„Ich bin total überwältigt“, strahlt Emmely noch immer nach Worten ringend. Sie habe immer an Gerechtigkeit geglaubt, sagt sie den Journalisten, die sie vor dem Erfurter Gericht umringen.
Nach zwei verlorenen Instanzen gewann die Berliner Kassiererin schließlich am 10.6.2010 die Kündigungsschutzklage vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt. Die Kündigung sei unwirksam, so das Gericht. Nach 31 Jahren Betriebszugehörigkeit habe ein Vertrauensverhältnis bestanden, das nicht durch eine einmalige Verfehlung zerstört werden könne, argumentierte der Vorsitzende Richter Burghard Kreft. In diesem Fall hätte es eine Abmahnung, jedoch keine fristlose Kündigung geben dürfen.
Emmely war im Sommer 2008 nach 31 Jahren Betriebszugehörigkeit von Kaiser´s fristlos gekündigt worden. Man warf ihr vor, zwei Pfandbons im Wert von 1,30 Euro unrechtmäßig eingelöst zu haben. Emmely selbst bestritt dies stets. Die aus dem Strafrecht bekannte Unschuldsvermutung hat im Arbeitsrecht übrigens keine Wirkung.
Unter dem Motto „Solidarität mit den Emmelys dieser Welt“ rief die Unterstützergruppe der ehemaligen Kaiser’s-Kassiererin fast zwei Jahre lang zum Protest gegen Verdachts- und Bagatellkündigungen auf. Nachdem Emmely die von ver.di für sie ausgehandelten Einigungen ausgeschlagen hatte, gründete sich 2009 das Komitee „Solidarität mit Emmely“, das ihr half, den juristischen Weg auch ohne Hilfe der Gewerkschaft bis zum Ende zu gehen. „Alleine ist so etwas sicher nicht zu leisten“, räumt Jörg Nowak vom Komitee ein.
Erstmals 1984 hatten Bundesrichter klargestellt, dass selbst der unerlaubte Verzehr eines Stück Kuchens Grund für eine Kündigung sein kann. Dabei ginge es gar nicht so sehr um die Schwere der Tat, sondern um den „Vertrauensverlust“, den der Arbeitgeber durch den Eingriff in sein Eigentum erleide. Es sei ihm nicht mehr zuzumuten, das Beschäftigungsverhältnis aufrechtzuerhalten, erklärte man.
Nachdem das Landesarbeitsgericht Berlin im Februar 2009, dieser Argumentation folgend, feststellte, dass Emmely zurecht gekündigt worden sei, überschlugen sich die Reaktionen in der Öffentlichkeit. Wolfgang Thierse bezeichnete das Urteil als „barbarisch“ und „asozial“ – der Fall bekam bundesweite Bedeutung. Auch in der Bevölkerung herrschte Unverständnis über dieses harte und gnadenlose Urteil. Einer Emnid-Umfrage zufolge empfanden damals 69% der Bevölkerung das Urteil als ungerecht. Bei Befragten der unteren Einkommensklassen waren es sogar weit mehr.
In der Tat sind Besserverdienende von Verdachtskündigungen meist nicht betroffen. Umgekehrt gilt: Je prekärer desto gefährdeter.
Dass von Verdachtskündigungen besonders häufig auch unbequeme Arbeitnehmer und besonders Frauen betroffen sind, ist ebenfalls kein Zufall. Auch im Fall von Emmely ist das zutreffend. Als ver.di im Jahr 2007 die Warnstreiks im Einzelhandel organisierte, war Emmely zuletzt die Einzige, die in ihrer Filiale in Berlin-Hohenschönhausen die Arbeit niederlegte. Eine Tatsache, die, wie der Betriebsrat von Kaiser’s später behauptete, keinerlei Zusammenhang zur späteren Kündigung aufweise.
„Verdachtskündigungen wegen Diebstahls sind ein gängiges Mittel, um unliebsame Beschäftigte loszuwerden. Dies passiert vor allem in Branchen, in denen das Unterordnungsverhältnis besonders ausgeprägt ist,“ entgegnet Industriesoziologin Ingrid Artus.
Mit dem nun gesprochenen Urteil erschwert es das Bundesarbeitsgericht den Arbeitgebern deutlich, Arbeitnehmer wegen Bagatelldelikten fristlos zu kündigen. „Die Gerichte haben sich aber nur soweit bewegt, wie sie eben mussten. Das ist ein Riesenschritt für die Rechtsprechung und ein großer Erfolg für uns. Trotzdem bleibt das Urteil hinter vielen wichtigen Forderungen zurück,“ bewertet Jörg Nowak das Urteil.
Zwar gaben die Bundesrichter der Kündigungsschutzklage der Kassiererin in diesem Fall statt, das Bundesarbeitsgericht bleibt jedoch im Kern bei seiner Rechtsprechung. Bagatelldelikte können demnach auch weiterhin ein Kündigungsgrund sein. Das Gericht sprach sich bei Kündigungen wegen Kleindiebstählen sogar gegen sogenannte Bagatellgrenzen aus.
Emmely hatte stets angekündigt, bei Rücknahme der Kündigung wieder bei der Supermarkt-Kette arbeiten zu wollen. Am liebsten sei ihr die Rückkehr an ihre alte Kasse. Doch dies scheint nicht möglich zu sein. In einem Gespräch in der Kaiser’s-Zentrale am Montag nach der Urteilsverkündung schlug man Emmely nun zwei andere Filialen zur Auswahl vor. Wenn es nach ihr geht, wird sie also sehr bald wieder an einer Supermarktkasse sitzen.