Libertärer Kommunalismus – eine reale Idee für den Norden des Iraks?

Das Referendum zur kurdischen Unabhängigkeit im Norden des Irak im September führte zu militärischen Drohungen des irakischen Staates, der Türkei und des Irans. Die Reaktionen der Gegner*innen des Referendums machen den Wandel deutlich. Die Frage ist nur, was überhaupt möglich ist, wenn eine konföderale Lösung im Irak keine Option zu sein scheint. Den amtlichen Ergebnissen der Wahlkommission in Erbil zufolge stimmten über 90% der ca. 5 Millionen wahlberechtigten Menschen mit –Ja– und somit für einen unabhängigen Staat Kurdistan. Dennoch ist die Abstimmung, genau wie die von 2005 bei der auch eine überwiegende Mehrheit mit Ja stimmte, nicht bindend. Die führenden Vertreter*innen der kurdischen Autonomiebestrebungen im Irak erhoffen sich trotz dessen eine verbesserte Verhandlungsposition gegenüber dem irakischen Staat und sehen ein unabhängiges Kurdistan als Stabilisator der Region. Das war nicht immer so, hatte der Präsident der Kurdischen Autonomiegebiete, Massud Barsani, lange Zeit Ankara zuliebe auf eine Umwandlung der Autonomie in einen Nationalstaat verzichtet.
Die irakische Regierung, die Türkei, Russland, die USA, Europa und der Iran halten das Referendum für destabilisierend und sorgen deshalb selbst für diese prophezeite Wirkung. Nicht zuletzt, da das Referendum auf Initiative der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) stattfand unter Führung Barsanis, der zugleich Vorsitzender der PDK ist und zudem eine sehr umstrittene Person, die, bis zur Entscheidung für ein Referendum, gute Beziehungen zu Erdogan pflegte. Dies änderte sich nun schlagartig. An dem Referendum beteiligt waren unter anderem die Städte Kirkuk und Erbil, Zaxo, Dohuk, Suleimanija und Halabdscha. Einige vermuten in der Entscheidung zum Referendum den eigenen Machterhalt Barsanis. Der Familie Barsani werden schon seit Längerem die Fallstricke gegenüber Ankara vorgeworfen, die vor allem aus dem Ölgeschäft resultierten. Andere sehen darin dennoch Chancen auf eine Unabhängigkeit der Kurden*innen. Aber auch die anderen Minderheiten der Region wollen gehört werden. Die Situation ist schwierig.

Gerade die Turkmen*innen im Gebiet Kirkuk sehen keinen Platz für sich in einem unabhängigen Kurdistan und lehnen die nationalstaatliche Lösung der Kurd*innen daher ab.[1]Referendum im Nordirak. Und jetzt sollen wir Kurden werden? Zeit Online. Letzter Stand 04.10.17 Sie boykottierten die Wahl und die verbündete Türkei sorgte mit militärischer Unterstützung für die entsprechende Antwort nach dem Referendum, indem sie militärische Operationen androhten. Die Regierung des Iraks verließ sich vorerst auf Drohungen und die Sperrung des Luftraums und machte deutlich, dass es keine Verhandlungen geben wird. Merkwürdigerweise stärkt diese Haltung auch die Beziehungen zum sonst so verfeindeten Iran. Das Spiel der Interessen spitzt sich unentwegt zu. Am Wahltag soll es zudem auch Auseinandersetzungen zwischen in Kirkuk lebenden Kurd*innenen und Turkmen*innen gegeben haben. Die gesellschaftliche Spannungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen und die Machtkämpfe der Minderheiten untereinander entwickeln sich weiter.

Rojava als letzte Hoffnung der konföderalen Autonomie?

