Meine ersten Reaktionen auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen am 7. Februar waren Freude und Erleichterung. Und Betroffenheit. In einer Welt, in der Gewaltfreiheit gepredigt wird, wurden die BosnierInnen im deutschen Fernsehen nur mit ihrem gewaltsamen Protest erwähnt, und das auch nur für wenige Minuten. Nun wird jeder außerhalb von Bosnien-Herzegowina nur wissen, dass jene Proteste gewaltsam waren. Und um es klarer auszudrücken: Es war die Reaktion auf die Gewalt von Seiten der Polizei, die über Jahre hinweg die Rechte der DemonstrantInnen mit Füßen getreten hatte.
Letztes Jahr hat der bosnische Staat die zwei Neugeborenen Berina und Belmina getötet. Diese konnten das Land nicht für eine dringend benötigte Operation verlassen, da ihnen die Ausweisnummern fehlten. Diese wurden den Kindern nicht ausgestellt, da die PolitikerInnen es verpasst hatten, einem neuen Gesetz zuzustimmen, das diese inneren Angelegenheiten hätte regeln sollen. Deshalb wurden allen Kindern, die nach dem Februar 2013 geboren wurden, keine Ausweise mehr ausgestellt. Durch dieses Unrecht begannen die neueren Proteste in Bosnien. Eine Zahl kleinerer Proteste hatte es auch schon vorher gegeben, sie waren immer friedlich gewesen. Auch, als beispielsweise der bosnische Handelsminister im August 2012 bekannt gegeben hatte, dass die beste Methode, die ökonomische Krise zu bekämpfen, sei, weniger zu essen.
In Tuzla, einer industriellen Stadt im Nordosten des Landes, protestierten die ArbeiterInnen von vier großen Betrieben über Monate. Ihre Firmen hatten es nicht geschafft, das Schicksal Dutzender bosnischer Betriebe zu verhindern, die im „Umwandlungsprozess“ abgewickelt wurden. Im Falle Bosniens war dies ein Prozess, bei dem mit der erfolgreichen Kombination von fähigen lokalen und importierten Großindustriellen das letzte Bisschen an industriellem und technischem Potential aus dem Land gesaugt wurde. Dies geschah unter dem Deckmantel von nationalistischen mythologischen Erzählungen, die nur das praktische Ziel hatten, die Einheit und Solidarität der ArbeiterInnen untereinander zu zerstören.
Die Proteste begannen also in Tuzla und breiten sich danach schnell in anderen Städten wie Zenica, Sarajevo, Mostar und Bihac aus. Alle liegen in der bosnischen Föderation und keine in der serbischen Republik. Viele von ihnen haben eine bosniakische (muslimische) Bevölkerungsmehrheit. Der serbische Teil Bosniens steht bis auf wenige Ausnahmen unter der Herrschaft von Milorad Dodik, er ist ein Ausgestoßener der sozialistischen Internationalen. Dort gab es keine Proteste. Dodik beherrscht diesen Teil mit Lügen und geschicktem Lobbyismus und unterdrückt jeden Protest mit dem Mythos, dass es den Menschen in diesem Teil ja viel besser gehe und sie deshalb nicht protestieren dürften, da ansonsten jeder Wohlstand gefährdet sei. Dabei füllt er sich und seinen Getreuen genügsam weiter die Taschen.
PolitikerInnen aller drei Gruppen sind sich am Ende des Tages einig, dass jeder Protest „ihr“ Land zerstören will. Die Protestierenden in Tuzla, Zenica, Sarajevo und anderen Städten der Föderation sind ausdrücklich anti-nationalistisch. Und das ist der gefürchtetste Aspekt. Die ArbeiterInnen, die sich als ArbeiterInnen zusammentun und nicht als Angehörige einer Ethnie oder Nation, sind der größte Alptraum für alle bosnischen PolitikerInnen und ihre Verbündeten aus EU und IWF.
