Anfang Juni brach eine große internationale Delegation in die Autonome Region Kurdistan im Nordirak auf. Mit dabei waren Mitglieder der FAU, u. a. ein Mitglied des Internationalen Komitees (IK) der FAU. Im Rahmen des Mandates war es das Ziel, die akute Unterstützung der FAU gegen den aktuellen militärischen Angriffskrieg der Türkei auf irakischem Territorium zu koordinieren. Langfristig geht es für unsere Gewerkschaftsbewegung dabei um mehr, nämlich eine vertiefte Kenntnis der Lage vor Ort und den Kontakt zu potentiellen Partner*innenorganisationen, die im Mittleren Osten[1]In diesem Text, wie auch in unserer internationalen Arbeit, verwenden wir den Begriff „Mittlerer Osten“ eher im englischen Wortsinn. Eine deutsche Entsprechung wäre meist eher der „Nahe Osten“. Beide Begriffe passen aber mäßig auf das von uns betrachtete Territorium, sind aus einer eurozentrischen Sichtweise etabliert und nicht genau festgelegt. Mit dem „Mittleren Osten“ haben wir uns auf den Sprachgebrauch der kommunalistischen Bewegung und der entsprechenden Solidaritätsbewegung verständigt. In unserer internationalen Arbeit des IK habe ich dabei v. a. die folgenden Länder im Blick: Afghanistan, Ägypten, Irak, Iran, Libanon und die Türkei. tätig sind. Diese Artikel-Reihe ist der Versuch einer Zusammenfassung und Auswertung für alle interessierten, revolutionären Gewerkschafter*innen.
In diesem ersten Teil will ich im Schnelldurchlauf eine Übersicht über wichtige aktuell-politische Verhältnisse der Autonomen Region Kurdistans und der Nachbarländer geben. Einen Schwerpunkt lege ich dabei auf die linken Bewegungen in den jeweiligen Regionen und die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den jeweiligen Herrscher*innen.
1. Nord-Ost-Syrien
Die Autonome Region Kurdistan im Nordirak grenzt im Westen an Nordostsyrien, auch als „Rojava“ bekannt, eine Region mit einem auch nach außen getragenen, revolutionären Anspruch.[2]Eine Beschäftigung in der DA mit der Region findet sich hier. Den Versuch einer umfassenden Darstellung des politischen Systems findet ihr hier. Daneben gibt es mittlerweile verschiedene Dokumentationen zum Thema, bspw. diese von Arte 2019. Zu dieser Region arbeitet das Internationale Komitee der FAU-Gesamt-Föderation schwerpunktmäßig und versucht im Rahmen seines Mandats die Gemeinsamkeiten und Unterschiede unserer Bewegungen herauszuarbeiten, Unterstützungsmöglichkeiten für die Selbstverwaltung Nord-Ost-Syriens aufzuzeigen und unserer Organisation eine Hilfestellung für die inhaltliche Einordnung der Bewegung zu geben.
Während der syrischen Revolution ab 2011, die zum Bürgerkrieg wurde, gab es in vielen Bereichen Syriens rätekommunistische und anarchistische Projekte – welche jedoch zumeist dem Bürgerkrieg zum Opfer fielen. Die Bewegung in Nord-Ost-Syrien hat ihre organisatorischen und theoretischen Wurzeln im Unterschied zu diesen Bewegungen nicht in den klassischen libertär-sozialistischen Strömungen, sondern wurde von der PKK in jahrzehntelanger Arbeit aufgebaut und machte mit ihr den Wandel von einer klassisch-leninistischen Kaderpartei hin zu einer kommunalistischeren, basisdemokratischeren Bewegung mit. Vom Terror des Regimes Baschar al-Assads während des Bürgerkriegs blieb die Bewegung weitgehend verschont, was bis heute in der revolutionären Linken Syriens kontrovers diskutiert wird.[3]Ein Artikel, den ich in seiner Interpretation, vor allem aber in seinem sehr unsolidarischen und wenig um Anerkennung revolutionärer Probleme bemühten Tonfall, nicht teilen kann, der aber den Finger an vielen kritischen Punkten in die Wunder legt, erschien hier in der DA.
Gegen 2013 füllte die Bewegung das entstandene Machtvakuum v. a. in Nord-Syrien mit Selbstverwaltungsstrukturen. Seit 2014 gewann die Region durch den Kampf ihrer Militäreinheiten gegen den Daesh (den sogenannten „Islamischen Staat“) und vor allem mit der Schlacht um Kobanê zunehmende Bekanntheit. Im Kampf gegen den Daesh profitierte die Bewegung von einem taktischen Bündnis mit der US-geführten Anti-Daesh-Koalition. 2016 wurde offiziell die autonome Föderation Nordsyrien – Rojava ausgerufen. Das türkische Regime, dass als NATO-Land bereits vorher aktiv Daesh-Truppen unterstützt hatte, begann ab Sommer 2016 aktiv mit dschihadistischen Truppen auf das Territorium der neu ausgerufenen föderativen Selbstverwaltung vorzurücken. Obwohl erfolgreiche Grenzpassierungen von Daesh-Truppen, Versorgungs-Konvois aus der Türkei und andere Unterstützungsaktionen seitens der Erdogan-Regierung für militante Islamist*innen von vor Ort befindlichen Aktivist*innen und Journalist*innen vielfach dokumentiert wurden, nahm die europäische Presse nur sehr zaghaft, teils nach Jahren, diese Berichte auf.[4]Siehe bspw. Tagesschau vom November 2019
Seitdem erfolgen bis heute immer wieder Feldzüge und Teilbesetzungen Nord-Ost-Syriens durch das türkische Regime, immer mit Hilfe militant-islamistischer Kräfte. Die Folgen sind Massenmord, Vergewaltigungen, Folter, Vertreibung und gezielte Ansiedlung regime-treuer Bevölkerungsgruppen in den besetzten Gebieten. Nichts davon ist vom Völkerrecht gedeckt, ernsthafte Sanktionen erfuhr die Türkei dafür nicht. Gleichzeitig hat sich die Bewegung in Nord-Ost-Syrien stärker zu einem multiethnischen Anspruch bekannt, die Bezeichnung „Rojava“, die sich auf das kurdische Verbreitungsgebiet bezog, wurde zugunsten der Bezeichnung „Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien“ abgelegt. Da Nord-Ost-Syrien kein eigener, anerkannter Staat ist, ist die Region vom totalen Embargo gegen das syrische Regime betroffen. Die wirtschaftliche Lage ist äußerst kritisch, verschärft durch den anhaltenden Krieg mit der türkischen Armee, der zweitgrößten der NATO und dem Umstand, dass fast alle Wasserzuflüsse der Region durch die Türkei kontrolliert werden. Das türkische Regime führt einen Vernichtungskrieg gegen die Autonome Administration und wird dabei von keinem der sich demokratisch nennenden Staaten aufgehalten.
