Viel wird derzeit wieder geredet über Arbeitsmigration, sei es mit Blick auf Arbeitskräfte aus Osteuropa, sei es im Kontext der aktuellen Flüchtlingswelle aus Nordafrika. Auch die sog. Wirtschaftsflüchtlinge aus den Schwellenländern waren in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Debatte geraten. Fast schon beiseite geschoben wurden dabei jene, die als Exempel von Arbeitsmigration schlechthin in der deutschen Geschichte gelten: die einstigen „Gastarbeiter“. Zwar stehen diese immer noch im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit, doch geschieht dies vorwiegend unter den Vorzeichen eines rassistisch geführten Diskurses über die „Integration“ einer hier lebenden Minderheit.
Obwohl mit der Sesshaftwerdung jener ArbeitsmigrantInnen in der Tat eine Statustransformation von einer zeitweisen Arbeitskraft zur fest verankerten Minderheit einherging, bleibt deren Situation dennoch bestimmt durch den Gastarbeiter-Hintergrund. Freilich, von ArbeitsmigrantInnen im engeren Sinnen kann hier nicht mehr gesprochen werden, handelt es sich doch um hier fest verwurzelte Familien in der zweiten, dritten oder gar vierten Generation. Dennoch bleiben ihre ökonomische Lage und ihre Position auf dem Arbeitsmarkt stark durch den sog. „Migrationshintergrund“ geprägt. Von Interesse ist daher, wie sich die Geschichte ihrer Arbeitsmigration heute, insbes. im Kontext der Liberalisierung und Flexibilisierung von Arbeitsstrukturen, fortschreibt.
Vom Gastarbeiter zur Minderheit
Schon früh in den 1950ern begann die Bundesrepublik mit ihrer Anwerbepolitik, zunächst mit Arbeitern aus Italien, dann zunehmend, in den 1960ern, mit Arbeitern etwa aus Griechenland und der Türkei. Dadurch sollte 1971 letztlich die sog. „Gastarbeiterquote“ auf dem deutschen Arbeitsmarkt ganze 10,3 Prozent betragen. Dabei entwickelten sich die türkischen ArbeiterInnen schnell zu der größten Gruppe von ArbeitsmigrantInnen, eine Stellung, die sich auch weiter verstetigen sollte. Schon früh hatte die Industrie darauf zu drängen begonnen, die Beschränkung der Aufenthaltsdauer zu lockern bzw. aufzuheben, da ihr das ständige Anlernen von Arbeitskräften, welches das „Rotationsprinzip“ mit sich brachte, als nicht effizient genug galt. Von der Möglichkeit des längeren Aufenthalts machten v.a. die türkischen ArbeiterInnen Gebrauch, die zunehmend ihre Familien in die Bundesrepublik nachholten. Auf dem vorläufigen Höhepunkt, im Jahr 1997, sollte es schließlich 7,3 Mio. Menschen mit ausländischem Pass in der BRD geben, darunter 2,5 Mio. TürkInnen. Die Zahl Letzter ist allerdings bis heute dann doch, durch Einbürgerungen und Rückwanderungen, wieder auf 1,6 Mio. gesunken.
Die Transformation „vom Gastarbeiter zur Minderheit“ ging natürlich einher mit einem ökonomischen Rollenwandel, und dieser führte auch zur Herausbildung einer spezifischen sozialen Situation der Betroffenen. In der Anwerbephase hatte die deutsche Industrie ein großes Interesse an den Gastarbeitern: Gerade in der Zeit der Vollbeschäftigung benötigte sie Arbeitskräfte, die zu den schweren und wenig beliebten Arbeiten, etwa im Bergbau, bereit waren. Entsprechend standen die Gastarbeiter fast ausnahmslos in Lohn und Brot; nur wenige waren zunächst arbeitslos, dafür jedoch häufig ausgenutzt und schlecht vergütet. Mit dem Niedergang der Vollbeschäftigung, dem Zuzug der Angehörigen und der Heranbildung von Nachwuchs überstieg die Zahl der MigrantInnen bald den Bedarf, den die deutsche Industrie an ihnen hatte. In der Folge machte sich Arbeitslosigkeit unter ihnen breit, und immer mehr mussten das Sozialsystem beanspruchen. Insbesondere die Folgegenerationen sahen sich – angefangen beim (Aus-)Bildungssystem – den nun neuartigen Widrigkeiten der Arbeitsmarktkonkurrenz mit ihren Spaltungs- und Selektionsmechanismen ausgesetzt. Ausgrenzung erfahren sie bis heute nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, auch die Gewerkschaften haben den Kontakt weitestgehend zu ihnen verloren und z.T. aktiv selbst soziale Ausgrenzungsfunktionen übernommen. Der berüchtigte Rückzug in die vermeintlich „eigene“ Gemeinschaft kann als eine Folge bzw. Reaktion darauf verstanden werden.
