Die schwarz-gelbe Landesregierung von NRW versucht ein neues Versammlungsgesetz durchzubringen. Was sagt das Gesetz genau aus und wieso haben Kritiker:innen um ihre Grundrechte Angst? Die nach Art. 8 Grundgesetz geschützte Versammlungsfreiheit ist in ihrer grundlegenden Bedeutung für eine lebendige Demokratie anerkannt. Der Landesgesetzgeber hat die grundgesetzlichen Vorgaben zu beachten. [1]Drucksache 17/12423 Landtag NRW, S. 1.
So beginnt der zweite Abschnitt des neuen Versammlungsgesetzesentwurf und dürfte für alle Leser:innen der erste Schlag ins Gesicht sein in Bezug auf die offenkundige Scheinheiligkeit, betrachtet mensch die darauffolgenden Paragraphen des Textes.
Anfang diesen Jahres hat die schwarz-gelbe Landesregierung NRWs einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der von allen Gegner:innen passend ‚Versammlungsverhinderungsgesetz‘ genannt wird. Seit Januar gibt es Proteste gegen den Gesetzesentwurf, mittlerweile spitzt sich zeitlich die Lage zu. Am 23. und 24. Juni 2021 könnte das Gesetz von den Landtagsausschüssen abgenickt werden oder dem Landtag zur Abstimmung übergeben werden.
Dieser Artikel ist ein Aufruf, euch an der NRW-weiten Demonstration am 26. Juni 2021 gegen den Gesetzesentwurf zu beteiligen.
Mehr Paragraphen, weniger Freiheit
Doch der Reihe nach: Welche Einschränkungen sieht das VersGNRW im Detail vor?
Einschränkungen für Anmelder:innen
Laut dem Gesetz müssten Anmelder:innen von Veranstaltungen ihren Namen in der Einladung angeben. (§4) Weiterhin können Anmelder:innen strafrechtlich belangt werden, wenn eine Demonstration nicht nach allen gesetzlichen Vorgaben abläuft. (Ausführungen zu §6, S. 55) Die Polizei könnte von den Anmelder:innen die Namen und Adressen der Ordner:innen anfordern sowie die Veranstaltungsleitung ablehnen. (§12)
Störungsverbot“/Verbot von Sitzblockaden
„Es ist verboten, eine Versammlung mit dem Ziel zu stören, diese zu behindern oder zu vereiteln.“ (Paragraph 7) Ja, ernsthaft. Sitzblockaden sollen mit dem Gesetz der Vergangenheit angehören. Um diesen Akt der absolut friedlichen Meinungsäußerung zu verhindern, kann eine Sitzblockade mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden. Weiterhin kann bereits das Aufrufen zu einer Sitzblockade auf einem Flyer oder ähnlichem als strafbar gelten, genau wie ein Blockadetraining.
“Militanzverbot“/Ausschluss von Demonstrationsteilnehmer:innen aufgrund ihrer Kleidung
Das Militanzverbot (§18) verbietet an einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel teilzunehmen, wenn die Person laut Meinung der Polizei paramilitärisch aussieht, durch ihr Auftreten Gewaltbereitschaft vermittelt oder eine Uniform oder „uniformähnliche Kleidungsstücke“ trägt. Wie dies genauer zu verstehen ist, ist nicht weiter ausformuliert. Mit dem Gesetz würde der Polizei frei stehen, jede Person von einer Demonstration zu verweisen, weil sie zu aggressiv aussehen würde. Außerdem würden bei einem Durchkommen des Gesetzes die weißen Maleranzüge von aktivistischen Umweltschützer:innen verboten sein.
Mehr Überwachung
Die Polizei darf um eine Demo herum „Kontrollstellen“ einrichten, bei denen sie die Identität von Personen feststellen darf, „um eine Straftat zu verhüten“. (§15) Weiterhin soll es der Polizei nach Paragraph 16 erlaubt sein, vermehrt Bild- und Videoaufnahmen zu machen, wenn die Polizei nach eigener Auslegung der Meinung ist, dass von einer Person „erhebliche Gefahr“ ausgehe.
Auch Übersichtsaufnahmen sollen ab einer gewissen, nicht definierten Demonstrationsgröße der Polizei erlaubt sein, da Demonstrationen sonst ja zu unübersichtlich sind. Ja, es wurde ernsthaft als einziges Argument die Unübersichtlichkeit von zu großen Demos genannt. Um dies nachprüfen zu können, hier der genaue Wortlaut:
„Die zuständige Behörde darf Übersichtsaufnahmen von öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel und ihrem Umfeld zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes anfertigen, wenn dies wegen der Größe oder Unübersichtlichkeit der Versammlung im Einzelfall erforderlich ist.“
Dieser Paragraph wird in seinem Anmerkungstext in seiner Groteskheit ausgeführt. Übersichtsaufnahmen sind nicht an eine Gefahrenlage oder konkrete Gefahr gebunden. Falls laut der subjektiven Einschätzung der Polizei jedoch auch nur von einem Teil der Demonstrat:innen angeblich eine Gefahr ausgehen sollte, sollen auch für die Identifizierung von Personen Übersichtsaufzeichnungen zulässig sein. (Drucksache 17/12423 Landtag NRW, S. 74.)