Die Grenzen Nord-Ost-Syriens zur Autonomen Region Kurdistans stellen den potentiell wichtigsten Versorgungsweg für die Bevölkerung in Nord-Ost-Syrien dar. Diese sind zwar offiziell geschlossen, aber phasenweise immer wieder durchlässig. Sie sind damit im Kampf der Türkei gegen die Revolution in Syrien eines der wichtigsten strategischen Ziele.
2. Iran
Im Osten grenzt die Autonome Region Kurdistans an den Iran. Im Iran herrscht eine fundamentalistisch islamistische Diktatur, die mit äußerster Härte gegen bspw. religiöse, sexuelle und politische Abweichung vorgeht. Die Todesstrafe, bspw. für Homosexuelle aber auch Regime-Kritiker*innen, ist keine Seltenheit. Gleichzeitig besitzt der Iran eine der vielfältigsten, mutigsten und ausdauerndsten radikalen Oppositionsbewegungen im gesamten Mittleren Osten. Seit vielen Jahren gehen von der iranischen Arbeiter*innenschaft dabei immer wieder mächtige, politische Streikwellen gegen das Regime aus. Dabei werden immer wieder auch libertär-sozialistische Forderungen laut.[5]Hier ein Beispiel von 2018, die genannten Arbeiter*innen von Haft Tapeh sind auch in den aktuellen Streikbewegungen eine der aktivsten Belegschaften. Die Bewegung verfügt auch über einen eigenen, ans Ausland gerichteten Pressedienst. Auch die sehr heterogene (v. a. in Fragen der Toleranz gegenüber der Religion) feministische Bewegung hat im Iran, trotz massiver Verfolgung, eine große Basis. Trotz der großen Nähe, was Inhalte und Aktionsformen angeht, müssen wir als Gewerkschafter*innen der Internationalen Konföderation der Arbeiter*innen selbstkritisch feststellen, dass uns eine dauerhafte Zusammenarbeit oder gar gemeinsame Organisation mit diesen Bewegungen des Iran bis jetzt nicht gelang.
Auch im Iran gibt es eine kurdische Minderheit mit einer PKK-nahen Partei, der PJAK (Partei für ein Freies Leben in Kurdistan – Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê) und einem bewaffneten Arm, die YRK (Yekîneyên Parastina Rojhilatê Kurdistan) sowie deren Fraueneinheiten HPJ (Hêzên Parastina Jin). Die YRK/HPJ kämpfen einen äußerst verlustreichen Guerillia-Kampf um ihre Rückzugsgebiete im Nordwesten des Irans. Diese grenzen an Rückzugsgebiete der PKK in der Türkei und im Nordirak.
Bezüge zwischen der PJAK und der sonstigen revolutionären Bewegung des Iran lassen sich nicht wirklich feststellen, die beiden Bewegungen scheinen viel mehr isoliert nebeneinander zu stehen.
Wie auch andernorts stören sich Regierung und Unternehmen in Deutschland wenig an den antidemokratischen Verhältnissen im Land, ebenso wenig wie an der dauerhaften antisemitischen Propaganda des Regimes – auch wenn die guten Wirtschaftsbeziehungen durch Druck, v. a. aus den USA, ein wenig getrübt sind. So ist laut dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie „Deutschland […] weiterhin einer der wichtigsten europäischen Handelspartner [des] Irans. Zu den wichtigsten deutschen Exportgütern gehören Maschinen, chemische Erzeugnisse, Lebensmittel und pharmazeutische Produkte. Das deutsch-iranische Handelsvolumen 2018 verringerte sich im Vergleich zum Vorjahr um 7 Prozent auf 3,15 Milliarden Euro; deutsche Exporte sanken um 9 Prozent auf 2,7 Milliarden Euro.“
3. Türkei
Im Norden grenzt das offizielle Territorium der Autonomen Region Kurdistans an die Türkei. Die Türkei gilt je nach polit-theoretischer Definition heute als autokratisches System oder als Diktatur, die Gewaltenteilung wurde in den letzten Jahren weitgehend außer Kraft gesetzt. Die Freedom-in-the-World-Länderliste sprach der Türkei einen starken Abbau der Freiheitsrechte zu, weder könne die Presse als frei, noch das Land weiterhin als Wahldemokratie eingestuft werden.[6]Siehe: Website der Organisation
Die Türkei ist geprägt von fließenden Übergängen von Regierungsparteien zu rechten Milizen, dschihadistischen Paramilitärs und Mafia-Strukturen. Immer wieder kommt es zu Massenverhaftungen gegen die politische Opposition, die Schätzungen zu Folge mehrere zehntausende Menschen betreffen.[7]Siehe u. a. diese Bundestagsanfrage der Linken von 2019 Daneben ist die Liste von Menschenrechtsverstößen in der Türkei scheinbar endlos lang: Folter; Mord in Haft; Bombenanschläge, bei denen eine Verwicklung der Regierung vermutet werden muss; Unterstützung und Aufrüstung des Daesh; Femizide; Unterdrückung von Frauen und LGBTQI*; Niederschlagung von Demonstrationen; Verhaftungen von Journalist*innen und vieles mehr.
