Obdachlosigkeit: „Es hilft, die eigene Situation als selbstbewussten Kampf zu begreifen.“

DA: Ralf, immer wieder wird spekuliert, wie Leute ihr Obdach verlieren. Was sind deine Erfahrungen?

Ralf: Nun ja, wie bei allem, was ich in diesem Interview sage, muss mensch auch hier betonen, ich bin eine Weile weg von der Straße, viele Bedingungen haben sich seitdem geändert. Generell gibt es ganz verschiedene Gründe. Du findest schlicht keine Wohnung in deiner Preisklasse, keine*n Vermieter*in, die dich haben will – z.B. weil du People of Color[1]Der Begriff bezeichnet nicht-weiße Menschen, die grundsätzlich ähnliche Erfahrungen rassistischer Diskriminierung erleben. bist oder ‘nen Hund hast. Vielleicht könntest du ‘ne Wohnung haben, aber hältst die Gängelei vom Jobcenter nicht aus. Es gibt viele Gründe. Ich denke aktuell erwischt es viele mobile Arbeiter*innen, die hier um den Lohn betrogen wurden und viele geflüchtete Kolleg*innen, die nichts finden.

DA: Wie kamst du auf die Straße?

Ralf: Ich war noch ziemlich jung. Meine ersten Erfahrungen machte ich während der Ausbildung. Ich und andere Azubis, Schüler*innen usw. hatten keinen Geld, z.T. auch keinen Bock abends immer in unsere Heimatdörfer zu fahren. Ich hatte nur ‘ne schulische Ausbildung gefunden, für die ich noch drauflegen musste. Wir haben uns in einem großen leerstehenden Komplex ohne Heizung, Strom und Wasser eingenistet. Wasser holten wir von einem Stadtbrunnen. Im Winter half nur, Türen und Fenster dicht machen, Kerzen und kuscheln. Weil wir so pleite waren, jobbten ein paar von uns nachmittags gegen Kost. Wir klauten auch viel. Für ein längeres Praktikum verschlug es mich im Sommer 2007 nach Dresden. Dort gab es gerade eine Flächenbesetzung. Nach dem Praktikum war meine Ausbildung beendet, unsere alte Besetzerbude wurde entdeckt. Ich blieb dann in Dresden.

DA: Wie hast du damals gelebt und mit wem? Was heißt es, wenn du sagst ihr habt euch organisiert?

Ralf: Es gab bei uns viele von 15 – 21 Jahren, dann kam lange nichts, dann gab es wieder viele über 40. Bei den jungen Leuten gab es einige, die sich gerade anpolitisierten. Bei den Älteren einige, die in der DDR ein wenig subkulturellen Widerstand betrieben hatten. Die Flächenbesetzung war ein Politikum und so lernten wir uns zwar als Obdachlose kennen, waren aber gleichzeitig Aktivist*innen. Ein paar Grundregeln kannte ich schon von Tramp-Touren und die wurden damals gefestigt: Halt dich von Leuten fern, die gefährliche Drogen nehmen, gefährliche Krankheiten haben, gefährliches Verhalten an den Tag legen. Wenn du in ein leeres Haus kommst und Heroinbesteck[2]Utensilien, um Heroin zu konsumieren, also Löffel und Spritzen. findest, meide das Haus und mach ‘ne Markierung dran, sowas. Im Winter wurde die Fläche geräumt. Wir suchten eine neue Bude. Wir checkten diverse Häuser, sprachen uns mit Graffiti-Leuten und anderen Besetzer*innen ab, die Buden hatten aber ein Hausprojekt wollten. Ab und an pennten wir bei denen, manchmal länger wenn’s kein sinnvolles Haus gab, bis das eben zu Reibereien führte oder mensch sich unwillkommen fühlte.

Häuser suchten wir systematisch, legten mit anderen Leuten Listen an, lernten andere Wohnungslose kennen, weil wir beim checken einer Bude auf einmal in ihrem Zimmer standen oder eben halt umgekehrt. Haus suchen hieß: Was steht leer? Wie sind die Zugänge, kommt mensch ungesehen rein? Sind die Fallrohre intakt? Das Dach? Die Öfen? Wo kann mensch nächstliegend Wasser holen? Sind noch Kohlen im Keller? Möbel drin? Sowas. Zwischendurch gab es sogar regelmäßigen Besetzungsbrunch, wo verschiedene Cliquen, auch Sprayer und Freetech-Leute zusammen kamen.

