Syndikalismus für das 21. Jahrhundert II

Lieber Torsten, lieber Gabriel, euer Text „Syndikalismus für das 21. Jahrhundert“ ist nun fünf Jahre alt und auch dieses Jahrhundert selbst fünf Jahre älter. Welche Diskussionen haben sich nach seiner Veröffentlichung entsponnen? Und wie schaut ihr heute auf diesen programmatischen Text zurück?

Torsten: Die US-amerikanische Veröffentlichung hat tatsächlich eine sehr direkte Diskussion zur Folge gehabt. Marianne Garneau, deren Texte und Arbeit ich sehr schätze, hat den Text scharf kritisiert. Mein Eindruck war, dass das vor allem an der „kulturellen“ Übersetzung liegt: Die Ideen sind schon sehr auf das deutsche – inwieweit das für Schweden zutrifft, muss Gabriel sagen – Gewerkschaftssystem und -verständnis gemünzt. In dem Betriebsgewerkschaftssystem der USA mit den Anerkennungswahlen in einzelnen Betrieben ist die Situation ganz anders. Das gilt ähnlich sogar schon für innerdeutsche Verhältnisse: Ich hatte den Eindruck, die Thesen, die ja auf der längeren Publikation „Syndikalismus und neue Klassenpolitik“ basieren, sind auch in Deutschland auf verschiedene Realitäten gestoßen – genau gesagt, auf verschiedene Gewerkschaftstraditionen in Ost- und Westdeutschland.

Logischerweise gab es auch verschiedene Positionierungen je nachdem, ob man eine syndikalistische Gewerkschaft eher als anarchistische Gesinnungsgemeinschaft oder als radikale Organisierung für die Interessen der Arbeitenden betrachtet. In der Zeitschrift Tsveyfl wurde der Ansatz als „revisionistisch“ benannt. Damit habe ich kein Problem, ich finde eine Re-Vision von alten Ideen immer wichtig. Ich bin mir nicht mal sicher, ob man den Begriff auf den Syndikalismus wirklich anwenden kann. Anders als ein Marxismus, ein Leninismus oder ein Maoismus beruft er sich ja nicht auf als „wahr“ oder „richtig“ geltende Texte, sondern die Theoretiker*innen des Syndikalismus haben schriftlich das zusammengefasst, was gerade in der Bewegung passiert ist.

In einem allgemeineren Kontext würde ich noch sagen, dass ich persönlich die Debatte um eine „neue Klassenpolitik“ völlig überschätzt habe. Ich habe zu der Zeit ein neues, breites Interesse an Klassenfragen wahrgenommen. Ich habe damals geschätzt, dass man mit einigen organisatorischen und inhaltlichen Kompromissen recht schnell zu einer Organisierung mit mehreren 10.000 Menschen kommen könnte. Aber einerseits gab es zwar dieses neue Interesse, im Nachhinein war das allerdings ziemlich abstrakt und theoretisch, und dieses Interesse war deutlich geringer als von mir vermutet. Außerdem ist es in verschiedene Richtungen abgedriftet: erstens folgte eine neue Diskussion um den Begriff des „Klassismus“, da spielten gewerkschaftliche oder Arbeitskampf-Aspekte kaum noch eine Rolle. Zweitens sind viele jüngere Leute, die sich für diese Fragen interessieren, in einen autoritären Neoleninismus abgedriftet.

Das ist ein globaler Trend: Nach den großen Revolten der 2010er Jahre, die eher spontan waren, wurde die Organisationsfrage wieder gestellt. Und offensichtlich können sich global sehr viele Menschen „Organisierung“ nur in einem autoritär-leninistischen Vokabular erklären. Dahinter stecken natürlich auch die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre: Corona, Ukraine, Naher Osten und die Wahlerfolge extrem rechter Parteien. Auch die Klimafrage. Das sind alles Aspekte, die vordergründig schnelle Lösungen brauchen und da fällt der radikaldemokratische Aspekt schnell unter den Tisch. Das ist ja eine Entwicklung, die sogar einige Anarchist:innen und Syndikalist:innen mitgemacht haben.

Von daher würde ich fünf Jahre nach Veröffentlichung sagen: Die Gegenwartsanalyse von 2018/19 stimmt jetzt schon nicht mehr und die aktuellen Umstände erfordern noch mal ein ganz neues Nachdenken über Organisierungsansätze. Insofern ist es wichtig, dass der Faden ja durchaus aufgenommen worden ist. Es gab entsprechende Organisationsdebatten innerhalb der FAU, es gab und gibt verschiedene Stadtteil-Organisationen, die sich weiter mit ähnlichen Konzeptionen beschäftigt haben. Hervorheben möchte ich die Organisationsdebatte, die auf dem Blog communaut geführt wird. Wobei es mich sehr irritiert hat, dass in einem Projekt, das eigentlich sehr stark in rätekommunistischer Tradition steht, der Aufschlag zur Debatte wiederum ein Text war, der letztlich eine altbackene Partei kautskianisch-leninistischen Zuschnitts vorschlägt.

Gabriel: Ich denke, der Text sollte aufrütteln. Die Gewerkschaftsbewegung, auch die radikale, befindet sich in einer Krise. Daran hat sich nichts geändert. Natürlich lässt sich das zum Teil durch die Umstände erklären – neoliberale Offensive, Repression –, aber wir müssen auch auf uns selbst schauen. Was machen wir als Bewegung falsch? Warum werden unsere Organisationen nicht stärker? Es mag eine persönliche Neigung sein, aber ich finde Selbstreflexion immer interessanter als anderen die Schuld zuzuschieben.

