Was kann man heute lernen von einem jüdischen und jiddischsprachigen Anarchisten, der in Moskau, New York und Tel Aviv lebte? Abraham „Abba“ Gordin hatte einen ganz eigenen Blick auf die Moderne, auf Freiheit und Gleichheit, und auf das bürgerliche Versprechen, jeder finde sein Glück, wenn er nur danach suche. Besonders die Verwendung der jiddischen Sprache, der Gershom Scholem eine „unvergleichliche anarchische Lebendigkeit“ zuschreibt, ist Ausdruck der modernen Identität und des Lebensgefühls (Yidishkeyt) der osteuropäischen EinwandererInnen in den USA und in Israel, die ihre Identität im neuen Land nicht völlig aufgeben wollten. Das war nicht selbstverständlich, denn Jiddisch galt als Sprache des Rückständigen, der Isolation und des Ghettos.
Geboren 1887 in Mikhalishok im heutigen Litauen, teilte Abba Gordin den Lebenslauf vieler seiner Zeitgenossen der jüdischen Aufklärung in Osteuropa und erhielt zunächst eine religiöse Ausbildung. Zusätzlich zum alltäglichen Jiddisch lernte er Russisch, Neuhebräisch und Englisch, um die – aus Sicht seines Vaters ketzerischen – aufklärerischen Schriften Tolstois und Puschkins lesen zu können.
Gordin begann 1908 zunächst auf Russisch und Jiddisch, später auf Englisch und Hebräisch zu schreiben. 90% seiner Arbeiten schrieb er auf Jiddisch. Seine Familie und Freunde waren Misnagdim, eine rationalistische Strömung osteuropäischer Juden und Jüdinnen, die besonders in Litauen stark vertreten war. Gerade in Osteuropa hat sich eine spezifische jüdische Bewegung herausgebildet, die sich von der westlichen Aufklärung unterschied und die ihre Emanzipationsforderungen mit sozialen Problemen verband. Nachdem sich Gordin mit seinem Vater ob der Frage, ob man länger auf den Messias warten solle, überworfen hatte, ging er nach Moskau, wo er der Anarkhistisher Federatsiye (Anarchistische Föderation) beitrat. Gordin arbeitete kurze Zeit mit den Bolschewiki und erhoffte sich besonders während der Februarrevolution 1917 eine gemeinsame inhaltliche Ebene. Bald schon schrieb er aber polemische Artikel mit talmudischen Parabeln und Gleichnissen gegen die autoritäre Führung der Kommunisten. Schon Mitte 1918 war er überzeugter Antikommunist. Nach einem Bombenanschlag in Moskau auf das Büro der KP im September 1918, wurden auch AnarchistInnen verfolgt, eingesperrt und hingerichtet. Gordin selbst wurde auch von der Tscheka verhört – er konnte sich später selbst nicht erklären, warum er am Leben gelassen wurde.
Am 6. Februar 1926 floh Gordin nach New York. Dort arbeitete er an englischen, russischen und jiddisch-sozialistischen Zeitschriften wie der Freien Arbeiterstimme mit. Mit zunehmender Einsamkeit wanderte er 1958 nach Israel aus, wo er die hebräisch-jiddischen Problemot herausgab.
In vielen seiner Veröffentlichungen beschäftigte sich Gordin mit ethisch-kulturellen Fragen im Zusammenhang mit Anarchismus, Judentum und Yiddishkeit, wie zum Beispiel in „Die soziale Frage“ (1940). Ein immer wiederkehrendes Element in den Texten Gordins ist die Auseinandersetzung mit der Mystik. Er befasste sich in seinen späteren Jahren immer mehr mit dem Propheten Moses, dem Rabbi Jehuda Löw von Prag und Isaak Luria und entwickelte dabei vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Russland seine eigene Kultursoziologie. Seine Religiosität ist wohl nur mit der Leo Tolstois vergleichbar und zeigt eben auch, dass Anarchismus nicht automatisch atheistisch sein muss, sondern viele verschiedene Gesichter hat.
Im Jahr 1964 starb Abba Gordin einsam in Ramat Gan (Tel Aviv, Israel), wohin er 1958 ausgewandert war. Sein letztes Werk „Musar ha-Yahadut“ – eine Übersetzung aus dem Jiddischen ins Hebräische – wurde posthum veröffentlicht.