In den Buden waren wir manchmal nur zwei Wochen, manchmal ein halbes, dreiviertel Jahr. Bis die Bullen uns drauf kamen, saniert oder abgerissen wurde. Unser technisches Wissen sammelten wir und gaben es weiter.

Später haben wir dann aufgrund der Räumungen mit anderen Gruppen von Betroffenen öffentliche Besetzungen, Demos und andere Aktionen organisiert und konnten auch erreichen, dass unser Standpunkt in der öffentlichen Debatte ankam.

DA: Wie hast du in deiner Zeit die Obdachlosenangebote wahrgenommen?

Ralf: Nicht gut. Von einigen Vereinen, die wohl ganz gute Arbeit machen, habe ich schlicht nie was mitbekommen. Mitbekommen habe ich die Obdachlosenheime in meinem Kiez. Da konntest du erst spät rein, musstest früh raus, mit wildfremden auf Zimmer, Hunde sowieso nicht und alles sehr bevormundend. Ich habe mir das nicht gegeben. Warum sich so entwürdigen lassen, wenn mensch ‘nen riesigen Altbau allein haben kann (lacht). Gut waren die Suppenküchen. Die fragten nicht viel und waren wichtige Treffpunke. Aber heute ist das schwieriger, alles.

DA: Inwiefern?

Ralf: Nun ja, Dresden hatte als ich anfing ca. 12% Leerstand, aktuell ist es gerade mal die Hälfte. Für Wohnungslose aber noch interessanter: Was jetzt noch leer steht, sind in der Regel Einzelwohnungen oder wirklich abrissreife Ruinen. Leere Häuser in halbwegs gutem Zustand sind sehr selten. Auf Besetzungen reagierten die Bullen mit illegalen Kontrollen in den Häusern. Warfen die Leute raus und informierten Hauseigentümer*innen proaktiv über Zugänge. Wichtige Strukturen wurden von der Stadt zu Fall gebracht, eine davon war der Wertstoffhof, eine Art Umsonstladen für Möbel. Gerade für saubere Matratzen und ein bisschen Komfort war der sehr wichtig. Aber auch viel elementarer: In vielen Suppenküchen bekommst du nur noch was mit Bedürftigkeitsnachweis, das heizt einerseits die soziale Isolation der Leute an und andererseits: Wenn du obdachlos bist, weil du z.B. wegen Depressionserkrankung etc. auf den Ämtern nicht klar kommst, dann Glückwunsch! Jetzt verhungerst du auch noch. Leute, die den Registrierungswahn nicht mitmachen oder mitmachen können, gibt es für diese Bürokrat*innen nicht oder ihr Elend ist ihnen egal.

Hauseigentümer*innen gingen außerdem dazu über, in an sich leeren Häusern sogenannte Anti-Squater einziehen zu lassen, d.h. Leute, die oft kostenlos mit einem schnell kündbaren Vertrag oder nur einer Duldung wohnen können und dafür bellen sollen, sobald dort noch jemand anders einzieht – ekelhaft! Dabei spielt mensch da aktiv mit dem Leben von Leuten.

DA: Du meinst, weil die Leute erfrieren?

Ralf: Ja, auch. Aber nicht nur das. Selbst wenn du nicht erfrierst, ich bin jetzt kein Mediziner, aber was ich gesehen habe ist, dass die Leute krass abbauen, wenn sie zu viel Frost abkriegen. Auch geistig, aber vor allem auch körperlich. Insgesamt, wenn du keinen sinnvollen Pennplatz hast, du fängst dir Infektionen, Hautkrankheiten. Es legt sich auf die Psyche, du hast keinen Elan mehr, dir sinnvolles Essen zu suchen, bekommst Mangelerscheinungen, sowas. Du verletzt dich auch schneller und Verletzungen heilen beschissener. Viele denken ja, Leute werden obdachlos, weil sie psychische Probleme oder ein Drogenproblem haben. Mag auch oft stimmen. Die Wahrheit ist aber auch: Durch die Kälte, Hunger, Verzweiflung auf der Straße bekommst du psychische Probleme und ohne krasse Selbstdisziplin auch ein Drogenproblem. Und nicht zuletzt: Als Obdachlose*r wollen dir viele ans Leder, andere Wohnungslose, die es nicht so mit Solidarität haben und eher im Raubtiermodus sind, gewaltgeile Nazis, sadistische Richkids. Im besten Fall rauben sie dich nur aus, pissen auf dich drauf – einige wurden aber eben auch schon ermordet. Deswegen sind Besetzungen, eine abschließbare Bude, Räume, in denen mensch sich begegnet und organisiert, eigentlich lebensnotwendig.

