Massakrieren bis zum bitteren Ende

Viel wurde und wird über die Schreckenszeit des Nationalsozialismus publiziert. Nicht wirklich übersehen, aber kaum systematisch untersucht und dargestellt wurde bislang ein besonders schreckliches Kapitel der Nazizeit: die Todesmärsche von KZ-Häftlingen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges.

Diese Lücke schließt die Anfang 2011 im rowohlt-Verlag erschienene Studie des israelischen Wissenschaftlers Prof. Dr. Daniel Blatman. Auf knapp 850 Seiten entfaltet der Autor das Grauen der damaligen Zeit anhand einer schier unüberschaubaren Zahl historischer Quellen. Ergebnis der zehn Jahre dauernden Forschungstätigkeit ist eine systematische Darstellung und Dokumentation der Todesmärsche 1944/45, ergänzt um bedrückende Fallstudien einzelner Massaker an den ausgemergelten Häftlingen.

Unsichtbare Todeskolonnen?

Besonders wertvoll erscheint mir die Analyse der Mitwirkung der angeblich so unwissenden und unschuldigen „Zivilbevölkerung“ an vielen der Gräueltaten. Beispielsweise im Kapitel „Das Massaker von Celle“: Es war am 8. April 1945, als sich Dutzende bewaffneter Männer, aber auch viele Hitlerjungen aufmachten, um auf, wie Blatman schreibt, „Menschenjagd zu gehen“ und mehrere hundert, meist osteuropäische Häftlinge erschossen oder erschlugen. Einen breiten Raum nimmt auch das Massaker in Gardelegen (einem kleinen Städtchen in Sachsen-Anhalt) vom 13. April 1945 ein, über tausend Gefangene wurden dort ermordet. Teilweise erschossen, von Einheimischen, von ZivilistInnen, die noch zynisch scherzten: „Wir gehen auf Jagd, um Zebras abzuschießen.“ Zebras deshalb, weil die Gefangenen vielfach gestreifte Kleidung trugen. Gerade an dem Massaker in Gardelegen wird besonders deutlich, wie sehr die Zivilbevölkerung in die Ermordung eingebunden war, sei es durch Denunziation von geflüchteten Häftlingen oder durch „tatkräftige“ und eigenhändige Ermordung der völlig entkräfteten Menschen.

Mahnung für entschlossenen Antifaschismus

Nur der Danksagung am Schluss des Buches kann ansatzweise entnommen werden, wie beschwerlich mitunter die Forschungsarbeit des Autors war, da es bis heute für viele ein Tabu zu sein scheint, sich mit der Verantwortlichkeit der Zivilbevölkerung auseinanderzusetzen – entsprechend abwehrend reagierten viele auf Anfragen zu damaligen Geschehnissen. Die Lektüre der Studie ist kein leichtes Unterfangen, denn die Leiden der Gefangenen werden ausführlich und nachdrücklich geschildert. Ein umfangreiches Literatur-/Quellenverzeichnis, sowie einige Fotos ergänzen das Buch. Ganz besonders bedrückend die Aufnahme der Opfer des schon erwähnten Massakers von Gardelegen, wo unter anderen 1.000 Menschen in einer Scheune mit Benzin übergossen und verbrannt wurden. Man sieht einen knieenden, hingekauerten Torso. Die, die gestorben sind, kommen mit ihrem Schicksal, ihrem Leid noch einmal zu Wort und dienen als Mahnung an nachfolgende Generationen. Die juristische und polizeistaatliche Unterstützung für Nazi-Großaufmärsche wie jene in Dresden steht dieser Mahnung komplett entgegen. Kein Vergeben – kein Vergessen!

Bibliografische Angaben:

Daniel Blatman, Die Todesmärsche 1944/45, erschienen 2011 im Rowohlt-Verlag, ca. 860 Seiten, 34,95 Euro, ISBN 978-3-498-02127-6

Der Rezensent: Thomas Meyer-Falk sitzt seit 1996 in Haft, aktuell in der JVA Bruchsal. Informationen und Stellungnahmen von Thomas zu seiner Inhaftierung sowie politische Einschätzungen findet ihr unter: www.freedom-for-thomas.de/thomas/thomas.shtml

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