vertrag, welcher eine Anerkennung als Gewerkschaft bedeutet, sich häufig für einen Vertrag entscheiden werden – weil er die Gewerkschaft als legitime Kraft am Arbeitsplatz erscheinen lässt. Die IWW müssen dafür kämpfen, einen Umgang mit dem Problem der Legitimität zu finden, ohne dabei unsere Instrumente der direkten Aktion aufzugeben, sondern sie vielmehr zu einem Teil der Kultur auf Arbeit zu machen.
Ein Großteil des Pamphlets „Direct Unionism“ entlarvt Ansätze und argumentiert zu Recht gegen diese, welche die Entwicklung eines vollständig ausgearbeiteten Modells eines revolutionären Gewerkschaftswesens erschweren würden. „Business Unionism with red flags“ – reformistische Gewerkschafterei mit ein paar roten Fahnen darüber – ist nach wie vor ein mahnendes Konzept, das wir nicht aus den Augen verlieren dürfen und gegen dessen Fußfassen wir in unserer eigenen Organisierung kämpfen müssen. Es reicht eben nicht aus, zu erklären, dass wir Revolutionär:innen sind und dass deswegen alles, was wir tun, revolutionär sei.
Wir brauchen eine Organisierungspraxis, die unserer Vision und unseren Werten von der Gewerkschaft entspricht, die wir uns wünschen. Bei der Entwicklung dieser Praxis müssen wir jedoch die Praktiken, die wir mit reformistischen sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften in Verbindung bringen, sorgfältig hinterfragen und uns selbst dieselben Fragen gefallen lassen, die wir kritisch an diese richten. Nur weil einige Organisationen sich selbst als sozialpartnerschaftliche Gewerkschaften bezeichnen, heißt das nicht, dass alles, was daraus folgt, von Natur aus sozialpartnerschaftlich ist. Der Reformismus hat dieselben Praxisprobleme wie die revolutionäre Gewerkschafterei, und wir sollten in der Lage sein, über die Lager hinweg „beste Praktiken“ richtig zu analysieren und sie zum Vorteil unserer Klasse zu nutzen.
Antwort auf O’Reillys Artikel von Scott Napalos[5]https://thoughtsonthestruggle.blogspot.com/2012/03/response-to-direct-unionism.html Siehe Kommentarspalte
Ich bin einer der Autoren des Pamphlets. Die Leute wissen das wahrscheinlich nicht, aber das Dokument war das Ergebnis einer Reihe von Entwürfen und Debatten mit Wobblies über Jahre hinweg. Aus diesem Grund stellt es eine Synthese und einen Kompromiss aus verschiedenen Positionen dar. Das zu wissen, ist wahrscheinlich hilfreich, wenn man es liest […]
Was die Frage der Anerkennung als Gewerkschaft betrifft, so gab es hier einige Unstimmigkeiten. Einige waren damit einverstanden und befürworteten das Streben nach einer Anerkennung als Gewerkschaft auf taktischer Basis (unterschiedliche Formen der Anerkennung als Gewerkschaft oder nicht, je nach Kontext), andere (mich eingeschlossen) lehnten die Anerkennung als Gewerkschaft ganz ab. Ich denke, dass diese Debatten oft vom falschen Standpunkt aus geführt werden. Die Leute debattieren entweder darüber, ob eine Strategie der Anerkennung als Gewerkschaft zu unseren Werten passt oder ob sie uns viele Mitglieder und Macht mit numbers-seeking-tactics einbringt. Beides hat in Teilen etwas für sich, übersieht aber das eigentliche Problem, nämlich dass diese Fragen nicht von der Geschichte isoliert sind, sondern damit zusammenhängen, wie sich der Kampf im Laufe der Zeit entwickelt.