Einen traurigen Höhepunkt bildete der bürgerkriegsähnliche Kampf türkischer Truppen gegen kurdische Kräfte 2015, bei dem mehrere kurdische Städte fast vollständig zerstört und tausende Menschen zur Flucht gezwungen wurden.
Die AKP, die Partei des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, regiert aktuell mit der ultra-rechten Partei MHP,[8]Zum politischen Einfluss der MHP auf die Regierung siehe Hintergrund-Artikel des Deutschland-Funks dem politischen Arm der sogenannten „Grauen Wölfe“ – eine Bewegung, die immer wieder politische Anschläge und Morde verübt. Der jüngste Anschlag, der auch in Deutschland Aufsehen erregte, war die Ermordung der HDP-Mitarbeiterin Deniz Poyraz im türkischen Izmir[9]Berichte zum Anschlag finden sich u. a. auf der Plattform ANF Deutschland, er fand während unserer Delegation am 17. Juni statt. – Möge die Erde dir leicht sein, Deniz!
Die Grauen Wölfe sind wiederum auch in Deutschland rege aktiv. Nach Recherchen des ZDF zählt die Bewegung in Deutschland knapp 18.000 Mitglieder, auch Bundeswehrsoldaten sollen darunter sein.[10]Siehe: Bericht der Frankfurter Rundschau vom November 2020 Im Gegensatz zur PKK gilt das Netzwerk in Deutschland weder als Terror-Organisation, noch ist es verboten. Das Hofieren des Autokraten Erdogan beschert uns so den Schutz der größten und wohl auch terroristisch aktivsten ultra-rechten Organisation in Deutschland.
Die Machtbasis des Erdogan-Regimes ist in den letzten Jahren innenpolitisch jedoch erodiert. Einerseits vermochten die Verhaftungen von Zehntausenden nicht, die vielfältigen Oppositionsbewegungen aus radikalen Gewerkschaften, Anarchist*innen, Kommunist*innen, Feminist*innen und Minderheitsverbänden zum Schweigen zu bringen, andererseits stürzte die Wirtschaftspolitik das Land in eine gefährliche Inflation. Umso mehr Erdogan sich in seiner Macht bedroht sah, desto stärker reagierte er mit einem Umbau des Staates hin zur Diktatur, mit Repression, aber auch mit nationalistischer Rhetorik und Angriffskriegen. Vor allem vor diesem Hintergrund und unter Beobachtung der Geschehnisse in Nord-Ost-Syrien, aber auch Bergkarabach sehen viele Kommentator*innen mögliche Expansionspläne der Türkei hin zu einem neo-osmanischen Reich als eine realistische Gefahr. Und genau vor diesem Hintergrund erscheint nicht zuletzt auch eine dauerhafte Besetzung kurdischer Gebiete im Nordirak als grausames und realistisches Szenario.
In der Türkei können die beiden größten links-kurdischen Parteivereinigungen HDP (als legale parlamentarische Partei) und PKK (als revolutionäre und illegale Partei) mit ihren diversen Nebenstrukturen für sich verbuchen, trotz Staatspropaganda und enormer Repression, ein verhältnismäßig geschlossenes Bild abzugeben und in den letzten Jahren dabei nicht nur einen großen Teil der kurdisch-stämmigen, aber auch der sonstigen sozialistisch-parlamentarischen Linken in Bündnissen vereinen zu können. Ungeachtet dessen ist die autoritäre sozialistische Linke der Türkei historisch von ethnischen Spaltungen, Flügelkämpfen, geheimdienstlicher Infiltration und entsprechendem gegenseitigen Misstrauen geprägt, die sich oft genug in Säuberungen, tödlichen Affektsituationen und blutigen Kämpfen entluden. Daraus ergeben sich Traumata, die vielerorts immer noch nachwirken. Dies gilt umso mehr für das Zusammenwirken von antiautoritärer und autoritärer Linken – besonders im Verhältnis von anarchistischen zu PKK-nahen Strukturen. Gegenüber letzteren bleibt für lokale Antiautoritäre immer die Frage bestehen, ob der Paradigmenwechsel von der zentralistischen Kaderpartei wirklich gelungen oder vorrangig PR ist. Das Misstrauen verschärft sich dadurch, dass lange nicht alle Flügel der PKK und ihrer Abspaltungen bereit sind diesen neuen Kurs mitzutragen und dass andererseits die enorme Verfolgung durch den türkischen Staat der Transparenz und Basisdemokratie enge Grenzen setzt.
