Realität vs. Marketing – „Bürgergeld“ echt noch schlechter als angekündigt

Die Liste der unvorhergesehenen Kehrtwendungen und verschleppten Reformen ist nach gerade mal 100 Tagen Ampelregierung bereits erschreckend lang. Die allgemeine Impflicht kommt nach Monaten des Wartens vermutlich gar nicht mehr. Der Mindestlohn wird erst im Oktober 2022 erhöht, also fast ein Jahr nach Koalitionsbildung. Die Grünen liefern Waffen in Kriegsgebiete und rüsten von Geld, das sonst überall fehlt, bereitwillig die Bundeswehr auf, und freuen sich darüber hinaus auf Flüssiggas aus so politisch unproblematischen Regionen wie Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten, oder Frackingmist aus den USA. Und die FDP? Diese entdeckte neuerdings ihre Liebe für Schattenhaushalte und – man höre und staune, Stichwort Tankrabatt – planwirtschaftliche Zwangsbeglückung! Der Markt regelt offenbar doch nicht alles – oje, oje, wer hätte das nur ahnen können?

Und auch beim großen sozialstaatlichen Marketingprojekt getauft „Bürgergeld“, erweisen sich die wenigen Feigenblätter realer Verbesserungen als vollmundige Ankündigungsblasen, welche mutlosen und hinausgeschobenen Umsetzungen weichen mussten. Stichwort: Sanktionsmoratorium. Im Koalitionsvertrag kündigte die Bundesregierung noch mit der Einführung des „Bürgergeldes“ ein einjähriges Pausieren der bei „Hartz IV“ üblichen Kürzungen von Sozialleistungen an, die bislang verhängt wurden, wenn erwerbslose Leistungsbezieher*innen sich missliebig verhielten. Der Jubel angesichts dieses Vorhabens, hielt sich von vornherein in Grenzen. Sozialverbänden und Betroffenenorganisationen war mehrheitlich klar, dass die angekündigte Aussetzung der Leistungskürzungen kaum ein Anflug neu entdeckter Menschlichkeit gegenüber Langzeitarbeitslosen darstellte. Vielmehr handelte es sich um eine späte Reaktion auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2019, das den gesetzlich Spielraum für Angriffe auf das Existenzminimum neu auszuloten verlangte. Und dass alles nur wegen solcher Kleinigkeiten wie Menschenwürde und Verfassungskonformität. Neue Regelungen mussten also her und dass eigentlich schon seit 2020, doch die alte Schwarz-Rote Bundesregierung schob es auf die berühmt-berüchtigte lange Bank. Die neue Ampelregierung hatte es auch nicht eilig, und wollte sich erstmal ein ganzes Jahr Zeit nehmen, um ausgiebig Konzepte erarbeiten zu können. Großzügiger Weise sollten die alten, verfassungsrechtlich ja teilweise bedenklichen Sanktionsregeln so lange ausgesetzt werden. Kein großer Wurf, aber definitiv eine reale Entlastung für alle Betroffenen. Doch selbst daraus wurde leider nichts. Sanktionsmoratorium? Bislang Pustekuchen!

Nun soll es endlich doch kommen – voraussichtlich ab Mai 2022 – aber nur bis Dezember. Also statt angekündigten 12 Monaten Sanktionspause, nur 7 Monate. Und die Sanktionen auf sogenannte „Meldeversäumnisse“, welche in der Praxis um die 70% der verhängten Sanktionen ausmachen, bleiben nach aktuellen Entwürfen vom Moratorium unberührt. Aber selbst die ausgehebelten Sanktionen bezüglich sogenannter „Pflichtverletzungen“, behalten einen Haken mit gewaltigem Folgepotential. Denn nach §31b Abs. 1 S. 5 des Sozialgesetzbuches II, können Sanktionen noch bis zu 6 Monate nach der auslösenden „Pflichtverletzung“ verhängt werden. Das hätte zur Folge, dass bundesweit die Jobcenter rechtlich in der Lage wären, „Pflichtverletzungen“, die sich in den späteren Monaten des zurechtgestutzten Moratoriums ereigneten, nachträglich doch noch zu sanktionieren. Unklar bleibt zwar, ob das zur gängigen Praxis würde, oder die Ausnahme bliebe – aber Rechtssicherheit sieht definitiv anders aus.

