Es gibt keine guten Nachrichten im Falschen

Wer nicht persönlich betroffen oder übermäßig sozialpolitisch interessiert ist, wird es zwischen den vielen anderen Schlagzeilen kaum mitbekommen haben. Aber das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat am 05. November 2019 ein nicht ganz unbedeutendes Urteil verkündet, wie es ganz praktisch in diesem Land um die angeblich unantastbare Menschenwürde bestellt ist.

Konkret ging es darum, ob Sanktionen im ALG-II-Bezug, allgemein bekannter als Hartz IV, mit besagter Würde vereinbar und somit rechtens sind, oder eben nicht. Was seit bald 15 Jahren tagtägliche Praxis in Jobcentern und Arbeitsagenturen war, stand also das erste Mal grundsätzlich auf dem Prüfstand. Das weitestgehend parteiübergreifende Mantra vom Fördern und Fordern und sonstigen Sprüchen, die sich um die Begriffe Zumutbarkeit, Leistungsbereitschaft und Kooperationswilligkeit drehen, werden vielen Menschen hierzulande bekannt sein. Oder in einfacher Form – O-Ton Franz Müntefering (SPD): „(…) Wer nicht arbeitet, braucht nichts zu essen.“ – Diese Parolen umschreiben eine in unserer Gesellschaft leider allzu selbstverständlich gewordene Haltung gegenüber wirtschaftlich schlechtgestellten Bevölkerungsteilen. Wer etwas haben will, muss auch was leisten und am besten noch dankbar sein. Ein Grundsatz, der für BMW-Erben und Ähnliche noch nie galt, aber gut, soviel Klassenbewusstsein ist heutzutage zu viel verlangt.

Was die sogenannten Langzeitarbeitslosen betrifft, denen ist, so sie nicht selbst willig genug sind, anscheinend nur mit Grundsicherungskürzungen oder eben zumindest der Drohkulisse von entsprechenden Sanktionen beizukommen. Die wenigsten wissen, dass diese Kürzungen bislang von 30 Prozent über 60 Prozent bis zu 100 Prozent des Grundsicherungssatzes betreffen konnten, in Extremfällen sogar die Mittel für Miete und Heizung. [1]https://www.arbeitsagentur.de/datei/merkblatt-algii_ba015397.pdf

Will heißen, Menschen, die ohnehin nach Miete mit ein bisschen mehr als 400,– Euro im Monat auskommen müssen (davon Strom, Telefon / Internet, Kleidung, Essen etc. zahlen) konnten für eine Dauer von drei Monaten ein knappes Drittel, bei weiterer Kooperationsunwilligkeit mehr als die Hälfte oder sogar alle Leistungen gestrichen bekommen. Im schlimmsten Fall verlieren von solchen Kürzungen betroffene Menschen ihre Wohnung wegen Zahlungsunfähigkeit und landen buchstäblich auf der Straße. Das kommt nicht nur menschlich einem Totalversagen unserer Gesellschaft gleich, es ist sozialpolitisch wie finanzpolitisch blanker Unsinn. Denn die Unterhaltung von Notunterkünften für wohnsitzlose Menschen und die entsprechende Infrastruktur, ist auf die einzelnen „Nutznießer*Innen“ heruntergerechnet, wesentlich kostspieliger als die Übernahme der Mietkosten. Aber so viel finanzpolitische Vernunft ist wohl ebenfalls zu viel verlangt.

Das Urteil des Verfassungsgerichts als solches muss mindestens als zweischneidig bewertet werden. Zum einen stellt es eine reale Entschärfung der Sanktionspolitik der letzten Jahre dar. Sanktionen über 30 Prozent sind nicht mehr zulässig. Eine Streichung der gesamten Grundsicherung sowieso nicht. Damit erkennt Karlsruhe an, dass Menschenwürde eben auch von etwas leben muss, egal wie sehr oder wie wenig kooperativ dessen Träger*Innen sich auch geben.

