Ein typischer Sonnentag in der Kölner Schildergasse, die Menschen drängen sich hektisch durch die Fußgängermeile, um ihre Gelüste nach Konsum, Ausdauershopping, Sightseeing etc. zu stillen. Bei durchschnittlichen 30°C verwandelt sich der Kölner Kern in einen kochenden Strom aus zahlreichen, geistesabsenten Menschen, die scheuklappenartig aneinander vorbeirennen, ohne sich dabei auch nur einmal gegenseitig anzusehen. Hier und da einmal ein Rempler, mehr Interaktion ist kaum erkennbar. Ein ganz großes Durcheinander, ein Nebeneinander – ein Miteinander ist hier kaum möglich. Vereinzelt versuchen Menschen in Straßencafés, sich von den Anstrengungen des harten Konsumalltags zu erholen. Diese Cafés muten wie kleine Rettungsinseln an, die aus dem Strom der Menschenmassen emporragen und eben jenen das Gefühl vermitteln, wenigstens temporär den Fluten entkommen zu sein, ein Käffchen oder ein Kölsch trinken zu können, um danach dann doch wieder in den Massen zu ertrinken.
Nä, nä, Marie, es dat hee schön!
Aus der Ferne sind vereinzelte Töne zu hören, irgendjemand stimmt ein Saxophon, dann auch eine Posaune. Das basslastige Wummern eines Schlagzeuges ist zu vernehmen. Für kurze Zeit ist die Neugierde einiger Menschen geweckt. Sie lösen sich aus der Masse und folgen den Klängen. Ihre Neugierde wird belohnt, denn was sie nun sehen, ist nicht alltäglich. Vor ihnen baut sich gerade ein bunter, gutgelaunter Haufen StraßenmusikerInnen auf. In kürzester Zeit formt sich eine Art mobiles Straßenorchester mit Bläsersektion und einem Meer aus Gitarren, Akkordeons, Klarinetten, Bässen, Melodicas, Koffercellos und vielem mehr. Rund 40 MusikerInnen sind nun zu allem entschlossen und wenig später fetzen sie los. „Hier kaufst du ein“, schallt es durch die Schildergasse. Dieses alte Straßenmusikstück gesungen auf der Melodie des jiddischen Klassikers „Bei mir bist du schön“ wäre nirgendwo besser aufgehoben als hier. „Weil hier in dieser Stadt nur der ’ne Chance hat, wer funktioniert und konsumiert“, besagt der Text weiter.
Nach dem Lied ein schallender Applaus, ob der Inhalt des Liedes oder das exklusive Ambiente dafür ausschlaggebend war, bleibt offen. Wenig später findet sich das Straßenorchester verteilt in der ganzen Gasse wieder. Zahlreiche Straßenmusikprojekte, StraßensängerInnen und MusikerInnen bevölkern nun die ganze Schildergasse. Die Rotzfreche Asphalt Kultur ist in der Stadt!
Rotzfreche Asphaltkultur
Bei der Rotzfrechen Asphaltkultur (RAK) handelt es sich um einen losen bundesweiten Zusammenschluss linker Straßen- und KleinkünstlerInnen (RAKis), der sich Ende der 70er Jahren im Schatten der neuen sozialen Bewegungen gründete. Über Jahrzehnte wurden in regelmäßigen Abständen Treffen und gemeinsame Aktionen organisiert, die dem gegenseitigem Austausch, aber auch der praxisbezogenen Umsetzung politischer Kultur dienten. Eine große Besonderheit war immer die Offenheit. Neben dem politischen Lied, waren in der RAK auch Akrobaten, Kabarettisten, Zauberer, Clowns, Jongleure und viele weitere KünstlerInnen vertreten, deren politisches Wirken oftmals nur aus dem Kontext heraus verstanden wurde. Doch auch das war stets in Ordnung, wie etwa eine Jonglagekeule als Polizeihubschrauber über Brokdorf, deren Jonglagefehler dann gleich eine unfreiwillige Komik bekam.