Die Region ist zerrüttet und dennoch schimmert ein kleines Licht am Ende des Tunnels, das des Demokratischen Konföderalismus, den der führende Vertreter der türkischen PKK, Abdullah Öcalan, aus den Ideen des libertären Kommunalismus Murray Bookchins weiterentwickelte. Dies ist in der Region nicht ungewöhnlich, wird der Blick nach Syrien und auf die autonomen Gebiete in Rojava gerichtet. Die führende Partei im Norden Syriens, die Partei der Demokratischen Union (PYD), schreibt sich gleichermaßen einen libertären Kommunalismus zu und versucht damit auf den Zug des ideologischen Wandels der verbündeten türkischen PKK aufzuspringen. Dennoch setzten sie nicht auf eine Abspaltung, sondern forderten lediglich die Autonomie in einigen Gebieten, wie Rojava und Kobani. So sollte das Konzept des Demokratischen Konföderalismus belebt werden, um die kurdischen Rechte in diesem Gebiet zu institutionalisieren. Das jedoch nicht ohne die eigenen Machtansprüche mit Gewalt durchzusetzen und Identitätskämpfe auch innerhalb der kurdischen Gemeinschaft zu provozieren.
So umstritten diese Situation ist, wird Rojava de-facto als autonom bezeichnet. Der Kommunalismus, wie ihn Bookchin verstand, will ein Regionalismus sein, der sich, in diesem Sinne, gezielt von dem Konzept der Nationalstaatlichkeit abgrenzt. Er versucht die Produktion von Gütern durch eine Politisierung der Wirtschaft zu denken und unter die Verfügungsgewalt der kommunalen Gemeinschaft zu stellen. Zudem erhebt er sowohl ökologische als auch geschlechtergerechte Ansprüche an die Gesellschaft. Diesem Ideal kommen die Bestrebungen in Rojava sehr nahe und auch die irakischen Bestrebungen der Ezid*innen in Sindschar (englisch=Sinjar;kurdisch= Sengal) könnten ein Schritt in diese Richtung sein.

Die Region Sindschar – Versuche eines Demokratischen Konföderalismus

cc by Maximilian Dörrbecker (Chumwa), derviative work by ilyacadiz

Das Nachdenken über die Struktur und die Konzeption von Gemeinschaften ist eine der Hauptaufgaben zivilgesell-schaftlicher Akteure. Wie groß eine politische Gemeinschaft sein soll, welche Verfassung sie sich gibt, wer darüber entscheidet und wie darüber entschieden wird, sowie Fragen der Produktion und Verwaltung von Gütern und Dienstleistungen sind zentrale Momente innerhalb der Konstitution von Gemeinschaften. Und auch die Fragen, wie unabhängige politische Gemeinschaften innerhalb von Nationalstaaten gebildet und von diesen anerkannt werden können, sind von zentraler Bedeutung.

Murray Bookchin forderte mit dem Konzept des libertären Kommunalismus eine dezentrale Struktur von kleinen Städten, die ihr kommunales Eigentum sowie die Produktionsmittel selbst verwalten und diese Verwaltung in Bürgerversammlungen organisieren und sich dann zu Föderationen zusammenschließen. Abdullah Öcalan hat diese Gedanken in der Schrift zum Demokratischer Konföderalismus weiter-geführt, um sie gerade für die kurdischen Bestrebungen fruchtbar zu machen. Diese Weiterführung trägt heute im Norden des Iraks in der Region Sindschar Früchte.

Die überwiegend ezidischen Bevölkerungsgruppe kann von einer langen Geschichte der Genozide erzählen und steht mehr und mehr unter Druck auf die gegebenen Verhältnisse in der Region zu reagieren. Die Vorschläge zur zukünftigen Verwaltung der Region, die über eine nationalstaatliche Sezession hinausgehen, stellen ebenfalls Ansprüche auf eine Selbstverwaltung des Gebietes und ein Mitspracherecht in den Vordergrund.

In einem Strategiepapier als Diskussionsgrundlage zur Konstituierung neuer Verwaltunsansprüche formuliert Prof. Dr. Dr. Kizilhan daher für die Gesellschaft für bedrohte Völker den Vorschlag „(…) für eine Territorialautonomie und die selbst bestimmte Entwicklung der Eziden in ihrem angestammten Gebiet Sindschar“[2]Prof. Dr. Dr. Kizilhan. Strategiepapier über die regionale Autonomie Sindschar(Sengal) – Diskussionspapier 2015. In: Gesellschaft für bedrohte Völker. Prof. Kizilhan sieht wenig Chancen für die Rechte der Minderheiten innerhalb der föderalen Strukturen des Iraks, so formuliert er: „Die angedeutete staatsrechtliche Alternative des Sindschar als einer föderalen Einheit im Rahmen der föderalen Struktur des Irak hingegen scheint wenig Sinn zu machen, angesichts der mittelfristig gefährdeten Einheit des Irak (…).“[3]Ebda.
Daher setzt auch er auf eine Konföderation der Ezid*innen mit den Kurd*innen: „Diese Autonomie oder als Minimallösung die Provinz könnte in die Hoheitsrechte der kurdischen Regionalregierung integriert werden. Nach der aktuellen Verfassung des Irak haben die Bürger das Recht, durch einen Volksentscheid eine Provinz auszurufen, und können dann die Bürger dieser Provinz einen Gouverneur wählen. Dies wäre im Fall Sindschar möglich. Allerdings müsste diese Provinz aus historischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Gründen unter die Hoheit der Regionalregierung Kurdistans und nicht Bagdads gestellt werden.“[4]Ebda.