Das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur Türkei gründet auf einer langen, unheilvollen Geschichte von Kooperationen, wie beispielsweise dem gemeinsamen Kampf der Vorgängerstaaten im Ersten Weltkrieg und die Kooperation der Türkei mit dem NS-Staat im Zweiten Weltkrieg. Bei der deutschen Vertretung in der Türkei werden die heutigen deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen als „geprägt von einer bereits seit dem 19. Jahrhundert existierenden Freundschaft und Tradition, die sich im Laufe der Jahre noch weiter verstärkt und intensiviert haben“ charakterisiert.[11]Quelle: https://tuerkei.diplo.de/tr-de/themen/wirtschaft/-/1673720 Die selbe Stelle nennt Deutschland zugleich als den wichtigsten Wirtschaftspartner der Autokratie Türkei. Deutschland ist eine der größten Importeure türkischer Waren, gleichzeitig einer der größten Exporteure in die Türkei. Mehrere tausend deutsche Unternehmen sind in der Türkei aktiv, u. a. große Player wie VW, Mercedes, Hugo Boss, Bosch und Siemens. Gleichzeitig sind weit über 1000 Firmen mit über einer halben Million Arbeiter*innen in Deutschland türkisch-stämmig geführt (wobei unter diese Zahlen sicher auch viele türkische Kurd*innen fallen). Entsprechend groß sind die bilateralen Investitionsvolumen der Unternehmen in den jeweiligen Ländern.[12]Die Informationen in diesem Absatz stammen im Wesentlichen von „Deutschland.de“ aus dem Jahr 2019. Auch im für die Türkei äußerst wichtigen Tourismus (der über 10% des BiP ausmacht) übernehmen deutsche Tourist*innen eine wichtige Rolle: Ihr Besuchsanteil wurde für das Jahr 2019 auf 11,2% geschätzt. Neben diesen wirtschaftlichen Abhängigkeiten kamen für die SPD-CDU-Bundesregierung seit 2015 durch den Aufstieg der AfD und im Zuge ihrer Anti-Geflüchteten-Rethorik auch innenpolitische Interessen hinzu. 2016 schloss die EU den als „EU-Türkei-Deal“ bekannten Vertrag, der die Türkei zum offiziellen Kettenhund europäischer Grenzpolitik gegen die Massen der Verfolgten und Verzweifelten machte. Seit der Unterzeichnung des Vertrages verging kaum ein Monat, in dem die Führung der Türkei den Vertrag nicht in erpresserischer Weise gegen jede Kritik an ihrer Innen- und Außenpolitik ins Spiel gebracht hätte.
Schließlich ist da noch die geopolitische Situation. Die Türkei ist, ebenso wie Deutschland, Mitglied der NATO und unterhält aktuell die zweitstärkste Armee innerhalb des Militärbündnisses. Immer wieder gerät die autokratische Türkei jedoch in Interessenkonflikte mit anderen NATO-Partner*innen, bspw. um Ölvorkommen nahe Zypern mit Griechenland oder im Kampf gegen den Daesh bzw. in der Unterstützung des Daesh im Syrienkrieg. Da ein Schwerpunkt der europäischen NATO-Partner*innen (insbesondere der osteuropäischen) auf der Begrenzung der russischen Einflusssphäre liegt, macht sich die Erdogan-Autokratie seit mehreren Jahren auch hier die möglichen Druckpunkte zu Nutze und signalisiert immer wieder ein gutes Verhältnis, bis hin zur Aussicht auf einen Seitenwechsel mit dem inoffiziellen NATO-Feind Russland. Kristallisationspunkt dieser außenpolitischen Strategie bildete u. a. die Anschaffung des russischen Raketenabwehrsystems „S-400“ durch die Türkei im Jahre 2017 (Auslieferung 2019 und 2020).
Aus der Summe dieser Betrachtung wird deutlich, wie massiv die Verstrickungen der Bundesrepublik Deutschland mit der autokratisch geführten Türkei sind und gegen welche enormen wirtschaftlichen, militärischen und innenpolitischen Interessen humanistische Politik zur Schwächung der türkischen Autokratie in Deutschland durchgesetzt werden muss. Gleichzeitig macht die enorme Rolle Deutschlands bei der Aufrechterhaltung der unfreien Zustände in der Türkei und den türkischen besetzten Gebieten auch die besondere Verantwortung einer radikalen und sich als internationalistisch verstehenden Linken in Deutschland klar.
In der Türkei unterhalten wir als Gewerkschaftsbewegung Kontakte zur anarchosyndikalistisch orientierten Gewerkschaftsorganisation Genç İşçi Derneği (zu deutsch etwa „Bewegung der jungen Arbeiter*innen). Die Bewegung organisiert sich v. a. entlang der prekärer werdenden Arbeitsverhältnisse innerhalb der kriselnden Türkei und spricht damit immer mehr Menschen an.
4. Der Gesamt-Irak
Kommen wir schließlich zum Irak selbst. Geprägt ist der Irak von der Herrschaft Saddam Husseins, den anschließenden Kriegen und ethnischen und religiösen Spaltungslinien innerhalb des Landes.
Im Norden des Landes leben v. a. Kurd*innen, meist sunnitischer Glaubensrichtung (15–20% der irakischen Gesamtbevölkerung), dort befinden sich ebenfalls die wichtigsten Niederlassungen von Assyrer*innen (meist christlichen Glaubens), Aramäer*innen (ebenfalls meist Christ*innen) und der Êzîd*innen (meist êzîdischen Glaubens). Eine weitere, bedeutende Bevölkerungsgruppe bilden die Turkoman*innen, die verschiedene Dialekte der Turksprachen sprechen (etwa zur Hälfte schiitischer und sunnitischer Glaubensrichtung). Die Mehrheit der Bevölkerung stellen Araber*innen, wobei die nordwestlichen Siedlungsgebiet wie die der Kurd*innen meist sunnitisch geprägt sind, jene im Südosten und Bagdad dagegen meist schiitisch dominiert sind.