Es bleibt festzuhalten: Das geplante „Bürgergeld“ ist bereits ein Scherbenhaufen, bevor es überhaupt eingeführt wurde. Vollkommen zu Recht kritisiert Harald Thome von der bundesweit bekannten Betroffenenorganisation Tacheles e.V. die unbegründete Verkürzung des Moratoriums als „massiven Vertrauensbruch“ und stellt klar: „Bürgergeld bleibt Hartz IV, solange nicht bedarfsdeckende Regelleistungen gezahlt und die Sanktionen abgeschafft werden!“ Aus anarchosyndikalistischer Sicht ist es natürlich nicht weiter verwunderlich, dass die Ampelregierung keinen verlässlichen Verbündeten darstellt, nicht für Lohnbeschäftigte, nicht für Rentner*Innen – und natürlich auch nicht für Erwerbslose. SPD und Grüne setzen die gleiche menschenverachtende Arbeits- und Sozialpolitik fort, die sie seit 2002 losgetreten haben, und die FDP ist – Wunder oh Wunder – auch keine Hilfe. Umso wichtiger ist der solidarische Schulterschluss aller emanzipatorischen Kräfte mit den Betroffenen, gegen eine ausgrenzende und zerstörerische Wirtschafts- und Sozialpolitik. Erwerbslosenhilfe – und darüber hinaus – Erwerbslosenselbstorganisation, sind das Gebot der Stunde. Die FAU kann und will ihren Beitrag dazu leisten – in den Syndikaten, in Kooperation mit Betroffenenorganisationen wie Tacheles e.V., dem Netzwerk BASTA und vergleichbaren Initiativen vor Ort, oder auch durch die Unterstützung von umfassenderen Ansätzen wie Kampagnen zur Einführung eines Grundeinkommens, oder der 4 Stunden-Liga.

In diesem Zusammenhang gilt es deutlich zu begrüßen, dass innerhalb der FAU versucht wird überregional eine Vernetzung zum Thema Erwerbslosenorganisation und Existenzsicherung aufzubauen. Diese kann mit allen interessierten Syndikaten teilen, was an Wissen, Aktionsformen, potenziellen Verbündeten, und denkbaren Supportstrukturen relevant sein könnte. Perspektivisch könnten Kampagnen zusammen entwickelt und ausgefochten werden. Gelebte Klassensolidarität wird auf diese Weise gestärkt und erleichtert. Denn es wird endlich Zeit Erwerbslosigkeit nicht mehr als merkwürdige Ausnahme von Erwerbsarbeit zu verstehen, sondern sie vielmehr als tragende und grundsteinbildende Funktion im Gelingen der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse zu begreifen. Erwerbslosigkeit als eingeschriebener Bestandteil des Konfliktes zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Wer nicht besitzt, muss arbeiten. Wer nicht arbeitet, fliegt raus aus der Gesellschaft. Ohne diesen Mechanismus der Verarmung und Ausgrenzung, wie zahnlos wären die Versuche uns unter widrigen Bedingungen für den Wohlstand anderer schuften zu lassen? In diesem Sinne ist eine gewerkschaftliche Orientierung auf das Thema Erwerbslosenorganisation längst überfällig. Und wie die aktuelle Entwicklung a la „Bürgergeld“ aufzeigt, auch bitter notwendig.

 

Beitragsbild von: https://weact.campact.de/petitions/burgergeld-muss-mehr-sein-als-ein-anderes-wort-fur-hartz-iv

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