Diese Ansprüche gegen die irakischen Kurd*innen durchzusetzen wird nicht leicht. Die Verbindungen zu den Streitkräften der PYD und der PKK könnten aber eine Konföderation mit Nordsyrien und den türkischen Kurd*innen in Aussicht stellen. Nachdem die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die PKK im Sindschar-Gebiet den IS vertreiben konnten, stören sich die irakischen Kurd*innen, unter Barsani, an dem neu gewonnenen Einfluss der ‚Befreier‘. Nicht zuletzt im Hinblick auf die Beziehungen zu Ankara. Und auch die ‚Volksmobilmachung‘ (al-Haschd al-Schabi), eine schiitische Miliz zur Bekämpfung des IS , die der YPG nahe stehen und an Einfluss in der Sindschar-Region gewonnen haben, stehen der irakisch-kurdischen Autonomieregierung eher skeptisch gegenüber.[5]Vogl, Andreas. Die Jesiden vor dem kurdischen Referendum – Zeit für Realpolitik. Auch sie pflegen die Verbindungen zu den Ezid*innen.

Konföderation über ethnische Grenzen hinweg

Die enge Verknüpfung des Kommunalismus mit dem Konföderalismus, die Ablehnung des Staates, sowie die Zielsetzung eine rationale und systematische Theorie des Sozialismus zu entwickeln, sind die Hauptelemente, die der kommunalistischen Tradition entsprechen. Nachbarschaften, Dörfer und Städte sind dabei zentrale Akteure basisdemokratischer Entscheidungen und regeln „die Angelegenheiten des Gemeinwesens von Angesicht zu Angesicht, treffen politische Entscheidungen in einem direkten demokratischen Verfahren und verleihen dem Ideal einer humanistischen und rationalen Gesellschaft praktische Realität.“[6]Bookchin, Murray. Die nächste Revolution. Libertärer Kommunalismus und die Zukunft der Linken.Unrast Verlag. 2015. S. 38

Im Falle Sindschars steht die mehrheitlich ezidische Gemeinschaft nun zwischen den Interessenkonflikten der Kurd*innen und muss nicht nur selbst dafür sorgen, eine funktionierende Selbstverwaltung aufzubauen, sondern sich auch davor schützen, nicht ins Kreuzfeuer kurdischer Bestrebungen zu geraten. Wenn die ideellen Vorstellungen des Kommunalismus gegen die unterschiedlichsten Bestrebungen nach Autonomie innerhalb des nationalstaatlichen Gedankens eine Chance haben soll, müssen nicht nur die patriarchalisch strukturierten Konzeptionen von Gesellschaft und die immer noch männlich-dominierten Versammlungen der politischen Gemeinschaften sich aus ihrer Homogenität befreien, sondern auch die verschiedenen ethnischen Gruppen einen Weg finden, sich innerhalb eines Territoriums neu zu definieren.

Es ist das Ideal der Befreiungs- und der Sezessionskämpfe, welches die revolutionäre Romantik der Referenden auf Unabhängigkeit beflügelt, doch dieses Ideal wird auch mit dem Widerspruch einer immer höheren Zahl an Nationalstaaten konfrontiert, die neue Territorien, Völker, etc. schaffen und somit exklusive Ansprüche und Privilegien schüren. Wie kann eine Gemeinschaft den Anspruch auf eine autonome Organisation in nationalen Grenzen legitim durchsetzen und dies ohne dabei ähnliche Herrschaftsansprüche zu reproduzieren? Kann sich eine Gemeinschaft überhaupt unter den Bedingungen einer Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften konzipieren und wie kann sie sich mit anderen Identitäten verbünden?

Momentan funktioniert dies eher auf einer militärischen Ebene. Es muss ein Konzept gedacht werden, das sich gegen die patriarchalen Grundbausteine einer Barsani–Erdogan–Linie stellt, die eher aus den historisch gewachsenen Strukturen der Klüngeleien und Korruption heraus entwickelt wurde. Dazu kann die Sindschar-Region ein Anstoß sein. Auch Bese Hozat, die Kovorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) sieht dies positiv:„es bestehen keine Zweifel an der Tatsache, dass die jüngsten Entwicklungen in Şengal [Sindschar] der Demokratisierung den Weg geebnet hat. Gemeinsam mit Şengal können die autonomen Gebiete in Ninova und Mossul, ja sogar ein auf dieser Linie entstehendes demokratisch föderales System aus mehreren autonomen Provinzen, im Irak enormen Entwicklungen den Weg ebnen.“[7]Bese Hozat.„Südkurdistan kann sich ein Beispiel an der Demokratischen Föderation Nordsyrien nehmen

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