Auch umfasst der zeitliche Umfang einer Kürzung nicht mehr zwingend drei Monate, sondern kann im Ermessen der Jobcentermitarbeiter*Innen auch auf 1-2 Monate reduziert werden, wenn das Verhalten der Betroffenen nicht mehr dem Kürzungsgrund entspricht, sie also doch eine Bewerbung schreiben, einen unliebsamen Job annehmen etc. Zweifelsohne eine Verbesserung.

Doch unterm Strich bleibt die Drohkulisse – am Ende hängt die sozialökonomische Existenz in unserer Gesellschaft an der eigenen Bereitschaft, sich auf Jobs zu bewerben, die es nicht gibt, oder die man nicht machen kann oder möchte. Oder eben an der Befähigung stattdessen Maßnahmen zu ertragen, die einen mit sinnlosen Beschäftigungsprogrammen die wertvolle Lebenszeit rauben. Führt man sich zudem vor Augen, wie wenig die bestehenden Hartz-IV-Regelsätze dazu taugen, gleichberechtigt am öffentlichen Leben teilzunehmen, weil fast jede Aktivität in unserer durchkapitalisierten Gesellschaft an Konsumausgaben gekoppelt ist – so bleibt die Drohung einer Kürzung um 30 Prozent, einer Bedrohung der Existenz als solcher gleich. Ja natürlich, niemand muss in Deutschland verhungern. Aber wer glaubt, dass zum Leben allein Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf gehören, der macht sich ein recht krudes Bild vom menschlichen Leben in unserer Gesellschaft.

Zieht man Bilanz, überwiegen also die Mankos. Ja, das vorliegende Gerichtsurteil bietet betroffenen Menschen eine gewisse Entlastung – und ist in dieser Hinsicht als Schritt in die richtige Richtung zu begrüßen. Doch die Praxis der Sanktionen, ihre Atmosphäre der ständigen Bedrohung und der Mechanismus des Zwangs bleiben bestehen. Außerdem verfestigt das Bundesverfassungsgericht mit dem aktuellen Urteil eine jahrelange Praxis, die es 2010 selbst noch in Frage stellte: Darf das Existenzminimum überhaupt unterschritten werden? Die Antwort lautet nun höchstrichterlich: Ja, es darf!

Das kommt sozialrechtlich einem Dammbruch gleich. Auf der anderen Seite steht zum Glück nun auch ein Aber! Es darf unterschritten werden, aber nur in Grenzen, und viel wichtiger: Es muss nicht unbedingt unterschritten werden. Es liegt den Hartz-IV-Sanktionen keine grundgesetzliche Notwendigkeit inne, sondern ein Spielraum des Gesetzgebers. Allein deswegen gilt nicht zu verkennen, nach dem Urteil wie vor dem Urteil bleibt die Frage zu Hartz-IV vor allem eine politische. Arbeitslose Menschen als auch mit ihnen solidarische Gruppen, ja die ganze Gesellschaft, sie stehen weiterhin vor der Frage: Wie viel ist uns die Würde eines Menschen wert? Oder um sich ehrlicher zu machen: Wollen wir gesamtgesellschaftlich lieber für eine auskömmliche Grundsicherung zahlen, oder für eine Zwangsbürokratie und die ihr anhängige Maßnahmenbranche, um über diesem Umweg die Lohnkosten zu drücken?

Denn dieser Punkt geht in den alle Jahre wiederkehrenden Hartz-IV-Debatten gerne allzu schnell unter. Am Ende werden mit dem Hartz-IV-System nicht mehr Menschen in existenzsichernde Arbeit gebracht. Zumal es selbst bei besten konjunkturellen Bedingungen gar nicht genug Stellen für alle Langzeitarbeitslosen gibt. Sondern wir drängen jene Menschen die Arbeit haben, oder noch finden, in eine geschwächte Auswahl- und Verhandlungsposition.