Wenn unser Text kritische Reaktionen hervorruft, ist das nur gut. Wir können ja nicht beanspruchen, die Lösung für die Krise parat zu haben. Lösungen können wir uns nur in kollektiven Debatten nähern. Wenn unser Text dafür Anstoß geben kann, hat er seinen Zweck erfüllt.

Ich werde den Eindruck nicht los, dass ihr unter „militanten Arbeiter:innenorganisationen“, wie ihr sie fordert, jeweils etwas unterschiedliche Formen versteht und unterschiedliche strategische Akzentsetzungen im Bezug auf einen „Syndikalismus des 21. Jahrhunderts“ macht.

Torsten: Ich glaube tatsächlich, dass uns nicht exakt dasselbe vorschwebt. Gabriel, du hattest in deinem Beitrag in der ak für Doppelmitgliedschaften plädiert und dich dabei auf einen vorherigen Beitrag von mir berufen. Ich meinte hier tatsächlich im Gegenteil: Wenn ich eine Doppelmitgliedschaft brauche, dann stimmt offenbar mit den Gewerkschaften etwas nicht. Es erscheint mir, gerade aus syndikalistischer Warte, etwas widersinnig, Mitglied in zwei Gewerkschaften zu sein. Und da geht es erst los: Wenn die meisten Menschen (in Deutschland zumindest) unter Gewerkschaft das verstehen, was die Gewerkschaften im DGB machen, bekommen wir das so schnell nicht geändert; und zwar in zwei Richtungen: Wer das sozialpartnerschaftliche System ablehnt, wird auch nicht Mitglied einer anderen Gewerkschaft, und wer den DGB für das Maß aller gewerkschaftlichen Dinge hält, ebensowenig. Wenn wir einen Modus finden, das einerseits zu akzeptieren, andererseits aber unser Ding zu machen – und zwar radikal: mit Direkten Aktionen, Selbstorganisierung, weitergehenden Zielen – können wir das auch ohne die Konkurrenzsituation machen.

Gabriel: Ich würde hier zwei Sachen auseinanderdividieren. Zunächst zum Verhältnis zu den großen Gewerkschaften: Ich plädiere nicht für Doppelmitgliedschaft (schon alleine deshalb nicht, weil man von Leuten nicht erwarten kann, monatlich zwei Mitgliedsbeiträge zu zahlen), aber ich habe auch nichts gegen eine solche, wenn Menschen sie als hilfreich ansehen. Alles bietet Möglichkeiten, es kommt drauf an, was man daraus macht.

Das andere ist das mit den „militanten Organisationen“ von Arbeiter:innen. Ich bin mir ja nicht so sicher, ob das Gewerkschaftsmodell überhaupt noch revolutionäre Perspektive hat. Mir geht’s also auch darum zu fragen, ob andere Organisationsformen der Klasse möglich und vielleicht auch erfolgversprechender sind.

„Die meisten Syndikalist:innen wissen, dass sie ohne die Unterstützung der etablierten Gewerkschaften in der Regel nicht sehr weit kommen. Denn diese macht Kampagnen und Arbeitskämpfe effektiver.“ Das ist ein sehr überraschender Schluss, der meinen Erfahrungen widerspricht. Die DGB-Gewerkschaften treten ganz gegenteilig nicht selten als Gegnerinnen der FAU im Betrieb auf. Wie kommt ihr darauf? Und an welchen konkreten Beispielen ließe sich diese Behauptung dennoch belegen?

Torsten: Meines Erachtens geht es da weniger um Unterstützung von Gewerkschaften als vielmehr um Unterstützung durch Gewerkschafter:innen. Mein Plädoyer in „Syndikalismus und Klassenkampf“ war keineswegs, sich explizit in den DGB-Gewerkschaften zu organisieren und mitzuarbeiten. Dafür bräuchte man auch keinen neuen Text, das ist ja ein ganz alter Hut. Mein Plädoyer geht eher dahin, sich so zu organisieren, dass DGB-Gewerkschafter:innen keine Scheu haben, mitzumachen. Und dann eben die Art der Kämpfe zu differenzieren: Wo reicht das aus, was die DGB-Gewerkschaften machen, wo muss man gemeinsam aktiv werden, wo muss eine arbeitermilitante Organisation alleine aktiv werden.

Ob und wie das funktioniert, ist regional und lokal m.E. sehr unterschiedlich. Hier kommt auch wieder ein sehr deutlicher Ost-West-Unterschied in Deutschland zur Geltung: Im Osten sitzen die Gewerkschaften des DGB nicht so fest im Sattel, da ist man in Sachen Konkurrenz einerseits kritischer, andererseits aber vielleicht auch mehr auf ungewöhnliche Bündnisse angewiesen. Es gab z.B. Zusammenarbeiten zwischen FAU und IG Metall in Sachen feministischer Streik. Und in Freiburg lädt der DGB zwar die FAU vom 1. Mai aus, aber in der letzten Streikbewegung in Soziales und Erziehung haben die Basis von FAU, ver.di und GEW u.a. kooperiert. Auf solche Basiskooperationen kommt es mir an.

Aber es gibt auch tatsächlich Situationen, in denen Syndikalist:innen ohne etablierte Gewerkschaften nicht weiterkommen. M.E. gilt das vor allem in Großkonzernen – Paradebeispiele dafür wären die Konflikte bei amazon und Tesla. Das können syndikalistische Gewerkschaften z. Zt. alleine niemals schaffen. Ganz klar gibt es dabei natürlich das Problem: Macht mal mit, aber bitte unter unserer Oberhoheit. Deswegen wäre ich auch eher skeptisch, wenn es darum geht, eine Zusammenarbeit zu institutionalisieren. Es geht, wie gesagt, eher um die Basis.