Der Diktator Hussein war 1979 an die Macht gekommen und verfolgte insbesondere die linke Opposition mit Massenverhaftungen und -hinrichtungen. Auch die Kurd*innen, Schiit*innen und andere Minderheiten waren immer wieder Opfer von Verfolgungen, Unterdrückung und Völkermord.[13]Den bekanntesten Komplex bildet dabei wohl die sogenannte „Anfal-Operation“, der nach unterschiedlichen Schätzungen 100.000 bis 180.000 Kurd*innen zum Opfer fielen. Eine weitere Zäsur stellte die Niederschlagung des Schiitenaufstandes 1991 dar, der Schätzungen zu Folge 60.000 bis 100.000 zum Opfer fielen. Hussein selbst verhalf v. a. sunnitischen Araber*innen zu Einfluss in Wirtschaft und Politik und hielt insbesondere den kurdischen Norden Landes in wirtschaftlicher Abhängigkeit zum Rest-Irak.
Nach dem Sturz Saddam Husseins durch die US-geführte Koalition 2003 versank das Land im Bürgerkrieg, wobei die vorher privilegierten sunnitischen Schichten erheblich an Einfluss verloren. Das machte den Irak zu einem strategisch wichtigen Rekrutierungsgebiet für den sunnitisch geprägten Daesh, der ab 2014 mit der Besetzung weiter Landesteile, u. a. der Stadt Mossul begann. Die Präsenz des Daesh bis zu seiner weitgehenden Vernichtung im Irak 2017 ist auch heute noch prägend. Hunderttausende Menschen wurden zur Flucht gezwungen, zehntausender Frauen wurden vergewaltigt, als Sexsklav*innen verschleppt oder zwangsverheiratet. Tausende wurden hingerichtet oder fielen in den Gefechten. Der größte Hass des Daesh galt dabei den christlichen und êzîdischen Minderheiten. Bei den Kämpfen gegen den Daesh waren im Norden verschiedenste kurdische Milizen, im Rest des Landes v. a. schiitische und oft vom Iran unterstützte Milizen maßgebend. Viele dieser Einheiten und Milizen bilden auch heute noch das Grundgerüst militärischer Selbstverteidigung der einzelnen Landesteile und der verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen.
Wie auch in anderen Ländern der Region werden bewaffnete Auseinandersetzungen und Spannungen innerhalb des Irak von anderen Regionalmächten für die Ausweitung der eigenen Handlungsspielräume benutzt. So unterstützt der Iran im Irak schiitische Milizen, Saudi Arabien sunnitische. Die Türkei wiederum versucht erheblichen Einfluss auf die Autonome Region Kurdistan zu nehmen. Dazu später mehr. Mit dem Iran ist der Irak wirtschaftlich im höchsten Maße verbunden, was gleichzeitig zu dauerhaften Spannungen mit den immer noch stark präsenten USA führt.
Die gesamte Wirtschaft des Irak ist stark auf den Erdölexport fokussiert. Weitere wirtschaftliche Standbeine wurden nie wirklich etabliert, auch wenn die Landwirtschaft für die Arbeiter*innen eine weitere wichtige Arbeitsmöglichkeit darstellt. Schätzungen zu Folge lebt knapp ein Viertel der Iraker*innen unterhalb der Armutsgrenze und das Land ist stark verschuldet.
In den letzten Jahren entwickelten sich im Irak teils massenhafte soziale Bewegungen, die sich gegen Armut, Korruption und die Einflussnahme durch Großmächte (v. a. Iran und USA) wendeten. Einen bisherigen Höhepunkt stellte dabei die Protestwelle zum Jahreswechsel 2019/2020 dar. Das Regierungsregime und die Repressionsorgane reagieren auf Proteste und Organisationsversuche regelmäßig mit Verhaftungswellen, Inhaftierung und Folter, was bis jetzt größere Organisationsbestrebungen außerhalb von Milizen zu behindern scheint. Bis jetzt konnten die internationalen anarchosyndikalistischen Bewegungen keine dauerhaften Kontakte zur Arbeiter*innenbewegung des Iraks aufbauen.
5. Die Autonome Region Kurdistan
Die Autonome Region Kurdistan im Norden des Irak geht auf eine lange Geschichte kurdischer Unabhängigkeitskämpfe zurück und ist seit 1992 ein Defacto-Regime. Die Autonomie erstreckt sich heute auf eine eigene Regierung, eigene In- und Export-Bestimmungen, eigene Streitkräfte[14]Die Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistan dürfen im Rest-Irak agieren, irakische Soldat*innen brauchen dagegen eine Genehmigung der Autonomen Region, um ihr Territorium zu betreten., eigene Außenpolitik und vieles mehr.
Bereits nach dem Ersten Weltkrieg und damit dem endgültigen Zerfall des osmanischen Reichs sollte im Gebiet laut internationalen Verträgen ein größerer kurdischer Staat entstehen, jedoch schlug die britische Kolonialverwaltung das Territorium aufgrund seiner Ölvorkommen dem neu gebildeten Königreich Irak zu. Schon ab 1919 kam es deshalb zu Aufständen und deren militärischer Niederschlagung durch die Militärführung Großbritanniens. Zu weiteren Aufständen kam es in den 30er und 40er Jahren, in denen der Stamm Barzani, der heute noch die Staatselite stellt, mit Hilfe der Sowjetunion eine Führungsrolle in der kurdischen Bewegung des Nordiraks gewann. In diesen Zeitraum fiel auch die kurzzeitige Gründung der Volksrepublik Kurdistan im Iran (Januar bis Dezember 1946), bei der die Stammeskrieger des Barzani-Clans ebenfalls erheblichen Einfluss hatten. Die 60er Jahre waren wiederum unter maßgeblicher Führung des Barzani-Clans und unter politischer Sympathiebekundung der Sowjetunion von militärischen Auseinandersetzungen mit der Zentralregierung geprägt und endeten in einer Phase erster Anerkennung der Teilautonomie und Verhandlungen. Mitte der 70er flammten weitere militärische Auseinandersetzungen auf, wobei der Barzani-Stamm, wie schon in den 60ern, durch den Iran finanziell und militärisch unterstützt wurde. Als diese Unterstützung 1975 durch ein Abkommen zwischen Iran und Irak unvermittelt endete, fiel der Aufstand in sich zusammen und die kurdische Bevölkerung erlebte über Jahre Repressionswellen bis hin zum Völkermord und einen völligen Verlust der bis dahin erreichten Autonomie-Rechte.