Scheißarbeit für wenig Geld und unter schlechten Bedingungen? Geht trotzdem, weil man im Hartz-IV-System inklusive Entmündigung und Demütigung, um sein Existenzminimum gebracht werden kann. Wer also die Sanktionspolitik befürwortet – der schützt sich nicht allzu sehr vor sogenannten „Sozialschmarotzern“. Er schaufelt vielmehr die Grube genannt „sozialer Abstieg“, die sich drohend vor uns allen auftut, und gibt den Profiteur*innen auch noch die Pistole in die Hand, einen im Zweifelsfall dort hineinzudrängen.

Dass sich dieser Wahnsinn zumindest für die deutsche Wirtschaft rechnet, lässt sich an den Zahlen der erwerbstätigen Leistungsempfänger*Innen, der sogenannten Aufstocker*Innen, ablesen. Etwa eine Millionen Menschen arbeiten in Deutschland und erhalten dennoch Hartz-IV-Leistungen, weil der Lohn allein nicht zum Leben ausreicht. Die meisten von ihnen in Minijobs und Teilzeitbeschäftigungen, aber auch mehr als 100.000 Menschen in Vollzeit! Die Hartz-IV-Leistungen, die diese Jobs überhaupt erst ermöglichen, belaufen sich jährlich auf etwa 10 Milliarden Euro(!). [2]Sahra Wagenknecht in der Bürgerpressekonferenz von 2017; ab Minute 9 oder bei der Bundesagentur für Arbeit Mittel welche die Wirtschaft nicht als Lohn auszahlen muss, von den entsprechenden Sozialabgaben ganz zu schweigen. Eine verdeckte Subvention der deutschen Wirtschaft, über die bislang noch auffallend wenig Marktbefürworter*Innen traurig oder empört gewesen sind.

Die Schlussfolgerung scheint klar. Die sogenannten Hartz-IV-Gesetze müssen revidiert werden. Die Sanktionspolitik ein Ende haben. Angst, Zwang und Entmündigung sind nicht die Zutaten, aus denen eine zukunftsfähige Arbeits- und Sozialpolitik gemacht wird. Das Märchen der Vollbeschäftigung muss gerade in Zeiten voranschreitender Digitalisierung und Automatisierung dort landen, wo es hingehört, geschreddert auf den Müllhaufen ausgedienter Narrative. Eine vollumfängliche, nicht kürzbare Grundsicherung muss her. Das Recht auf ein auskömmliches Leben sollte uns mehr wert sein als die schräge Angst einer Neiddebatte nach unten.

Und wenn wir schon Milliardenbeträge dafür ausgeben wollen, arbeitslose Menschen in Arbeit zu bringen, dann doch mit attraktiven, bedürfnisorientierten und selbstbestimmten Hilfsangeboten. In der aktuellen Demokratiekrisen-Debatte ein vielleicht nicht zu unterschätzender Faktor. Woher sollen eigentlich all die mündigen, engagierten Bürger*Innen kommen, wenn eine Vielzahl unserer gesellschaftlichen Institutionen genau auf das Gegenteil ausgerichtet bleiben?

Bis all diese Ziele erreicht sind, wird es sicher noch ein langer Weg sein. In der Zwischenzeit können wir uns nur wünschen, dass so viele Betroffene als möglich wehrhaft bleiben. Dass sie gegen Sanktionsbescheide Widerspruch einlegen, zur Not auch klagen. Dass sie sich organisieren – in Arbeitsloseninitiativen, Gewerkschaften, unabhängigen Aktionsgruppen, oder auch kreativen Zusammenschlüssen wie den Glücklichen Arbeitslosen. Vielleicht klappt es dann auch irgendwann wieder mit der Menschenwürde.

 

PS: Und für alle Befürworter*Innen des sogenannten Förderns und Forderns noch eine kleine Denksportaufgabe mit auf den Weg: Wie hoch müssen Kürzungen wohl ausfallen, um 2,2 – 3,1 Millionen Arbeitslose in knapp 1 Millionen freie Stellen zu pressen[3]Laut der Bundesagentur für Arbeit (siehe offizielle Arbeitslosenstatistik! Der Bundesagentur für Arbeit)? – Ja, genau.

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