Gabriel: Der zitierte Satz war in meinen Augen ein bisschen Polemik, das gehört beim Aufrütteln dazu. Die meisten syndikalistischen Organisationen sind schlicht zu klein, um ganz alleine über Arbeitskämpfe oder Kampagnen Einfluss auf die öffentliche Debatte zu nehmen. Die SAC ist eine verhältnismäßig starke syndikalistische Gewerkschaft, und wir streiken um vieles öfter als die großen schwedischen Gewerkschaften. Aber die Streiks werden öffentlich selten wahrgenommen, weil sie isoliert und meist an kleinen, wenig bekannten Arbeitsplätzen stattfinden. Wir haben keine Chance, die Konfrontation auf ein Niveau zu heben, das gegenwärtig etwa der Streik bei Tesla in Schweden hat, und wir erreichen nicht die Aufmerksamkeit der jüngsten Streiks im Pflegebereich.

Insgesamt ist die Lage in Schweden so, wie sie Torsten auch für Deutschland beschreibt: Die SAC wird von den großen Gewerkschaften bekämpft und isoliert. Aber es gibt Verbindungen zu Aktiven an deren Basis, und diese Verbindungen lassen sich positiv nutzen. 2023 kam es beispielsweise zu wilden Streiks im öffentlichen Verkehr Stockholms. Das waren keine Mitglieder der SAC, aber wir haben den Streik in verschiedener Hinsicht unterstützt und vertreten die Angeklagten juristisch. Der Streik hat für viel Gesprächsstoff gesorgt, alleine hätten wir das nicht geschafft.

Mit der Form der syndikalistischen Massengewerkschaften wollt ihr nicht zugleich die Orientierung auf einen „libertären Sozialismus“ verwerfen. Jedoch scheint ihr mit eurer Denkfigur á la ‚nur die wirkliche Bewegung‘ auch die syndikalistische Embryothese zu verwerfen? Welche sozialistische Transformationsstrategie befürwortet ihr stattdessen? Oder übt ihr euch mit dem Verweis auf eine „Philosophie der Aktion“ bewusst in darauf bezogener Enthaltsamkeit?

Torsten: Ein wichtiger Punkt ist, dass das Ganze ja von einer Gegenwartsanalyse ausgeht. Die syndikalistische Massengewerkschaft wäre für mich immer noch eine ziemlich ideale Organisationsform, aber die Zeitdiagnose sagt mir eben, dass der Aufbau einer solchen genauso unrealistisch ist wie die Radikalisierung des DGB – historisch waren die meisten syndikalistischen Gewerkschaften radikalisierte „normale“ Gewerkschaften.

Die allererste politische Organisation, in der ich Mitglied wurde, hatte in ihrer Selbstdarstellung sinngemäß stehen, dass sie auch nicht wisse, wie die bessere Gesellschaft aussehen solle, das sei aber auch nicht schlimm, denn das müssten ja alle gemeinsam entscheiden. Das hat mich damals zum Beitritt gebracht. In dem Sinne würde ich sagen, dass das Embryonale in der Möglichkeit steckt, radikaldemokratische Praxen zu erlernen. Hätten wir tatsächlich eine syndikalistische Massengewerkschaft, wäre das in der Organisation möglich. Wenn wir die aber nicht haben, muss ich basisdemokratische Prozesse auch über die eigene Organisierung heraus erlebbar machen – und zwar nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Um Demokratie zu lernen, brauche ich auch eine gewisse Meinungsvielfalt.

In gewissem Sinne hast du damit recht: Embryotheorie ja, aber wo der Embryo gerade steckt, ist eine Suchbewegung. Und der Punkt dabei ist, dass diese kollektiv stattfinden muss. Es ist also ein Schritt zurück: nicht eine bestimmte Struktur bereits als Embryo der „neuen Gesellschaft“ fassen, sondern die kollektiven Aktionen nutzen, um gemeinsam bestimmen zu können, was dieser Embryo der neuen Gesellschaft sein könnte. Das ruft bestimmte, undogmatische Traditionen ab: Rosa Luxemburgs Verständnis von Spontaneität, das eben nicht anti-organisatorisch ist, die Idee der militanten Untersuchung als Mit-Untersuchung (also Kämpfen und dabei reflektieren), permanenter Erfahrungsaustausch, wobei ich wichtig finde zu betonen, dass es dabei um den Austausch geht.

Der momentane politische Trend geht zwar dahin, dauernd Erfahrungen zu berichten, aber die bleiben isoliert stehen und treten gerade nicht in Austausch miteinander – zum Beispiel eben jene zwischen FAU- und DGB-Aktiven. Ich finde das wesentlich. Ich habe den Eindruck, gerade wenn man sich Organisationsgeschichte anschaut, dass die immer so erzählt wird, als wäre z.B. die anarchosyndikalistische Geschichte eine, in der nur Anarchosyndikalist:innen vorkommen, die parteikommunistische war auch eine „reine“ Geschichte von überzeugten Kommunist:innen, die sozialdemokratische ebenso usw. Tatsächlich kannten sich die Menschen, haben nebeneinander gewohnt, in denselben Betrieben gearbeitet, waren in denselben Kulturorganisationen. Kurz: es gibt, gerade was -Ismen betrifft, keine „reine“ Geschichte, die Menschen haben sich produktiv ausgetauscht. Das ist meine erste und wichtigste Anforderung an Organisierung.

Gabriel: Wenn die syndikalistischen Organisationen, die ich kenne – die SAC eingeschlossen – die Embryos der befreiten Gesellschaft seien sollen, dann gute Nacht. Aber ja, sie sind Experimentierfelder, wo wir versuchen können, ein paar Sachen anders und besser zu machen. Da gibt es viele, die syndikalistischen Organisationen sind nicht die einzigen. Es ist ein gemeinsames Suchen, und Austausch ist wesentlich, da stimme ich zu.