Im Zuge des zweiten Golfkriegs kam es 1991 zu Aufständen von Schiiten und Kurden gegen Hussein. Im Zuge dessen konnte erstmals eine dauerhafte und umfassende Autonomie durchgesetzt werden. 1994 kam zu einem innerkurdischen Bürgerkrieg zwischen der Barzani-geführten PdK (Demokratische Partei Kurdistans, Partiya Demokrata Kurdistanê, in Deutschland auch mit KDP abgekürzt) und der ähnlich starken YNK (Patriotische Union Kurdistans, Yekêtiy Nîştimaniy Kurdistan, in Deutschland auch PUK abgekürzt). Die YNK hatte sich in den 70ern als sozialistische Abspaltung der PdK gebildet. Der anfangs marxistische Kurs wurde in der Folge aber zu Gunsten ethnischer Identität verschoben. Das Programm der YNK wird heute oft mit der westlichen Sozialdemokratie verglichen. Der Bürgerkrieg endete in einer Aufteilung der Autonomen Region Kurdistan in das PdK-dominierte Verwaltungsgebiet Erbil und das YNK-dominierte Verwaltungsgebiet Sulaimaniyya. Heute sind beide Verwaltungsgebiete zwar wieder einheitlich regiert, doch die Parteidominanz und die unterschiedlichen Loyalitäten innerhalb einzelner Einheiten der Streitkräfte (Peschmerga) ist geblieben.
Ebenfalls in den 90ern begannen erste Einätze der Türkei gegen PKK-Kräfte auf irakischen Terrain, welche sich mit Interventionen ab 2007 wieder intensivierten. Das Kandil-Gebirge im Norden der Autonomen Region dient der PKK spätestens ab diesem Zeitpunkt als Rückzugsort mit großer strategischer Bedeutung, da es stark unzugänglich ist und an die Türkei, Syrien und den Iran grenzt und der Bewegung somit eine große Bewegungsfreiheit ermöglicht. Daneben wirkte die PKK in ihren Organisationsbemühungen im Irak zu dieser Zeit nicht sonderlich ambitioniert, es ging augenscheinlich v. a. um die Gewinnung von Rückzugsräumen unter Duldung der herrschenden Kräfte in der Autonomen Region. Zwar gibt oder gab es seit 2002 die als PKK-Schwesternpartei gelesene PÇDK (Partei für eine politische Lösung in Kurdistan, Partiya Çareseriya Demokratik a Kurdistanê), diese konnte jedoch nie auch nur lokal bedeutende Wahlergebnisse einfahren, diente vmtl. in ihrer Gründungszeit v. a. der legalen Operation vor Ort und ist scheinbar heute überhaupt nicht mehr aktiv.
2009 tauchte im Zwei-Parteien-System der Autonomen Region Kurdistan eine weitere nennenswerte Partei auf, die sich gegen Korruption, das Machtmonopol von PdK und YNK und die schlechte wirtschaftliche Lage breiter Bevölkerungsteile wandte: die sogenannte Gorran-Bewegung (Bewegung für Wandel). Die Partei erfuhr harte Repression und Einschüchterung und war immer wieder in sozialen und politischen Protestwellen in der Autonomen Region Kurdistan aktiv. Mittlerweile schließt sie die parlamentarische Zusammenarbeit mit der YNK nicht mehr aus.
Als der Daesh 2014 in den Irak eindrang, waren, wie bereits oben erwähnt, v. a. Angehörige êzîdischer und christlicher Minderheiten besonders gefährdet, wobei das Hauptsiedlungsgebiet der Êzîd*innen um das Çiyayê Şingal (deutsch meist Sindschar-Gebirge) besonders exponiert war. Zur Verteidigung hatte die Autonome Region Kurdistan massive Streitkräfte der Peschmerga in der Region zusammengezogen. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass die Autonome Region Kurdistan in dieser Zeit die Desorganisation der irakischen Armee erfolgreich für Gebietserweiterungen nutzte. Die Êzîd*innen selbst werden von der patriotisch-kurdischen Kräften (auch innerhalb der kommunalistischen Bewegung) meist als Kurd*innen gelabelt, lehnen diese Bezeichnung zu größeren Teilen aber für sich selbst ab und verweisen auf eine lange Geschichte von Verfolgung und Unterdrückung auch durch Kurd*innen. Verschiedene politische Kräfte der êzîdischen Gemeinschaft hatten sich daher schon in der Vergangenheit für die Bildung eigener Selbstverteidigungsstrukturen eingesetzt, konnten diese jedoch nicht durchsetzen.