Auf den Weg der Selbständigkeit
Von dem Einsetzen der Liberalisierung und Flexibilisierung der Arbeit in den 90ern und schließlich durch die Agenda 2010 war die Gemeinschaft der ehem. Gastarbeiter in besonderer Weise betroffen: Die spezifischen Ausgrenzungs- und Selektionsmechanismen, mit denen sie konfrontiert sind, multiplizieren bei ihnen das Problem der allgemeinen Prekarisierung. Doch wie reagierte die Community auf diese Veränderung in ihrem sozioökonomischen Koordinatensystem? Ein Phänomen, das dabei auftauchte, jedoch in der öffentlichen Debatte lange Zeit vernachlässigt wurde, ist die zunehmende Entfaltung von unternehmerischen Tätigkeiten unter MigrantInnen in Deutschland. Dies ist nicht nur insofern von Interesse, als dass MigrantInnen durch Selbständigkeit der Arbeitslosigkeit bzw. der Prekarität zu entfliehen versuchen, sondern auch, weil damit die Herausbildung dessen einhergeht, was in der Sozialforschung gerne als „ethnische Ökonomie“ bezeichnet wird. Mit ihr schafft sich die Gemeinschaft der ehem. Gastarbeiter eigene ökonomischen Strukturen und damit auch eigene Arbeitsplätze. In diesem Sinne kann auch von einer Art „inneren Arbeitsmigration“ in Deutschland gesprochen werden.
Dabei ist die Ausweitung der Selbständigkeit ein generell festzustellendes Phänomen in Deutschland, das im Zusammenhang mit einer neoliberalen Wirtschaftspolitik steht. Schließlich kam es zu stärkeren Anreizen für sog. Existenzgründungen, aber auch dazu, dass viele mit der Selbständigkeit einen Ausweg aus der Prekarität suchen. Das Problem der Scheinselbständigkeit und der Freiberufler ist dabei allerdings immer mitzudenken. So stieg von 1991 bis 2009 die Zahl der Selbständigen von rund 3 Mio. auf 4,2 Mio., mit einem besonderen Schub ab 2003, dem Einsetzen der Agenda 2010. Auch die Selbständigen Migranten nahmen analog zu, von 175.000 (1991) auf 407.000 (2009). Sie stellen heute 9,6 Prozent der Selbständigen in Deutschland, bei einem Bevölkerungsanteil von gerade einmal 8,8 Prozent. Die selbständige Tätigkeit von Ausländern in Deutschland, einst kaum vorhanden, hat sich damit nicht nur viel schneller entwickelt als die von Deutschen; sie sind heute sogar öfters selbständig als jene. Und dieser Prozess scheint sich fortzusetzen: So war im Jahr 2009 dem KfW-Gründungsmonitor zufolge jeder fünfte Gründer ein Migrant. Diese Dynamik zeigt sich unter der türkischen Bevölkerung am deutlichsten. Soll es noch 1975 gerade einmal 100 türkische Selbständige in Deutschland gegeben haben, wuchs ihre Zahl (in den alten Bundesländern, ohne Berlin) zwischen 1981 und 1990 von 7.000 auf 18.000 – womit in dieser Phase ein stärkeres Wachstum als beim Migrantendurchschnitt festzustellen ist. Inzwischen soll es über 80.000 türkischstämmige Betriebe in Deutschland geben.
Zuletzt hatte diese unternehmerische Aktivität von TürkInnen eine gewisse mediale Aufmerksamkeit erfahren. Während etwa Thilo Sarrazin sich darüber ausließ, dass diese nur im Obst- und Gemüsehandel produktiv seien, stellten, in Reaktion darauf, zahlreiche Beiträge heraus, dass türkische Unternehmen in mittlerweile allen Branchen bestünden und einen wichtigen Beitrag zur deutschen Wirtschaftsleistung erbrächten. Die Wissenschaft wiederum hatte sich schon in den Jahren zuvor dem Phänomen angenommen, hier allerdings meist unter dem politischen Paradigma des „integrationspolitischen Nutzens“. Manch Rassenhysteriker sah sich durch die Existenz einer solchen türkischen Ökonomie gar in seiner Angst vor einer „Parallelgesellschaft“ bestätigt. Eine wirkliche Auseinandersetzung über Arbeitsbedingungen und Verteilungsfragen innerhalb dieser Ökonomie blieb dabei ebenso aus wie eine ernsthafte Analyse ihrer Bedeutung für den migrantischen Arbeitsmarkt.