Ihr macht „die syndikalistische Idee“ stark, „die Selbstorganisation und Solidarität der Arbeiter:innen zu stärken, um Kapital und Staat zu bekämpfen.“ Der Syndikalismus müsse sich heute in anderen Formen ausdrücken. Aber „der Versuch, diese Formen vorzuschreiben, wäre reine Zeitverschwendung. Sie können sich nur aus der Selbstorganisation der Arbeiter:innen entwickeln. Der Syndikalismus ist das, was die Arbeiter:innen tun.“ Wenn dem so wäre, warum dann noch allgemeine Organisationsvorschläge wie eure worker centers machen? Und polemisch gefragt: wären dann nicht auch rechte Gewerkschaften als ‚syndikalistisch‘ zu verorten?

Torsten: Den Satz „Syndikalismus ist das, was die Arbeiter.innen tun“ müsste man natürlich konkretisieren mit „wenn sie gemeinsam gegen Staat und Kapital kämpfen“. Und letztlich ist das auch keine Zustandsbeschreibung, sondern eher das Plädoyer dafür, hinzuschauen und das, was man sieht, in die Organisierung aufzunehmen. Was das eigentlich heißen soll, ist: ob die sich organisierenden Arbeiter*innen sich nun für oder gegen Tarifverträge, für oder gegen Betriebsräte, für eine Organisierung nach Branchen, Betrieben oder Wohnsitzen entscheiden, ist sekundär.

Es ist sekundär, ob sie die Ideen bei Rudolf Rocker gelesen haben oder nicht. Und das heißt auch nicht, dass die bisherigen Formen völlig unsinnig wären, aber wir brauchen eine Offenheit für die Frage, was wir davon brauchen können und was nicht. Haben wir gerade die Bedingungen für diese Organisationsform oder brauchen diese Bedingungen andere Organisationsformen? Gibt es aktuelle Kämpfe, an denen wir organisatorisch anknüpfen können und zwar so, dass wir die Kämpfe damit nicht abwürgen? Es gibt zahlreiche Aspekte, unter denen die schon bestehende syndikalistische Organisationsform ganz explizit attraktiver ist als die in den etablierten Gewerkschaften: alles was als „prekär“ beschrieben wird, was stark mit Migration verbunden ist, was zeitlich sehr flexibel ist – zu dem Schluss kommen ja auch wissenschaftliche Studien immer wieder und manchmal wird das auch in den Gewerkschaften des DGB anerkannt.

Der Fall „Gorillas“ ist dafür nach wie vor exemplarisch. Alle, die das untersucht haben, sagen ja letztlich: das ist eine eher syndikalistische Aktionsform, die etablierten Gewerkschaften haben keine passenden Antworten. Aber die Gorillas Riders haben ja nicht gesagt: ‚Hey, wir organisieren uns mal syndikalistisch‘, sondern sie haben gesagt: ‚Wir organisieren uns so, wie es für uns gut ist.‘ Und das machen rechte Gewerkschaften nun mal nicht, darum sind sie auch nicht syndikalistisch.
Ich würde das aus verschiedenen Gründen heute nicht mehr „worker center“ nennen, aber was daran attraktiv bleibt, ist, in erster Linie einen Raum (in echt und im übertragenen Sinne) zur Verfügung zu stellen, in dem diese kollektiven Prozesse möglich sind.

Gabriel: „Allgemeine Organisationsvorschläge“ macht ja niemand. Den Syndikalismus darüber zu definieren, dass die Initiative des Kampfes vom Kollektiv der Arbeiter:innen ausgeht, heißt ja nicht, dass wir keine besseren oder schlechteren Organisationsformen diskutieren können. Ich finde worker center nach wie vor gut, aber natürlich kommt es auf die spezifischen Umstände an. Was zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten funktioniert, muss nicht zu anderen Zeiten und an anderen Orten funktionieren.

Das Argument, dass es dem „reinen Syndikalismus“ nicht möglich sei, rechten Tendenzen in der Klasse vorzubeugen, finde ich nicht so spannend. Syndikalismus heißt ja auch libertärer Sozialismus, heißt Internationalismus. Da gibt es Werte und Prinzipien, die sich mit rechten Tendenzen nicht vereinbaren lassen, und das ist unausgesprochen immer mit dabei. Manchmal darf man auch sprachliche Abkürzungen nehmen, immer alles bis ins letzte Detail zu erklären, hält auf Dauer niemand aus.

Gibt es zudem in der BRD (oder in Schweden) Beispiele erfolgreicher worker centers? An ähnlichen strategischen Analysen und Aufrufen dazu hat es ja seit 2015 hier nicht gemangelt. Wo ist der Anspruch, dass diese „kollektive Räume für eine Arbeiter:innenkultur“ sein sollen, „die während der neoliberalen Umstrukturierung weitgehend verschwunden sind“, eingelöst worden?

Torsten: Ich sagte ja gerade, dass ich das heute nicht mehr so nennen würde. Zum einen, weil die zahlreichen real existierenden worker center international einfach nur gewerkschaftliche Vorfeld-Organisierungen sind. Zum anderen, weil die realen Versuche, das in Deutschland zu machen, häufig darauf hinausliefen, Sozial- und Rechtsberatung machen zu müssen und zwar dermaßen, dass es die Aktivist:innen schnell ausgebrannt hat. Das gilt nicht erst seit 2015, solche Versuche gab es auch schon früher. Aber wenn es nicht konkret worker center heißt, gibt es m.E. schon einige Beispiele, die ich als positive Versuche genau in diese Richtung verstehe: das sind die Solidarisch-Gruppen, die Organisierungen, die revolutionäre Stadtteilarbeit leisten, übergewerkschaftliche Arbeitskreise, die sich mit Arbeitskämpfen beschäftigen, oftmals ja auch mit Beteiligung der FAU.