Als der Daesh am 3. August 2014 schließlich in die êzîdischen Gebiete einmarschierte, waren die Peschmerga der Autonomen Region Kurdistan kurz zuvor kampflos abgezogenen und hatten hunderttausende unbewaffnete Zivilist*innen ihrem Schicksal überlassen. Der Daesh rückte vor und verübte reihenweise Massaker und Massenvergewaltigungen an der Zivilbevölkerung. Alle Êzîd*innen, die konnten, zogen sich in die Berge zurück und wurden dort von Daesh-Truppen eingeschlossen. Begleitet von der US-Luftunterstützung kämpften YPG und YPJ-Milizen aus Nord-Ost-Syrien und die Milizen der PKK, die HPG und die Fraueneinheiten YJA STAR aus der Türkei schließlich einen Fluchtkorridor frei und retteten so tausenden Eingeschlossenen das Leben.[15]Siehe: Bericht der Deutschen Welle von 2019 Die Berichterstattung in Deutschland war dagegen von Desinformation geprägt und schrieb die Rettungsaktion den Peschmerga-Einheiten zu, die die Bevölkerung im Stich gelassen hatte. Die Bundesrepublik förderte besagte Truppen dann auch auf Grundlage dieser Erzählung mit Ausbildung und Waffen.[16]Siehe: Bericht der Süddeutschen Zeitung von 2014
In der eigentlich patriarchal-konservativ und kurden-skeptisch geprägten êzîdischen Gesellschaft hatten diese Ereignisse einen großen Einfluss. Einerseits verschärften sie die Skepsis weiter Bevölkerungsteile gegen die Autonome Region Kurdistan und v. a. gegen die Regierungspartei PdK, die bis heute nicht müde wird, zu behaupten der Schutz der Êzîd*innen sei im Wesentlichen von Peschmerga und nicht etwa von PKK-nahen Kräften organisiert worden. Andererseits setzten die YPG/YPJ-Milizen und andere kommunalistische Kämpfer*innen in der Region schnell auf Hilfe zur Selbsthilfe und bildeten êzîdische Selbstverteidigungseinheiten nach dem revolutionären Vorbild in Nord-Ost-Syrien aus, die YBŞ (Yekîneyên Berxwedana Şingal, Widerstandseinheiten Schingal). Diese Einheiten verfügten ebenfalls über Frauenorganisationen. Auch kommunale Selbstverwaltungsstrukturen wurden nach nord-ost-syrischem Vorbild errichtet. Diese Entwicklungen führten nicht nur zu einem neuen Selbstbewusstsein vieler Êzîd*innen, sondern in Verbindung mit der großen êzîdischen Diaspora in Deutschland und der Community in Armenien auch zu Debatten über Geschlechterverhältnisse und Gesellschaftsordnungen. V. a. begründete diese Notgemeinschaft zwischen Êzîd*innen und der kommunalistischen Bewegung eine Freundschaft, die heute noch spürbar besteht und die die kommunalistische Bewegung als multiethnisches Projekt authentischer und die êzîdische Community für linke Bewegungen offener gemacht hat. Gleichwohl ist das Êzîd*innentum immer noch stark von tradierten Macht- und Clan-Konstellationen und teilweise stark frauenverachtenden Vorstellungen und Sitten geprägt, was auf die kurdische Bevölkerung allerorten jedoch genauso zutrifft.
Seit 2015 kommt es in der Autonomen Region Kurdistan verstärkt zu Demonstrationen und Streiks, die sich v. a. einerseits gegen die Vetternwirtschaft, andererseits gegen die schlechten Arbeitsbedingungen, bspw. auch ausstehende Löhne von Soldat*innen und Staatsangestellten richten. Adressat der Kritik ist meist die PdK, oft auch die YNK. Immer wieder wurden die Proteste brutal mit Waffengewalt niedergeschlagen, häufig kam es zu Toten.
Die Wirtschaft der autonomen Region Kurdistans ist heute komplett auf den Erdölexport, v. a. in die Türkei ausgerichtet, andere Wirtschaftszweige sind unterentwickelt. 2015 waren 70 % der Beschäftigten Staatsangestellte. Das zweite wirtschaftliche Standbein des Landes blieb zwar die Landwirtschaft, jedoch sank der Anteil von Beschäftigten in diesem Sektor von 45 % im Jahr 2000 auf 9 % im Jahr 2009. Dieser Trend dürfte sich fortgesetzt haben. Bedingt durch die relativ stabile wirtschaftliche Lage und eine relativ westliche Ausrichtung, hat die Region das Interesse internationaler Investor*innen auf sich gezogen. Was v. a. zu einem extremen Bauboom und einer bis jetzt noch intakten Immobilienblase geführt hat. Im Zuge dessen sind die Miet- und Grundstückspreise bspw. in der Hauptstadt Erbil explodiert, die Schere zwischen arm und reich vergrößert sich und Stunden des Arbeitstages sind für tausende Arbeiter*innen mit dem Stau auf der Fahrt in die Städte verbunden, in denen sie sich keine Wohnung mehr leisten können. Verschärft wird die Lage von einem riesigen informellen Arbeitssektor, getragen durch hunderttausende Geflüchtete in verschiedensten Lagern der gesamten Autonomen Region.
Nachdem die türkische Regierung 2015 von einem Kurs relativer Verständigung mit der PKK wieder auf einen offenen Bürgerkrieg umschwenkte, intensivierte sie neben den Kämpfen in der Türkei und den Angriffskriegen in Nord-Ost-Syrien auch ihre Militärschläge in den êzîdischen Gebieten und im Kandil-Gebirge. Schon seit Jahrzehnten baut der türkische Staat seine dauerhafte militärische Präsenz aus. Indes widersprach selbst der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages 2021, dass sich die Militärpräsenz nebst der kriegerischen Aktionen mit den Sicherheitsanliegen der Türkei begründen ließen.[17]Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages stellt die militärischen Operation der Türkei in Syrien und Irak in Frage, Tagesspiegel 2021 Auch mit Hinblick auf Maßnahmen der Vertreibung und des Bevölkerungsaustausches, wie sie nach der militärischen Operation im nord-syrischen Afrin durchgeführt wurden[18]Bericht über Menschenrechtsverbrechen in Afrin vom Tagesspiegel 2021 und Tagesspiegel 2020, fürchten nun viele Beobachter*innen eine ähnliche Taktik im Nordirak.