Die Realität ist, dass wir in einer ganz bestimmten Zeit leben. Es hat sich ein legalistisches Arbeitsregime entwickelt, welches die Geschichte der Arbeiter:innenbewegung nachhaltig verändert hat, und das unterscheidet uns von den alten IWW. Sogar die AFL musste damals illegalistische Taktiken anwenden, und die Anerkennung als Gewerkschaft war ohne intensive Kraftaufwendung nicht wirklich eine praktikable Option. Das ist ein Unterschied zu unserer Zeit. Aufschlussreicher wäre ein Blick auf die heutigen syndikalistischen Bewegungen und die Spaltung zwischen denjenigen, die eine formale Anerkennung als Gewerkschaft befürworten und denjenigen, die sie ablehnen, und welche Konsequenzen das hat.
Bei den Widersprüchlichkeiten im Zusammenhang mit der Anerkennung als Gewerkschaft geht es nicht nur um Legitimität, sondern um etwas Grundsätzlicheres. Wie können wir funktionierende Gewerkschaften in einer Zeit haben, in der nur sehr wenige Menschen an Arbeitskämpfen teilgenommen haben, in der die Menschen im Allgemeinen von der Politik entfremdet sind und in der die kapitalistische Umstrukturierung die Arbeiter:innenmacht verdrängt und zersplittert hat? Die Herausforderung für revolutionäre Arbeiter:innen besteht sowohl darin, in einem unglaublich feindseligen Umfeld, das Veränderungen ablehnt, Menschen für ihre Interessen zu organisieren, als auch mit einer großen Trägheit gegen den (oft) illegalistischen Ansatz, den dies erfordern würde, umzugehen.
Diejenigen, die Versuche einer Strategie der Anerkennung als Gewerkschaft unterstützen, unterschätzen oft das Ausmaß des Kampfes, der für eine ernsthafte kämpferische Gewerkschaft zum jetzigen Zeitpunkt erforderlich wäre. Sie schätzen nicht angemessen ein, ob die Menschen über Jahre hinweg ein spaltendes, bedrohliches und gestörtes Klima am Arbeitsplatz haben wollen. Normalerweise ist es besser zu kündigen, als diese Option zu wählen – es sei denn, man ist bereits radikalisiert. Wenn sich die objektiven Umstände nicht ändern (was jetzt vielleicht allmählich der Fall sein könnte), ist es unwahrscheinlich, dass wir mit einem solchen kämpferischen Ansatz nennenswerte Erfolge sehen werden, zumal jede gelbe Gewerkschaft leicht unsere Basis einfach abwerben könnte, wenn es hart auf hart kommt.
Sowohl die CNT als auch die FORA gehen mit diesen Fragen um, wenn sie die etablierten Verhandlungsstrukturen insgesamt ablehnen und sich stattdessen für den Aufbau breiterer Versammlungen von Arbeiter:innen, um zu verhandeln, aussprechen. Ich unterstütze diese Strategie. Ebenso sprechen sie an, dass Legitimität und Institutionalisierung im Kapitalismus es erfordern, dass die Gewerkschaften für den Kapitalismus unbedrohlich werden. Wir haben keinen Grund zu glauben, dass das Kapital eine Gewerkschaft wie die IWW einfach existieren lässt, mit ihr verhandelt und sie offiziell anerkennen wird, ohne dass wir ein Übermaß an Kraft aufwenden. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass wir eine revolutionäre Organisation in Betrieben organisieren können, die den Bossen feindlich gesinnt sind, und dass diese sich dann an die Spielregeln halten, wenn es hart auf hart kommt.