Es gibt durchaus auch noch andere Einzelbeispiele, die in eine ähnliche Richtung gehen. Und letztlich würde ich auch sagen, dass das durchaus eine traditionelle Organisationsform des Syndikalismus ist – wir könnten das auch Arbeiterbörsen nennen. Andererseits schreibt sich das mittlerweile jede neue linke Organisierung oder jeder neue linke Raum das auf die Fahnen: Kurz nach Veröffentlichung von „Syndikalismus und neue Klassenpolitik“ hat in meiner Stadt ein neues linkes Zentrum eröffnet – die haben dann sehr überzeugt behauptet, sie würden doch genau das umsetzen. Die Praxis war dann so was wie „Brunchen und dabei Lenin lesen und diskutieren“. Das ist aber nicht Organisierung, das ist Infotainment mit ideologischer Indoktrination. Aber ich stelle auch fest: Tatsächlich sind linke Räume offener geworden. Auch vor 30 Jahren trug jedes neue linke Zentrum den Anspruch vor sich her, kollektive Kultur für alle zu machen, für die Nachbarschaft offen zu sein usw. – und wenn du da nicht die Szenecodes erfüllt hast, wurdest du trotzdem wenigstens angeschaut, als kämst du von einem anderen Stern. Das ist ganz klar besser geworden, aber auch, weil die linken Sozialisationen heute nicht mehr so eindeutig bestimmt sind.

Das mit der Einlösung von kollektiven Räumen für eine Arbeiter:innenkultur ist noch mal eine andere Sache. Im Text steht ja nur, dass der Neoliberalismus diese Räume zerstört hat. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, tatsächlich hat er ja die ganze Kultur zerstört. Deswegen habe ich den Eindruck, man steht nicht selten da und hat diese Räume eröffnet und fragt dann, was man in ihnen machen soll. Und dann zeigt man halt doch wieder Filme über die Spanische Revolution ;- )
Der Kern dieser zerstörten Kultur, das ist eigentlich auch ein alter Hut, ist das Gemeinschaftliche. Das merkt man an Kleinigkeiten: sich Sachen teilen, gemeinsam kochen. Was letztlich von dem Vorschlag worker center bleibt, ist m.E. Strukturen zu entwickeln, die deutlich machen, dass wir es einerseits mit kollektiven Problemen zu tun haben und dass die andererseits kollektiv einfacher und auch mit mehr Spaß zu lösen sind.

Wo das im ganz Kleinen gemacht wird, stelle ich immer wieder fest, dass die Leute das gut finden aber die Reaktion auch immer ist, dass man gar nicht auf diese Idee gekommen wäre. Letztlich können das Erwerbslosen-Cafés, Stadtteilzentren, worker center, Polykliniken oder sonst was sein. Das haben autoritäre Kommunist:innen auch schon in den 1970er Jahren gemacht, für die waren das dann aber unpolitische Vorfeld-Organisierungen, an deren Ende man dann auch in Partei XY eintreten sollte. Damit hat man dann die Spaltung in „privat“ und „politisch“ noch mal wiederholt. Dass die Selbstorganisierung im sozialen Alltag aber schon das politische Ziel ist, muss ich hier, glaube ich, nicht sagen.

Gabriel: Torsten hat viel Wichtiges gesagt, ich halte mich an die Frage nach den konkreten Beispielen. Husby Arbetarcentrum! Tolles Projekt im Norden Stockholms, in einem der migrantischen Vororte, die die Rechten gerne als „No-Go-Zonen“ bezeichnen. 2014 war Husby international in den Schlagzeilen, als sich Jugendkrawalle von dort auf das ganze Land ausdehnten. Im Husby Arbetarcentrum gibt es Rechtsberatung, Bildungsprogramme, eine Tafel, einen Kampfsportverein. Die zwei bedeutendsten Betriebsgruppen der SAC der letzten Jahre haben dort ihren Ursprung.

Das bestätigt auch die These vom Potenzial der Zusammenarbeit über organisatorische Grenzen hinaus: Nicht alle Mitglieder des Arbeiterzentrums schließen sich der SAC an, das hängt von ihrem Arbeitsplatz und ihren konkreten Anliegen ab. Manche treffen die Entscheidung, dass sie ohne gewerkschaftliche Bindung effektiver handeln können. Sie müssen sich nicht an die rechtlichen Spielregeln halten, denen Gewerkschaften unterliegen, sie sind unabhängiger, und sie zahlen keine relativ hohen Mitgliedsbeiträge. In anderen Fällen – vor allem, wenn es um die Organisierung mehrerer Mitglieder am selben Arbeitsplatz geht oder ein Streik im Raum steht – ist die gewerkschaftliche Mitgliedschaft durchaus attraktiv.

Es gibt in der SAC unterschiedliche Meinungen, aber ich gehöre ganz klar zu der Fraktion, die die Bedeutung unserer Zusammenarbeit mit Initiativen wie Husby Arbetarcentrum nicht davon abhängig macht, wie viele Leuten von dort bei uns Mitglied werden. Es geht um die Klasse, die SAC ist im Vergleich dazu ziemlich uninteressant.[1]Für eine öffentlich ausgetragene Strategiedebatte zwischen Gabriel Kuhn und Rasmus Hästbacka (SAC), siehe als Einstieg: https://syndicalist.us/2021/08/21/keeping-up-with-the-times-more-on-syndicalist-strategy/

„Auch wenn sich die Linke wieder auf die Klasse konzentriert, betrachten viele Linke die Arbeiter:innenklasse immer noch als etwas ihnen Äußerliches.“ Eine militante Arbeiter:innenorganisation, wie ihr sie entwerft, würde in meinen Augen solche schlechten Effekte aktivistischer Äußerlichkeit noch zusätzlich verstärken, indem sie eben vor allem ‚klassenkämpferische‘ Aktivist:innen für mehr oder weniger politische Kampagnen versammelt.