Die RAK war schon immer der Schmelztiegel aller aktiven Gruppen und somit veränderte sie sich von Treffen zu Treffen. 2009 gab es nach längerer Pause ein großes Revival-Treffen in Braunschweig, auf dem sich die KünstlerInnen aus den verschiedenen RAK-Jahrzehnten trafen, aber auch zahlreiche neue KünstlerInnen eingeladen wurden. Man beschloss, die RAK wiederzubeleben. Es folgte im Sommer 2010 ein RAK-Treffen in Kiel (siehe „30 Jahre Asphaltkultur“, DA #200). Gemeinsam suchte man hier nach Ideen, wie man sich eine Rotzfreche Asphaltkultur im Jahre 2010 vorstellen könnte. Was ist die RAK heute? Wo will man hin? Noch während des Treffens zeichnete sich ab, dass ein nächstes Treffen deutlich länger sein müsste, um einen adäquaten Austausch gewährleisten zu können und das jetzige Treffen Köln 2011 wurde vereinbart.
RAK-Treffen Köln 2011
Dieses Jahr fand das RAK-Treffen vom 01. bis zum 05. Juni im kürzlich erkämpften AZ Kalk in Köln Kalk statt – einem bundesweit einmaligen soziokulturellen Projekt. Das ehemalige Fabrikgelände wurde 2010 besetzt und zu einem Freiraum für zahlreiche Kunst- und Kulturprojekte, Politgruppen, eine Fahrradwerkstatt und vieles mehr umgestaltet und bietet nicht nur für das Kölner Umland eine nette Alternative zum gesellschaftlichen Alltagswahn. Das Gebäude verfügt über viele Räume und damit über sehr viel Potenzial für soziokulturelle Organisation, es gibt einen kleinen Kinderspielplatz und zahlreiche Möglichkeiten für Streetart und Graffiti, zwei große Säle, die zum Konzertsaal umfunktioniert werden können, einen Konferenzsaal mit Parkettboden, eine ehemalige Kantine, die als Volxküche benutzt wird. Theatergruppen proben und veranstalten ihr Programm dort und es gibt ein großes Außengelände mit Garten und Wagenstellplätzen. Das einzige Manko derzeit ist, dass es noch kein fließendes Wasser gibt und alle BenutzerInnen deswegen auf die Hilfe der Nachbarschaft angewiesen sind. Zum Glück setzt das AZ auf Stadtteil- und Nachbarschaftsarbeit und trifft in der Nachbarschaft auf sehr viele offene Türen. In der Vorbereitungsphase zum RAK-Treffen 2011 sah sich das AZ mit zahlreichen Angriffen seitens der Politik und der Medien konfrontiert, doch nicht zuletzt die gute Stadtteilarbeit in Kalk sorgte dafür, dass mit großer gesellschaftlicher Akzeptanz ein Interimsvertrag erkämpft wurde.
Das AZ als Location für ein RAK-Treffen brachte den einzigartigen Vorteil mit sich, dass alle KünstlerInnen und zahlreiche Gäste zentral untergebracht werden konnten, die täglichen Anfahrtswege für Straßenaktionen oder die Unterbringung von später eintreffenden RAKis wurden gut koordiniert. Die Künstler blieben somit handlungsfähig und spontan. Die zentrale Lage Kölns sorgte dafür, dass Gruppen aus dem gesamten Bundesgebiet anreisen konnten und so nahmen deutlich mehr Gruppen teil als noch im Vorjahr in Kiel. Zudem zählte Köln mit „Klaus der Geiger“ und den Kölnern Stadtmusikanten in den 80ern zu einer Hochburg der Straßenmusik im Lande und da durfte „Klaus der Geiger“ natürlich nicht fehlen. Neben dem Urgestein waren jedoch auch einige jüngere lokale MusikerInnen vor Ort. So zum Beispiel „Buchsbäume und Strauchdiebe“, die Hofkapelle des AZ Kalks, oder „Marlene De in Blau“. Ein großer Teil der RAKis reiste aus Berlin an, so z.B. „Früchte des Zorns“, „Yok“, „Konny“, „die Zaungäste“, „Teds’n Grog“ oder „Philharmonik“. In den letzten Jahren hatte sich