SEIU[6]Vgl.: „‚In den letzten Jahrzehnten‘, so Burns, ‚war der Gewerkschaftsliberalismus die dominierende Strömung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung‘, verkörpert von Führern der Service Employees International Union (SEIU) wie Sweeney und Andy Stern sowie einem Großteil der Gewerkschaftspresse, Gewerkschaftsmitarbeitern, /worker centers /und gewerkschaftsnahen gemeinnützigen Organisationen. Sie wurde in den 1990er Jahren mit der obersten Priorität der ‚Organisierung der Unorganisierten‘ bekannt, ’selbst auf Kosten der Vertretung der derzeitigen Mitglieder‘. Er ‚konzentriert sich jetzt oft auf die Anhebung von Standards durch Regierungsmaßnahmen‘. Der Gewerkschaftsliberalismus ist Gewerkschaftsbewegung in der Rhetorik und im Gewand linker Politik, aber ohne jede Substanz.“ (https://organizing.work/2021/11/class-struggle-unionism-a-specter-to-haunt-the-billionaire-class/) ist vielleicht das Zuckerbrot, das sie einsetzen würden, und die Illegalisierung wäre die Peitsche.
Im Moment haben sich die Leute kleine Ziele ausgesucht, und normalerweise bewegen sie sich in Kampagnen in Richtung social uninonism, um ihre Mitgliederzahlen hochzuschrauben. Aber es ist nicht schwer, sich das tatsächliche Ergebnis vorzustellen, wenn wir uns in einem ernsthaften Kampf befinden. Ich glaube nicht, dass wir überleben würden, wenn wir versuchten, in den wirklichen sozialen Krieg einzutreten, der entsteht, wenn wir zum jetzigen Zeitpunkt mit dem Chef um die volle Macht ringen würden.
Das ist der Hauptwiderspruch: Wir wollen Legitimität, aber um eine funktionierende Gewerkschaft zu sein, brauchen wir einen entsprechenden Kontext. Wir können das aus diesem resultierende Bewusstsein nicht aus dem Nichts erfinden. Es wird auch nicht allein dadurch entstehen, dass wir die Leute um ihre unmittelbaren Bedürfnisse herum agitieren, weil die Reformist:innen uns in diesem Spiel jederzeit schlagen können. Die revolutionäre Arbeiter:innenbewegung ist etwas mehr als bloß das, und sie wird nicht zur jeder Zeit entstehen können. In unserer Zeit müssen wir Militante ausbilden und uns auf Zeiten vorbereiten, wenn Arbeiter:innenmacht realistisch und in greifbarer Nähe ist.
Antwort auf Scott Napalos Antwort von Klas Batalo[7]https://libcom.org/article/direct-unionism Siehe Kommentarspalte.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich S. Napalos‘ Gefühle bezüglich einer Strategie der Anerkennung als Gewerkschaft hier teile. Ich wollte nur anmerken, dass die Argumente von John O’Reilly denen von Sean Gallagher ziemlich ähnlich sind. Sean Gallagher vertritt im Grunde die Ansicht, dass wir Verträge brauchen, weil sie unmittelbare Gewinne sichern, die dann die Legitimität und das Vertrauen in die Gewerkschaft sichern. John liegt im Grunde dazwischen und sagt, dass Verträge keine unmittelbaren Vorteile bringen, sondern direkte Aktionen, aber die Erzwingung der Anerkennung als Gewerkschaft sollte nicht vom Tisch sein, weil sie uns Legitimität verschafft. Das Problem hier und der Grund, warum ich Napalos zustimme, ist, dass es eben militante „Gewalt“ braucht, die es in unserer Zeit noch nicht gegeben hat, um an einen Punkt zu gelangen, an dem wir Vereinbarungen zur Anerkennung als Gewerkschaft einfach auf dem Papier erzwingen können, ohne all die anderen schlechten Zugeständnisse, die in dem Direct Unionism-Papier beschrieben werden. Ich denke, dass wir stattdessen viel eher in der Lage sind, uns zu fragen, wie wir den Respekt unserer Kolleg:innen und anderer Mitglieder der Arbeiter:innenklasse gewinnen können, ohne zu versuchen, um Anerkennung als Gewerkschaft zu betteln oder sie zu erzwingen.
Titelbild: https://libcom.org/article/direct-unionism
Ein Kommentar zu «Eine Antwort auf “Direct Unionism“ von John O’Reilly»