Torsten: Ja, da ist was dran. Aber das gilt ganz allgemein: Wenn du zu Leuten hingehst und sie mobilisieren oder organisieren willst, musst du ganz klar sagen: Dein Problem ist auch mein Problem und ich bin überzeugt, dass wir das zusammen einfacher lösen können. In einem worker center musst du deine eigenen spezifischen Probleme anpacken. Kampagnenförmig darf das m.E. möglichst nicht sein, sondern du musst permanent gemeinsame Probleme am Schopf packen.

Gabriel: Ich finde, die Kritik ist zu abstrakt bzw. sie setzt das voraus, was es zu überwinden gilt: den Fokus auf „politisch gebildete Aktivist:innen“, die von außen kommen. Es gibt in der Klasse Militanz, Wissen und Organisierung, das sieht nur manchmal nicht so aus, wie man sich das in der linken Blase vorstellt. Gewerkschaftliches Engagement – bzw. jedes Engagement im Spannungsfeld von Produktion, Dienstleistung und Lohnarbeit – hat zur Aufgabe, Bedingungen zu schaffen, in denen sich revolutionäres Potenzial ausdrücken, entwickeln und multiplizieren kann. Da können durchaus auch Leute „von außen“ mitarbeiten, aber der zentrale Akteur ist die Klasse. So sieht Klassenkampf aus.

Zwar behauptet ihr, Gewerkschaften würden den meisten Lohnabhängigen nichts mehr sagen und bringen – aber ein worker’s center und eine wie auch immer geartete „Arbeiter:innenkultur“ würde doch gerade den prekären Arbeiter:innen noch viel weniger sagen und materiell noch weniger bringen als selbst die Dienstleistungsangebote der erfolgreicheren FAU-Gewerkschaften?

Gabriel: Sehe ich nicht so, weil eine Arbeiterkultur nur von Arbeiter:innen geschaffen werden kann, und da gehören auch prekäre Arbeiter:innen dazu. (Wie das nun mit den worker centers ist, kommt darauf an. Aber wir sollten uns an der Frage nicht aufhängen.)

Torsten: Ich glaube, der Punkt ist folgender: Wenn du sagst, „Wir sind eine Gewerkschaft“, dann denken die einen: Alles klar, ein Dienstleistungsbüro, das mir bei Arbeitsfragen hilft; die nächsten: Noch so ein Verein, der meine Probleme gar nicht wirklich kapiert; und die dritten vielleicht: Sozialpartnerschaft haben wir schon genug. Oder: Ach, alles Sozialdemokraten!

Zugegeben: Vielleicht fühlen sich viele auch schon nicht angesprochen, wenn man den Begriff „Arbeiter:in“ benutzt. Call Center-Kolleg:innen oder Supermarkt-Kassierer:innen benutzen den Begriff für sich vielleicht gar nicht, sondern definieren sich als „Angestellte“. Ich finde, es kommt stark auf die Art der Ansprache an. Was fast alle m.E. falsch machen, ist eine Ansprache, die sagt: Ihr da unten seid ohnmächtig und arm dran, dagegen müssen wir gemeinsam etwas tun. Da ist nichts, worauf die Leute sich positiv beziehen können.

In dem Sinne finde ich den Begriff der „Prekären“ eigentlich problematisch. Wenn ich „Arbeiter:innenkultur“ sage, meine ich ja nicht im engeren Sinne Liedgut, Medien etc., sondern eine Kultur von Gemeinschaft. Wie die genau aussieht, muss sich erst entwickeln. Ob in so einer Kultur beispielsweise lieber Techno oder Helene Fischer oder Punk gehört wird; oder ob lieber Jogginghosen oder Jeans getragen werden; oder eine schwarz-rote Fahne oder eine Regenbogenfahne oder lieber gar keine Fahne geschwungen wird, ist völlig egal. Wichtig ist die Kollektivität und die Alltagstauglichkeit.

Gabriel, du schriebst in der AK: „Im Idealfall können Gewerkschaften wie die SAC dazu genutzt werden, wenn schon nicht die großen Gewerkschaften selbst, dann doch deren Basis zu radikalisieren. So verdoppeln sie ihre Stärke: einerseits radikale Alternative zu den großen Gewerkschaften, andererseits Mittel zur Radikalisierung der Arbeiterbewegung.“ Du visierst also eine Radikalisierung der Basis der LO-Gewerkschaften via Bündnisse dieser Basis mit der SAC an. Es klingt für mich im weiteren so, als läge für dich darauf bezogen das „klassenkämpferische Potenzial gewerkschaftlicher Arbeit“ vor allem auf der Ebene der allgemeinpolitischen Intervention wie gemeinsamen Protesten?

Gabriel: Das klassenkämpferische Potenzial gewerkschaftlicher Arbeit besteht in der Selbstermächtigung der Klasse. Das läuft über Organisierung und Kampf. Wenn etwas, das ich geschrieben habe, einen anderen Eindruck erweckt, war es schlecht geschrieben. Politische Interventionen und Proteste sind Teil des Kampfes, aber nicht mehr.

Was die Radikalisierung der Basis großer Gewerkschaften mithilfe syndikalistischer Organisationen anlangt, ja, das sehe ich so. Einer der erfolgreichsten Arbeiterkämpfe in Schweden der letzten Jahre führte zur Wiederanstellung Dutzender Arbeiter:innen im Bahnverkehr im Süden des Landes. Hinter dem Kampf stand die Dienstleistungsgewerkschaft SEKO. Der Genosse, der die tragende Rolle im Streik spielte, war früher lange Mitglied in der SAC. Er sagte mir im persönlichen Gespräch, dass er den Arbeitskampf ohne seine Erfahrungen in der SAC so nie hätte durchziehen können. Wir können viel bewegen, auch wenn es nicht immer sichtbar ist oder der Erfolg anderen angerechnet wird. Aber das ist nicht so wichtig.