Aber der Alptraum wird Wirklichkeit. Die ArbeiterInnen haben sich in sogenannten „Plena“ vereinigt – große Versammlungen von EinwohnerInnen, die zueinander finden, um Probleme und deren Lösungen zu besprechen sowie Methoden zu suchen, wie PolitikerInnen darauf aufmerksam gemacht werden können. JedeR kann dorthin gehen und teilnehmen. Es gibt für jedeN zwei Minuten, um einen Vorschlag offen vorzustellen und um über verschiedenste Dinge abzustimmen. Es gibt dort keine PräsidentInnen, AnführerInnen oder KoordinatorInnen. Bei jedem Plenum wird erst einE ModeratorIn gewählt, deren Aufgabe ist, die Redeordnung und Zeit zu beachten. Dennoch benötigt eben auch diese Form bestimmte gemachte Erfahrungen, und es ist nur richtig, zu sagen, dass die lokalen Nicht-Regierungsorganisationen auf den meisten Plena die führende Rolle übernehmen. Verschiedene Plena arbeiten auf methodischer Ebene zusammen, um Erfahrungen auszutauschen, gerade, wenn es um generellere Themen geht. Gelegentlich besuchen RepräsentantInnen der Plena einer Stadt das Plenum einer anderen Stadt. Einer der ersten Erfolge war der prompte Rücktritt des Kantonsoberhauptes von Tuzla zusammen mit der gesamten Regierung des Kantons Doboj-Zenica. In Sarajevo hatten die OrganisatorInnen des ersten Plenums zunächst eine ganz andere Forderung an die Stadt zu stellen: Der Raum, in dem sie sich trafen, war nur auf 100 Menschen ausgelegt, es kamen aber unerwartete 300 Leute zu dem Treffen, weshalb die erste Forderung die nach mehr Platz war. Die ArbeiterInnen, StudentInnen, ProfessorInnen und Mitglieder der NGOs, die oft die einzige Opposition zu den herrschenden Parteien Bosniens bilden, haben dabei nicht komplett die Erfahrungen und Methoden des sozialen Selbstmanagements verlernt. Außerhalb der regelmäßigen Treffen und Entscheidungen operiert das Plenum in Arbeitsgruppen. Die Themen variieren leicht von Stadt zu Stadt. Die zwei Arten von Arbeitsgruppen, spezialthematische und technische Gruppen, werden in Untergruppen aufgeteilt. So gibt es Gruppen für Kultur und Sport, urbane Räume und Umwelt, Finanzen, Bildung, Rechte früherer SoldatInnen, Sozialpolitik, Verkehr und weitere bei den Spezialthemen-Gruppen. Die technischen Gruppen beinhalten Gruppen für Datenprozesse, Logistik, rechtliche Sachen, Medien und Organisation der Proteste. Es ist klar, dass die EinwohnerInnen sich entschieden haben, diesen Job zu machen! Die Plena überfluten die kantonalen Regierungen wie die Zentralregierung mit ihren Anfragen und überwachen deren Umsetzung en détail. Aber nicht nur, was in den Plena entschieden wird, tragen sie an die Verwaltungen, auch die Einzelpersonen gehen zu den PolitikerInnen, um Druck zu machen. Es gibt jedoch Berichte, dass den EinwohnerInnen oft untersagt wird, zu den Ratsversammlungen der PolitikerInnen zu kommen.
Mitglieder von politischen Parteien sind generell nicht willkommen auf dem Plenum. Mitglieder von Gewerkschaften partizipieren unterschiedlich in den Versammlungen. Die ArbeiterInnen an sich halten Abstand zu den Gewerkschaften, da sie sie als hoch politisiert ansehen und denken, dass sie nur den politischen OligarchInnen helfen. Auf dem letzten Kongress der unabhängigen Gewerkschaften, der zwei Wochen nach Beginn der Proteste stattfand, wurde die alte Führung des Verbunds wiedergewählt. Die ArbeiterInnen sowie einige Leitungen von Branchengewerkschaften, die unzufrieden mit der schwachen Unterstützung der Gewerkschaften für die Proteste waren, haben bekannt gegeben, eigene unabhängige Gewerkschaften zu gründen.
Es ist aber auch deutlich zu sagen, dass ebenso die Plena in großer Gefahr sind. Die politischen Eliten wie auch die Menschen haben nichts zu verlieren, was historisch bewiesen eine Kombination darstellt, bei der es mindestens für eine Seite fatal ausgehen kann. Im serbischen Teil hat Milorad Dodik klar gemacht, dass jedeR, der / die ein Transparent hochhält, als VerräterIn behandelt wird. Er ging soweit, dass er sogar die serbischen Ex-SoldatInnen des Bosnienkrieges VerräterInnen nannte, weil sie friedlich in einem Park in der Nähe des Regierungsgebäudes in Banja Luka (das teuerste Gebäude in der Region) für bessere Renten und Gesundheitsversorgung demonstrierten. In der Föderation, in der die aktuellen Proteste stattfinden und auch Regierungsgebäude in Brand gesetzt wurden, wurden die ProtestlerInnen sofort als Hooligans und Drogenabhängige bezeichnet. Sehr schnell wurde jedeR in der Bewegung als das bezeichnet, was er oder sie am fürchtete: KommunistInnen, AtheistInnen, AnarchistInnen, FeministInnen, Homosexuelle und so weiter.
Als sich die Aufstände beruhigt hatten und die Plena zu arbeiten begannen, war jedeR PolitikerIn damit beschäftigt, herauszufinden, „wer hinter den Aufständen“ steckte. Die bosnischen PolitikerInnen sind so sehr daran gewöhnt, in ihrer Bevölkerung nur passive IdiotInnen zu sehen, die nichts tun und nichts wissen (und nichts wert sind), dass sie ziemlich schnell in irrationale Erzählweisen verfallen. Ein typischer Abwehrmechanismus, wenn du so willst: „Es sind die Anderen, jemand oder etwas, das uns zerstören will.“
Dieses Jahr werden im Oktober die zentralen Wahlen stattfinden. Wenn man im Hinterkopf hat, wie grausam und skrupellos hier politische Kampagnen sein können, es ist einfach, vorherzusagen, dass die Plenumbewegung viel Gegenwehr leisten muss, um nicht ihre Glaubwürdigkeit und ihr Ansehen zu verlieren. Die Plena haben bereits bekannt gegeben, dass sie sich nicht an diesen politischen Strukturen beteiligen werden. Sie fordern eine ExpertInnenregierung, die die dringendsten systematischen Probleme des Staates lösen soll: Die Rücknahme der Privatisierungen, der Kampf gegen die Korruption und eine generelle administrative Staatsreform. Ebenso fordern sie eine Beschneidung des Einflusses des IWF. Es fällt schwer, zu glauben, dass die PolitikerInnen die neue Realität akzeptieren und Verbündete der EinwohnerInnen werden. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass sie versuchen, die Glaubwürdigkeit der Plena durch eine Schmutzkampagne zu schädigen.