Cops gehen gegen Besetzer*innen vor

DA: Was können Syndikalist*innen und andere tun, die zum Thema aktiv werden wollen?

Ralf: Also erstmal, wie gesagt, im Winter werden die Leute nicht besser. Fragt in Hausprojekten, wie ihre Policy ist, mit Leuten die mensch auf der Straße aufgabelt. Sammelt in eurem Syndikat brauchbare Schlafsäcke, Decken, Pullover, Socken und habt die am besten in verschiedenen Stadtteilen schnell griffbereit. Hört euch um, welche offiziellen Anlaufstellen es in den Stadtteilen gibt und am besten auch, ob die Betroffenen finden, dass die taugen. Wenn ihr die Zeit habt: Checkt in euren Stadtteilen den Leerstand aus, gute Tipps findet ihr auf dem Anarchopedia-Projekt zu Hausbesetzung. Im Idealfall könnt ihr den Kolleg*innen eigenen Wohnraum bieten und sie als Nachbar*innen unterstützen, beispielsweise mit nahem Hausprojekt, mit Dusche, Küche etc. Achtet bei Kolleg*innen, die sich wenig Pflege gönnnen konnten auf Krätze (Milbenbefall) und Schleppe (bakterielle Wunderkrankung). Beides ist recht ansteckend und gerade Krätze schwer los zu bekommen. Dazu kommt, dass Ärzt*innen die Krankheiten oft nicht erkennen, weil sie vielerorts als ausgestorben gelten. In beiden Fällen kann die Krankheit bei dauerhafter Nichtbehandlung lebensgefährlich werden. Ihr müsst zur Ärzt*in.

DA: Und mittelfristig?

Ralf: Unterstützt mit euren Syndikaten Aktionen, die Mietpreisbremsen und ähnliches fordern, um den Druck aus dem Wohnungsmarkt zu nehmen. Unterstützt Hausprojekte, wie die des Mietshäusersyndikats im Aufbau, vor allem, wenn sie großzügige Gästzimmer einplanen. Setzt euch dafür ein, dass die Stadt Vorkaufsrechte und Förderungen für selbstverwaltete Hausprojekte beschließt. Organisiert gemeinsame Gänge zu Ämtern und Behörden. Wenn es bei euch kriminal-präventive Räte oder ähnliches gibt, macht Druck auf die Institutionen, dass Bullen Hausfriedensbrüche in Leerstand dulden und vor allem nicht ohne vorliegende Anzeigen in Häuser gehen. Im Idealfall: Macht es wie spanische Basisgewerkschaften: Tut euch mit Freiraumgruppen zusammen, besetzt Leerstand und stellt ihnen den Wohnungslosen zur Verfügung. Bietet Einkommenslosen an, kostenlose Syndikatsmitglieder zu werden und ihre Probleme auf euren Treffen wie Arbeitskämpfe zu behandeln.

DA: Abschließend: Was hat dir in der Zeit auf der Straße am meisten geholfen?

Ralf: Hm. Ich denk die gegenseitige Solidarität unter uns Betroffenen und das Bewusstsein, dass meine Verweigerungshaltung gegenüber Eigentum und Lohnsklaverei legitim ist, da sie unnötig ist und mir nie zur Diskussion gestellt wurde. Ich denke es hilft, sich nicht Viktimisieren[3]In die Opferrolle gedrängt werden. zu lassen, sondern die eigene Situation – wenn einem selbst möglich – als selbstbewussten Kampf zu begreifen und zu organisieren.

Ein Kommentar zu «Obdachlosigkeit: „Es hilft, die eigene Situation als selbstbewussten Kampf zu begreifen.“»

Schreibe einen Kommentar