Was aber bedeutet dieser syndikalistische Auftrag der Radikalisierung für die gemeinsame Organisierung in betrieblichen Kämpfen? Was bedeutet das in der strategischen Konzeption und in der Praxis? Gibt es auch hierzu Erfahrungen?

Torsten: Für meinen Teil glaube ich, dass solche Bündnisse nicht zu einer Radikalisierung führen. Und ich glaube auch nicht, dass es „radikalisiert“, wenn ein:e Radikale:r in einer Runde sitzt und die entsprechenden Vorschläge macht und/oder begründet. Eine Radikalisierung braucht so was wie eine innerliche Motivation, sie muss also im Ansatz schon vorhanden sein. Wo sie das nicht ist, entsteht sie aus Erfahrungen, Wut, auch Erfolgen. Radikalisierung würde also bedeuten, die schon vorhandenen radikalen Elemente und Momente zu finden und diese durchaus auch gezielt zu fördern. Im Sinne von „Organizing“ wäre das die Suche nach den Schlüsselpersonen oder „Überzeugten“ – nur nicht im Sinne, wie es heute meistens verwendet wird, dass Meinungsführer*innen oder so eine Art Betriebs-Influenzer:innen gesucht und überzeugt werden, sondern eher im ursprünglichen Sinne, so wie es etwa William Z. Foster, der aus der IWW kam, für den US-Gewerkschaftsverband CIO formuliert hat – die Suche nach Arbeitermilitanz eben.[2]Hier kann sich der Interviewer den Hinweis auf eine grundlegende Kritik an Fosters Methoden und Strategie nicht verkneifen: https://blackrosefed.org/wetzel-rank-and-file-strategy-syndicalist/

Wir müssen uns vor Augen führen, dass viele es schon ganz schön militant oder radikal finden, überhaupt gegen die Bosse aufzumucken, sogar wenn es ganz formal in einer Tarifrunde oder ganz legalistisch mit der Gründung eines Betriebsrats ist. Und es ist m.E. kein gutes Zeichen, diese Kämpfe nicht mitzuführen, weil man sie irgendwie läppisch fände. Dann fühlen sich die Kolleg:innen völlig zu Recht nicht ernst genommen. Also konkret: Aufgabe eines:einer Militanten ist nicht, in den Betrieb zu kommen und die Kolleg:innen „aufzuhetzen“, sondern zu beobachten, ob solche Stimmungen da sind. Geht die Stimmung über übliche Tarifforderungen hinaus und sind die Leute auch dazu bereit, mehr zu riskieren, dann kann man das anpacken. Trauen sich die Leute eigentlich nicht mal, zu einem normalen Tarifkampf aus dem Betrieb rauszugehen, muss man wirken. Ich bin in dem einen Fall nicht mehr oder weniger Syndikalist oder Gewerkschafter als im anderen.

Gabriel: Du fragtest nach Erfahrungen zur gemeinsamen Organisierung in betrieblichen Kämpfen. Die gab es in Schweden, solange die SAC noch 20-30.000 Mitglieder hatte, nicht 4000 wie heute. Heute sind wir zu klein, um solche Erfahrungen zu machen. Die meisten unserer Mitglieder sind migrantische Arbeitskräfte, arbeiten Teilzeit, werden über Leihfirmen vermittelt. Starke Betriebsgruppen haben wir nur an kleinen Arbeitsplätzen, oft im Kulturbereich. Viele unserer Mitglieder sind an ihren Arbeitsplätzen die einzigen Syndikalist:innen. Früher war das anders. Wenn wir uns beispielsweise den großen wilden Streik in den Bergwerken Nordschwedens im Jahr 1969 anschauen, dann wäre der ohne eine Zusammenarbeit der Syndikalist:innen und der Militanten an der Basis der großen Gewerkschaften nicht möglich gewesen. Aus diesen Beispielen müssen wir lernen; wir müssen uns aber auch fragen, warum es seither nur selten zu solchen Beispielen gekommen ist. Die Frage nach der strategischen Konzeption lässt sich nur daraus beantworten.

Bitte verhaltet euch diesbezüglich zur Frage der Doppelmitgliedschaften, die auch in eurem Text aufgebracht wird.

Torsten: Ich war immer Doppelmitglied, fand das aber immer inkonsequent. Das ist so, als wenn ich als religiöser Mensch sicherheitshalber in die Kirche, die Synagoge und die Moschee gehe, um in den Himmel zu kommen. Kann man natürlich machen, sogar als Atheist, man kann sich ja nie sicher sein. Aber es steht gerade nicht für Überzeugung und ist als Außenwirkung auch nicht so überzeugend. Jede Gewerkschaft müsste eigentlich so funktionieren, dass eine Doppelmitgliedschaft nicht nötig ist. Tut sie das nicht, ist sie eben noch nicht richtig Gewerkschaft.

Dazu kommt: In syndikalistischen Kreisen wird immer so diskutiert, als fänden wir ein vielfältiges Richtungsgewerkschaftssystem besser. Das ist aber m.E. gar nicht syndikalistisch. Ernsthaft: wir finden es doch nicht gut, dass es den CGB oder das sogenannte „Zentrum“ gibt, das wäre aber die Konsequenz. Die Grundidee des Syndikalismus ist eine gemeinsame Organisierung, um die Arbeitermacht zu bündeln und strategisch einsetzen zu können. Also eine Einheitsgewerkschaft, sie soll nur halt syndikalistisch sein.