Die Türkei selbst gab in diesem Jahr die Existenz von 37 türkischen Militärbasen im Nordirak zu. (Bericht des österreichischen Standard 2021.) Mit zwei militärischen Operationen startete sie am 24. April 2021 – und damit sicherlich nicht zufällig zum Jahrestag des Genozids an den Armenier*innen – eine neue Großoffensive auf den Nordirak. Teil der Offensive ist das Anlegen neuer Straßen und die großflächige Abholzung geschützter Wälder in den Kandilbergen. Letztere Maßnahme ist einerseits für den Drohnenkrieg von Bedeutung, andererseits angesichts der aktuellen Holzpreise ein lukrativer Raubzug. Gleichzeitig einigten sich, auch unter Druck der USA und der Türkei, die irakische Zentralregierung und die Regierung der Autonomen Region Kurdistan im Herbst 2020 auf eine Entwaffnung êzîdischer Milizen und einen Abbau der êzîdischen Selbstverwaltungsstrukturen. Dazu berichtete u.a. Êzîdi-Press.
Im Nordirak haben wir es also mit einer disfunktionalen Ölwirtschaft bei starker Verstaatlichung der Unternehmen zu tun. Die Region wird politisch repressiv und oligarchisch durch den Barzani-Stamm geführt. Dieser hat einerseits viele Mitglieder, Anhänger*innen und Nutznießer*innen, genießt andererseits aufgrund der langen Geschichte des Barzani-Stamms im Kampf um die kurdische Unabhängigkeit eine breite, verklärte Sympathie. Die Regierung unter Dominanz der clannahen, konservativ-nationalistischen Partei PdK ist wirtschaftlich abhängig von der Türkei. Weder sieht sie sich militärisch noch wirtschaftlich in der Lage, dieser etwas entgegen zu setzen. Aufgrund der politischen Konkurrenzsituation und ideologischen Differenzen, aber auch aufgrund der eigenen Ohnmacht schiebt sie daher die Schuld an der türkischen Invasion der PKK zu. Diese würde mit ihrer Anwesenheit die türkische Invasion erst ermöglichen.[19]Ein umfassender Bericht, der sich weitgehend mit der Einschätzung der FAU-Delegation vor Ort deckt, wurde 2021 im Standard publiziert. Der Autor Thomas Schmidunger schrieb u. a. mehrere Werke über die kurdische Bewegung.
Die USA sind langjähriger Bündnispartner des Barzani-Clans und schätzen die PdK-Regierung u. a. wegen ihrer prokapitalistischen, westlichen Investor*innen offen stehenden Politik. In der Vergangenheit mehrten sich die Hinweise, dass sich die USA in Syrien ähnliche Bündnispartner*innen unter den Kurd*innen wünschen würden, entsprechend offen ist die US-Führung gegenüber dem Kampf gegen die PKK im Irak, zumal hier Verhandlungsmasse im konfliktgeladenen Verhältnis mit der Türkei liegt.
Die Türkei macht sich die Angst der NATO vor einer Annäherung an Russland oder eine Auflösung des „Flüchtlings-Deals“ zu nutze und betreibt unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung ungehindert die Erweiterung ihrer Machtsphäre voran in den strategisch – und in Bezug auf Öl auch wirtschaftlich – wichtigen Gebieten Syriens und des Iraks. Ob es dabei langfristig um eine Einverleibung des Staatsgebietes wie in Afrin oder „nur“ um militärische Kontrolle und wirtschaftliche Ausbeutung geht, bleibt offen. Gleichzeitig zerstört die Türkei damit die neuralgischsten Rückzugsgebiete und Versorgungswege der PKK und ihrer befreundeten kommunalistischen Bewegungen in Irak, Iran und Syrien.
Die kommunalistischen, PKK-nahen Bewegungen haben in der Vergangenheit eine größere Einflussnahme unterbunden, einerseits um ihre eigenen Rückzugsgebiete nicht zu gefährden, andererseits haben sie es in den Hauptstädten mit einer entfremdeten, konsumorientierten Bevölkerung zu tun, die für die kommunalistischen Ideale weit schwerer zu gewinnen scheint. Kann die Bewegung dies andernorts gut kompensieren, indem sie die ethnisch-identitär-patriotischen Momente der Bewegung stärker in den Vordergrund rückt, besitzt sie damit in der Autonomen Region Kurdistan keinerlei Alleinstellungsmerkmal. Durch die Revolution in Nord-Ost-Syrien, die Notwendigkeit diese Region trotz Embargo zu versorgen und die Gewinnung der êzîdischen Community als Bündnispartner*innen haben sich für die PKK und ihre befreundeten kommunalistischen Bewegungen die Verhältnisse vor Ort verändert. Es besteht nun ein starkes Interesse, den militärischen und politischen Offensiven der Türkei eine politische Bewegung im Irak und einen internationalen Aufschrei entgegen zu setzen. Umso mehr, da die Türkei in den vergangenen Jahren ihre militärische Luft- und Bodenmacht durch neueste Panzer- und Drohnentechnik in einem Maß ausgebaut hat, dass ein langfristiger Guerillia-Kampf in keiner Form mehr realistisch erscheinen wird.
Im nächsten Teil
Im nächsten Teil der Reportage berichte ich über die Friedens-Delegationsreise in den Irak im Juni 2021 aus Sicht der FAU-Beteiligten. Im dritten Teil geht es um daraus folgende Überlegungen und Blickwinkel zu internationalistischen Strategien anarchosyndikalistischer Bewegungen.
2 Kommentare zu «Syrien, Iran, Türkei, Irak – eine Lagebeschreibung»