frühere Demo-Anmeldung
Zuletzt die erhebliche Einschränkung für Arbeitskämpfe. Laut dem VersGNRW sollen öffentliche Veranstaltungen unter freiem Himmel mindestens 48 Stunden plus Sams-, Sonn- und Feiertage vor der Durchführung angezeigt werden. (§10) Wie es Eva-Maria Zimmermann von der GEW ausdrückte: „Müssen dann Menschen, die für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze auf die Straße gehen, Geldstrafen oder gar Freiheitsstrafen befürchten?[2]Zitat übernommen von NRW: Schwarz-gelbe Landesregierung will neues Versammlungs- bzw. Versammlungsverhinderungsgesetz » LabourNet Germany
Wer im Wortlaut den Gesetzesentwurf nachlesen möchte, kann dies hier tun: MMD17-12423.pdf (nrw.de)
Verliebt, verlobt, verheiratet: CDU und AFD?
Schon im April 2020 versuchte der NRW-Innenminister Herbert Reul an Artikel 8 des Grundgesetzes zum Schutz der Versammlungsfreiheit zu rütteln, da der Kampf gegen Covid-19 über den Grundrechten der Menschen stehen würde. Der Brokdorf-Beschluss sei „eine verfassungsrechtliche Privilegierung der Grundrechte“. Nach heftiger Kritik an seiner Aussage, entschuldigte er sich zwar mit der Aussage, dass er missverstanden worden sei – doch spätestens das neue Versammlungsverhinderungsgesetz offenbart die Scheinheiligkeit seiner „Entschuldigung“.
Dass Corona als Argument verwendet wird, um Grundrechte zu beschneiden, ist nichts Neues. Doch dass nun ohne Begründung ein neues Gesetz gegen die Grundrechte versucht wird durchzubringen – Moment, das ist ja auch nichts Neues. Das VersGNRW steht in Tradition, während der Beschäftigung der Medien mit anderen Themen (hier mit Corona und der EM), repressive Gesetze durchzubringen. Der letzte sogar geglückte Versuch in NRW ist erst drei Jahre her (Polizeigesetz).
Dass die CDU und die FDP nur von wenigen (wohlhabenden) Personen Menschenfreund:innen sind und sich das Gesetz vor allem gegen aktivistische Klimaschützer:innen, Arbeitskämpfer:innen und Antifaschist:innen wendet, überrascht leider auch nicht. Trotzdem frage ich mich: Was haben sie sich dabei gedacht? Sollte es Politiker:innen eines demokratischen Staats nicht auffallen, dass ein Gesetz, dass die Grundrechte der Menschen einschränkt, nicht demokratisch ist und vielleicht auch wesentlich einer gewissen undemokratischen Partei in die Hände spielt? Wenn ich mir den Gesetzesentwurf ansehe und vermute, dass er aufgrund seiner Missachtung des Artikel 8 des Grundgesetzes nicht durchkommt, bekomme ich trotzdem Angst. Denn ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis die CDU mit der AFD koalieren wird.
O-Töne und Angst
In der letzten Woche fanden in Nordrhein-Westfalen in vielen Städten Demonstrationen gegen das Versammlungsverhinderungsgesetz statt. Mich hat interessiert, was die Meinungen von unterschiedlichen Gruppen auf diesen Demos sind, um ein Stimmungsbild öffentlich zeigen zu können.
Vor der Demo fragte ich mich lange, welche Interviewfragen ich den Leuten stellen soll. Neulich hörte ich einen Podcast zu einer wissenschaftlichen Theorie über demokratie-hinderliche Gefühle. Die Forscherin hat dabei rechtspopulistische Strömungen untersucht. Wie es auf der Hand liegt, kam sie zu dem Ergebnis, dass Angst eine der hinderlichsten Gefühle darstellt. Ich habe lange überlegt, ob ich nicht zu viel Öl ins Feuer kippe, wenn ich die Demonstrationsteilnehmer:innen nur zu ihrer Angst interviewe und keine weiteren Fragen stelle. Aber ist nicht das Gesetz an sich am demokratiefeindlichsten im Gegensatz zu unserer begründeten Angst? Und auch davon abgesehen: Eine „Demokratie“, in der medienwirksame Veranstaltungen wie beliebte Sportarten dazu missbraucht werden, demokratiefeindliche Gesetze unbemerkt durchzubekommen, vor der habe ich Angst und die will ich auch nicht mehr. Ich will Basisdemokratie und keine Gesetze mehr von oben aus der kapitalismusdurchseuchten Parlamentarismusmaschinerie.