Anatomie einer Armutsökonomie
Gerade diese Aspekte sind es aber, die aus gewerkschaftlicher Sicht von Interesse sind. Dabei kann es kaum von der Hand gewiesen werden, dass etwa die türkische Ökonomie – fern von einem etwaigen Integrationsgeschwätz – durchaus die Autonomie als Erwerbsgruppe und als Kulturgruppe gestärkt hat. Immerhin stellt diese, laut der Türkisch-Deutschen IHK, inzwischen etwa 400.000 Arbeitsplätze, die in der Mehrheit von TürkInnen besetzt werden. Dies kann zweifellos als Trend zu mehr Unabhängigkeit vom diskriminierenden Arbeitsmarkt verstanden werden. Im Weiteren ermöglicht sie, potentiell den Arbeitsalltag, aber auch den Konsum stärker nach eigenen kulturellen Bedürfnissen zu gestalten. Jedoch lässt sich auf den zweiten Blick nicht gerade behaupten, dass hier eine Art ökonomisches Empowerment stattfindet: In vielerlei Hinsicht handelt es sich um eine Armutsökonomie, von der häufig nur eine kleine Subelite wirklich profitiert.
Denn zum einen weist jene ethnische Ökonomie einen sehr hohen Anteil von Ein- oder Zwei-Personen-Unternehmen auf, in denen ein hohes Maß an Selbstausbeutung stattfindet. Zum anderen ist die Quote mithelfender Familienangehöriger in den zahlreichen Kleinst- und Kleinbetrieben extrem hoch; etwa die Hälfte von ihnen beschäftigt ausschließlich derartige Arbeitskräfte. Dies verweist auf die Gegenwart patriarchaler Betriebsmodelle, zumindest aber auf einen hohen Abhängigkeitsfaktor vieler Arbeitskräfte. Diese Betriebe sind häufig wenig ökonomisch rentabel, so dass – bei gleichzeitigem Willen zur selbständigen Existenzsicherung – extrem lange Schichten gefahren werden, die an die körperliche Substanz und die Gesundheit gehen. Dass es sich dabei häufig nicht um sozialversicherungspflichtige Jobs handelt oder vielfach in Rentenkassen oder Versicherung nicht eingezahlt wird, verstärkt das Bild, dass von einer sozialen Verbesserung kaum gesprochen werden kann.
Auch die konkrete Verteilungsfrage lässt daran Zweifel aufkommen. Der jährliche Umsatz der türkischen Ökonomie von etwa 50 Mrd. Euro klingt erstmal imposant, im Verhältnis der Arbeitnehmer und des Gesamtumsatzes der deutschen Wirtschaft nimmt sich das doch sehr bescheiden aus, so dass es offenbar nicht allzu viel zu verteilen gibt. Zugleich ist der Umsatz auch ein schlechter Indikator, denn gerade in den Hochburgen der türkischen Ökonomie, wie etwa Berlin, fällt das Angebot äußerst billig aus und sind die Gewinnmargen relativ gering. Dass die offenbar geringen Gewinne zumindest intern gerecht verteilt werden, darf ebenso bezweifelt werden. Schließlich handelt es sich hierbei ja nicht um Betriebe, die jenseits kapitalistischer Imperative funktionieren. Im Gegenteil: Gewerkschaftliche Organisierungsprozesse sind in diesem Bereich ebenso Mangelware wie Betriebsräte oder Tarifbindung. Auch die Gewerkschaften machen kaum Anstalten, hieran etwas zu ändern. Ohne Interessenvertretungen sind die Verteilungstrends jedoch einseitig und gehen stets zu Lasten der Beschäftigten.
Die „ethnische Ökonomie“ kann insofern zwar als eine Reaktion auf bzw. Folge von migrantischer Prekarität verstanden werden, allerdings keinesfalls als gelungene bzw. positive. Vielmehr setzt sich in ihr selbst der prekäre Trend fort (von wenigen GewinnerInnen abgesehen) und wird der Druck des Arbeitsmarktes nur verlagert. Es überrascht denn auch nicht, wenn einige neoliberal betörte Ökonomen die „hohe Wettbewerbs- und Arbeitsintensität“ der ethnischen Ökonomie als „Potential“ betrachten, als „Erfolgsrezept“, von dem auch deutsche Unternehmen etwas lernen könnten.