Kybernetik? Da war doch was. Hat das noch Bedeutung? Ja. Denn abgesehen davon, was in der Populärkultur übriggeblieben ist – Cyberspace und in metallene Pin-Ups umgedeutete Cyborgs – , hat die Folgeideologie uns in eine Kontrollgesellschaft katapultiert, die an digitale Revolutionen und Kommerz-DIY glaubt.
Hans-Christian Dany hat darüber schreibend nachgedacht und beleuchtet, wie jede Protestform erfolgreich in das System integriert wird und sich alle irgendwie beteiligt fühlen, ohne es zu sein.
Dabei beginnt er mit seinem Urgroßvater, einem der Erfinder der reformierten Jugendgefängnisse. Sein Wirkungsort war die Jugendstrafvollzuganstalt auf der Insel vor Hamburg, auf der auch Lenz „Deutschstunde“ beginnt. Dort probte man ein Konzept der offenen Kontrolle. Damit war man 1920 seiner Zeit weit voraus.
Die Kybernetik, „die Wissenschaft, die sich mit dem System der Steuerung in Lebewesen und Maschinen beschäftigt“, wurde später aus der Taufe gehoben: In den 1940er Jahren, als Norbert Wiener für die US-Armee versuchte, das Verhalten feindlicher Waffensysteme vorherzubestimmen. Andere Bereiche folgten. Hier ist ein Verständnis von Kommunikationsmodellen nützlich. Denn für die Kybernetik und Danys Argumentation spielt das ,Rauschen‘ zwischen ,SenderIn‘ und ,EmpfängerIn‘ immer wieder eine Rolle. Dieses Rauschen möchte man am liebsten ausschalten, zum Beispiel durch zeitige „Anpassung an gegebene Zeichenvorräte“ im Spiel. „Verbinden sich die spielenden Kinder unter Verzicht auf das Erfinden von Abweichungen mit den abgesteckten Zeichenvorräten, werden sie durch Erreichen eines Ziels belohnt: Muster setzen sich zu vollständigen Bildern zusammen.“ Sonst folgt der „Stillstand der spielenden Bewegung“.
Allerdings verfolgten die wissenschaftlich interdisziplinär arbeitenden KybernetikerInnen nicht das Ziel sozialer Kontrolle. Ihr Gegenstand verselbständigte sich eher.
Begriffe wie ,Feedback‘ gelangten über die Psychologie in Therapiegruppen, WG-Küchen und in das Social-Engineering der Management-Theorie. Eine Auswirkung auf Zwischenmenschliches umreißt Dany so: „Der Psychohygiene einer vom kybernetischen Jargon der Gruppendynamik erfassten Alltagssprache gelingt es, die rauschbehaftete Liebe durch die besser fassbare Beziehung zu ersetzen.“ Und schließt sogleich an: „Das Feedback wiederum wird zu einem zentralen Werkzeug, mit dem zwischen Kindergarten, Schule, Arbeit und Verbrauch das Leben umfassend reguliert wird.“
Doch in Bezug auf die Wirtschaftswissenschaften lasse sich das Dargestellte auch antikapitalistisch umdeuten. Anfang der 1970er wurde dies unter Allende in Chile versucht, weil man sich „dezentralisierende wie entbürokratisierende Effekte und eine verbesserte Mitbestimmung der ArbeiterInnen“ erhoffte.
Im Kapitalismus wurden Steuerungskonzepte zunehmend unpopulär. Die Kybernetik „wird immer öfter als gewaltsame Programmierung von Mensch und Natur wahrgenommen“. Doch erfährt sie ein Nachleben „in der […] Lehre des Radikalen Konstruktivismus.“
An die Stelle der Herrschaft tritt die Heterarchie – und wird zur zentralen Methode. „Die unsichtbare Hand hört aber nicht auf, OrganisatorIn zu sein, genau so wenig, wie sich [das] Unternehmen in ein unabhängiges und offenes System verwandelt […].“ Angestellte „sollen ihre Selbstführung […] für die Interessen des Unternehmens mobilisier[en]“. An der Verteilung der Produktionsmittel ändert sich nichts. Indes wird die Kontrollgesellschaft von der Illusion der Selbstverantwortung und der Teilhabe stabilisiert.
Inzwischen ist die Kontrollgesellschaft in einer Phase der Ermüdung angekommen.
Neoliberale Bottom-up-Projekte sollen Abhilfe schaffen. „Eine allgegenwärtige Unzufriedenheit wird mit kybernetischen Management-Techniken auf Spezialfragen gelenkt und anschließend in Projekten so lange moderiert, eingekreist und evaluiert, bis jede Hoffnung oder Wut der BürgerInnen vom leeren Licht der Transparenz überstrahlt wird. […] Ein Bahnhof wird ein bisschen anders gebaut oder ein Haus gelb gestrichen. Die TeilhaberInnen erleben sich in kleinen Schritten als gescheitert und bezichtigen sich der Schuld am Malheur des im Prozess Heruntergekochten. Was als artikuliertes Unbehagen begann, verläuft sich in kreisförmiger Frustration.“ Das Putschmittel, das die müden PatientInnen wieder munter machen soll, heißt Konflikt, „damit die Systeme nicht zum Stillstand kommen.“ Störungen werden zugelassen. Denn der Kapitalismus „droht an seiner Absicherung durch die Abweisung, Vernichtung und die einbindende Umdeutung von allem, was seinen Systemprinzipien zuwiderläuft, zu ersticken.“
Dany schließt praktische Überlegungen an: „Das Nachinnovative, von seiner eigenen Kontrolle besessene System [schnürt sich] selbst die Luft ab. Vielleicht kann ihm dabei geholfen werden?“
Verschiedene widerständige Ansätze werden von Dany diskutiert und mit eigenen Einsichten verknüpft. Wirklich durchschlagend könne sich nur eine Totalverweigerung auswirken, indem man zum Idioten im eigentlichen Sinne werde und sich aus dem öffentlichen Raum ausklinke. So werden Menschen nicht zu nützlichen „GebrauchsidiotInnen, sondern [zu] welche[n], die wirklich nicht zu gebrauchen sind“ und genießen – aus dem Raster gefallen – ihre Freiheit in „idiotische[r] Asozialität“.
Danys Werk ist kein Buch, das sich einfach nebenbei lesen lässt, aber das lohnendste Buch der letzten Jahre, wenn man es an den persönlichen Einsichten misst, die zu einem ganz neuen Verständnis und neuen Fragen führen.
Hans-Christian Dany, Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft. Hamburg, Edition Nautilus, 2013, S. 128, 12 Euro