Hier die Antworten von Teilnehmer:innen der Demonstration gegen das Versammlungsgesetz auf die Frage:
„Wovor hast du bezüglich des neuen Versammlungsverhinderungsgesetz (am meisten) Angst?“
Ich befürchte, dass es in NRW vor allen selbstorganisierten Menschen die Möglichkeiten erschweren wird an Versammlungen teilzunehmen und diese durchzuführen. Der Aufwand eine anzumelden durch die Notwendigkeit, dass man den Anmelder veröffentlichen muss, schürt natürlich Angst und wird abschrecken. Auch Teilnehmer, die durch die Kontrollstationen durch müssen, werden abgeschreckt an der Demonstration teilzunehmen – das wären dann vor allen Dingen Schüler:innen, Studierendengruppen oder Arbeitnehmer:innengruppen im Betrieb. Ich glaube, dass besonders diese Gruppen davon abgehalten werden sollen, ihren Protest nach draußen zu tragen und nach Solidarität zu fragen und deswegen gehe ich dagegen auf die Straße.
Ich glaube, dass mir am größten Sorge bereitet, dass es möglich sein soll, eine Demo komplett zu überwachen und Videomaterial zu sammeln und es möglich wäre, dass Polizist:innen anonym, in zivil auf Demos mitlaufen können. Das heißt, ich könnte mich nicht mehr darauf verlassen, auf der Demo selbst anonym zu bleiben und muss immer damit rechnen als Person verfolgt zu werden und das halte ich für sehr problematisch.
Ich befürchte, dass wir dann autoritäre Verhältnisse wie in der Türkei haben, wo es ja auch nicht jederzeit erlaubt ist zu demonstrieren.
Ich habe Angst vor noch mehr Polizeistaat; vor noch mehr Überwachung; vor noch mehr Bullen, die ihre Gewalt noch leichter rechtfertigen können als sowieso schon. Vor noch mehr Repression auf Demos; noch weniger Leute, die sich auf Demos trauen wegen der Repression. Und ja … dass die Scheiß-Nazis noch viel mehr dürfen und im Ermessungsspielraum der Polizei noch viel mehr reingepackt wird, als es sowieso schon ist. Und das in einer Zeit, in der gefühlt alle zwei Wochen ein neuer rechter Chat rauskommt. Was machen wir? Ach ja, wir geben denen noch mehr Recht auf Gewalt …
Ich habe am meisten Angst, dass wir keine Demonstrationen mehr machen können, weil alles verboten ist und wir keine Möglichkeit mehr haben, uns dagegen zu wehren und dass wir direkt eingesperrt werden, wenn wir überhaupt demonstrieren. [Glaubst du, dass das Versammlungsverhinderungsgesetz durchkommt?] Spätestens vor dem Bundesverfassungsgericht wird das nicht durchkommen. Aber das wird schon ein paar Jahre hart sein. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt als kriminell zu sein, machen wir das halt so. Wenn ich demonstrieren gehe und es kriminell ist, kann ich auch direkt nachts losgehen und kriminell sein. Neues Gesetz, leck mich doch!
In meiner Organisation melden wir die Ostermärsche an. Wir haben da immer Ordner:innen, die wir immer erst am Tag selber zusammenrufen. Wir haben drei oder vier feste Personen dafür. Formal bräuchten wir mehr. Wir könnten den Ostermarsch nicht mehr anmelden, wenn das mit dem Ordner-vorher-Anmelden Pflicht ist. Und wenn wir Blockaden machen, dann drohen uns bis zu zwei Jahren Knast.
Ich habe Angst, dass man eingeschränkt ist in der Organisation von Demos und Protest zu artikulieren und dass Leute wahrscheinlich mehr Repression kriegen und verfolgt werden. [Bedeutet es für dich persönlich eine Einschränkung?] Ich habe bisher keine Demos angemeldet, aber es bedeutet ja für alle die Einschränkungen beim Wahrnehmen des Demonstrationsrechts und dass Leute Repression erfahren, Geldstrafen kriegen und so weiter – siehe andere Länder wie Polen und Brasilien und so weiter.
Ich habe vor allem Angst, dass das Grundgesetz dadurch beschnitten wird und die Hemmschwelle das Grundgesetz zu missachten in der Politik weiterhin gesenkt wird. Es macht mir im Hinblick darauf Angst, dass das Recht zu demonstrieren darüber teilweise verloren geht und dass Menschen kriminalisiert werden, wenn sie zum Beispiel eine Demonstration anmelden. [Glaubst du, dass das Gesetz durchkommen wird?] Ich kann es nicht einschätzen. Ich hätte auch nie gedacht, dass das Polizeigesetz durchkommt.
Ich denke darüber nach, was passiert, wenn im Wahlkampf oder in den kommenden Wahlkämpfen die AFD an die Macht kommt und wir das Versammlungsverhinderungsgesetz haben sollten. Das ist ein Geschenk an die AFD, das sie mit Handkuss annehmen würden. Sie müssten nicht einmal sagen: Wir haben die ganze Überwachung selbst gemacht, denn das hat alles die CDU vorbereitet. Das macht mir wirklich Angst.
Deswegen: Kommt zur NRW-weiten Demonstration am 26. Juni in Düsseldorf!
Weitere Informationen zur Demo unter:
Aufruf beim Bündnis „Versammlungsgesetz stoppen“
Weitere Infos zum VersGNRW unter:
https://www.nrw-versammlungsgesetz-stoppen.de/
Fotos: FAU östliches Ruhrgebiet