Wenn ich mich nach meinen sozialen Interessen organisiere und nicht nach meiner politischen Gesinnung, dann möchte ich eine starke Einheitsorganisation. Das sagen die wenigsten so, weil es weitab von der Realität ist. Man kann z.B. die Existenz der GDL ja durchaus kritisieren und trotzdem ihre Streiks unterstützen. Dem widerspricht ja nicht, zu sagen: ich fände es besser, wenn wir gemeinsam organisiert wären. Wenn das aber meine eigentliche Motivation ist, dann ist auch klar, dass ich selbstverständlich tatsächlich in Konkurrenz zum DGB trete, denn der will ja auch die Einheitsorganisation sein. Und dann kommt eben der Punkt, dass mir völlig klar ist, dass ich das nicht erreichen kann. Also kann ich genauso gut eine Strategie fahren, die diese Konkurrenz aufhebt – ohne deswegen inhaltliche Kompromisse einzugehen.

Gabriel: Für mich ist die Doppelmitgliedschaft eine rein strategische Angelegenheit, ich würde sie nicht zur Glaubensfrage machen. Ob Doppelmitgliedschaft individuell Sinn macht, müssen die Einzelnen für sich entscheiden. Manchmal gibt es dafür ganz pragmatische Gründe, zum Beispiel Versicherungen, die die großen Gewerkschaften anbieten, wir aber nicht. Interessanter wird es auf kollektiver Ebene: Macht es Sinn, einige Genoss:innen in den großen Gewerkschaften zu platzieren, während andere ihre Kräfte in einer syndikalistischen Organisation bündeln? Das lässt sich aber wieder nur anhand einer Analyse der konkreten Umstände beantworten. Von einer Fetischisierung von Organisationen halte ich nichts. Organisationen sind Werkzeuge, man nimmt die, die funktionieren.

Gabriel, du schreibst weiter in der AK: „Die Gewerkschaft ist ein Mittel zum Zweck. Alle militanten Arbeiter*innen müssen für sich selbst entscheiden, in welcher Gewerkschaft sie politisch am besten arbeiten können. Patentrezepte gibt es keine. Auch Doppelmitgliedschaften sind möglich: hier die Massenorganisation, dort die Kaderschmiede.“ Ein Genosse fragte nun wiederum intern: „Verstehe ich den Text ‚Syndikalismus für das 21. Jahrhundert‘ richtig, dass er sich für einen syndikalistisch-plattformistischen Ansatz ausspricht? Also plattformistisch ausgedrückt, die FAU als ‚spezifische anarchistische Organisation‘ etablieren möchte, die dann in Arbeitsfragen in Massenorgas wie Gewerkschaften und Parteien reinwirkt?“

Gabriel: Wir haben ein paar Genoss:innen in der SAC, denen der Ausdruck „syndikalistisch-plattformistisch“ gefallen würde. Mir sind die Namen ziemlich egal, aber ich denke, der von dir zitierte Genosse fängt hier schon etwas auf, was für mich ein fruchtbarer Ansatz sein könnte. Aber es kommt halt immer drauf an. Habe ich eine syndikalistische Massenorganisation, muss mich der mögliche Einfluss auf andere Massenorganisationen weniger beschäftigen. Habe ich eine starke politische Organisation, kann auch diese die großen Gewerkschaften beeinflussen, da braucht es nicht unbedingt eine syndikalistische Organisation. Woran ich nicht glaube, ist, dass es die Gewerkschaft alleine richten wird. Mindestens muss sie „mehr als eine Gewerkschaft“ sein, also eine Organisation, die sich nicht alleine auf Arbeitsplatzkämpfe konzentriert. Idealiter gibt es starke radikale Gewerkschaften und starke politische Organisationen, die zusammenarbeiten. Das hat sich auch historisch als fruchtbringend erwiesen.

Torsten: Die Frage richtet sich zwar an Gabriel, aber ich möchte sie auch gerne beantworten. Ich finde die Idee des Plattformismus deutlich autoritär. Es ist doch ganz klar antidemokratisch, eine Kaderorganisation aufzubauen, die eine andere Organisation unterwandert und dieser ihre Interessen aufdrängt. Was hindert dann eine sozialdemokratische oder leninistische oder sogar nationalistische Plattform daran, das auch zu tun – und zwar nicht nur im DGB, sondern theoretisch auch in der FAU? Um eine unabhängige, und auch radikale Interessenorganisation zu bleiben, muss man so was dezidiert bekämpfen.

Das Motto des französischen Syndikalismus „Der Syndikalismus genügt sich selbst“, die Definition als „Partei der Arbeit“, verbot sich solche parteiischen Einmischungen – das gilt für irgendwelche expliziten Anarchismen genauso wie für andere politische Richtungen. Das bedeutet natürlich andererseits nicht, dass es nicht irgendwelche entsprechenden Fraktionen geben wird in einer Organisation, die natürlich auch versuchen kann, ihre Interessen stark zu machen. Das kann man nicht verhindern und es wäre ebenso undemokratisch, das zu versuchen. Aber es macht eine funktionierende demokratische Organisation doch gerade aus, diese Vielzahl von Fraktionen zu akzeptieren und damit einen Umgang zu finden. Ist im Grunde ganz einfach: Wenn Leute eine „Reinheit“ bewahren wollen, ist das immer verdächtig.

(November 2024)

Ausgewählte Publikationen von Gabriel Kuhn:

All Power to the Councils!: A Documentary History of the German Revolution of 1918-1919

Antifascism, Sports, Sobriety: Forging a Militant Working-Class Culture

Wobblies: Politik und Geschichte der IWW

Ausgewählte Publikationen von Torsten Bewernitz:

Nothing in common? Differänzen in der Klasse

Syndikalismus und Neue Klassenpolitik

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