die RAK-Szene stark in und um Berlin konzentriert und umso erfreulicher ist es, dass nun Gruppen aus ganz anderen Teilen des Landes hinzukommen oder wieder aktiv werden. Aus Kiel reiste die Straßenmusikgruppe „Schall und Rauch“ an und aus Bremen „Per Definition zur Traumfigur“, aus Leipzig waren „Wonach wir suchen“ gekommen und „Leonhard Flieger“ kam aus Heidelberg. Obwohl sich alle Gruppen irgendwo zwischen politischer Straßenmusik und Kleinkunst, zwischen Liedermachen und Akustikpunk bewegen, könnte der Facettenreichtum innerhalb des Zusammenschlusses kaum größer sein. Manche Künstler machen schon seit Jahren Straßenmusik, andere haben sich von dieser schon seit Jahren ferngehalten. Der Eine oder die Andere spielt gerne elektronisch verstärkt, andere wiederum spielen lieber unplugged. Wieder andere spielen ausschließlich im subkulturellen Milieu, weitere sogar auf Kinderfesten. Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Unterschiede wurde auf dem Treffen viel diskutiert, geredet und geplant.
Gala-Abend
Bei den Treffen der Rotzfrechen Asphaltkultur geht es zwar ursprünglich und hauptsächlich um Wiedersehen, Austausch und Vernetzung der KünstlerInnen, trotzdem hat sich im Laufe der Zeit der sogenannte Gala-Abend etabliert. Gemeinsam organisieren alle teilnehmenden KünstlerInnen ein mehrstündiges Programm mit Festivalcharakter und finanzieren dadurch das jeweilige Treffen. Überschüsse gehen meistens an ausgewählte politische Projekte, die Unterstützung benötigen. Dieses Jahr wurden alle Erwartungen übertroffen, schon nach einer Stunde musste der Einlass wegen Überfüllung zeitweise geschlossen werden. Einige Gäste waren wie auch schon im letzten Jahr eigens aus Österreich angereist, um bei dem Gala-Abend dabei zu sein. Nach einer kurzen Zeit schafften es die Gastgeber der unerwarteten Situation Herr zu werden und alle wartenden Gäste konnten nun auf das Gelände gelassen werden. Trotz der hohen Besucheranzahl war die Atmosphäre angenehm und friedlich und selbst nach einem über sechsstündigem Programm war das Publikum auch bei leiseren Acts noch sehr aufmerksam und fair den Künstlern gegenüber. Nachdem das Bühnenprogramm mit einem großen Gemeinschaftsauftritt endete, kam es noch zu diversen spontanen Einlagen auf dem gesamten Gelände. Bis spät in die Nacht erklangen von allen Ecken und Enden des Geländes Musikinstrumente zu den zwischenzeitlich entfachten Feuertonnen und vermittelten somit ein besonderes Feeling von Lagerfeuerromantik.
Am nächsten Tag war das diesjährige Treffen auch schon wieder fast vorbei, einige KünstlerInnen hatten über zehn Stunden Zugfahrt vor sich und mussten deshalb schon morgens aufbrechen. Bevor sich die KünstlerInnen in alle Winde zerstreuten, wurde jedoch ein neues Treffen für nächstes Jahr vereinbart. Vielleicht in Halle, vielleicht in Leipzig. Außerdem soll es ein Arbeitstreffen geben, u.a. mit einem Workshop zum Thema „Politische Kunst und Geld – Zwischen Solikonzert und leben können“, denn für viele KünstlerInnen stellt ihr Schaffen auch einen existenziellen Teil zur Versorgung ihrer Grundbedürfnisse dar. Die Überschüsse dieses RAK-Treffens gehen übrigens direkt an das AZ Kalk, es wird in der nächsten Zeit auf tatkräftigen Unterstützung angewiesen sein, um vielleicht in zehn Jahren wieder einmal Gastgeber für die Rotzfreche Asphaltkultur zu sein. – Das AZ bleibt, die Rotzfreche Asphaltkultur lebt!