Jedes Kind ist hochbegabt. Mit diesem Slogan seines 2012 erschienenen Buches wirbt der Hirnforscher Gerald Hüther für ein Umdenken im Bildungssystem und stößt dabei auf viel positive Resonanz.
Inflationsheilige oder Vordenker?
Einen seiner medialen Höhepunkte hatte der Neurobiologe in der ersten Folge der nach Richard David Precht benannten Philosophiesendung im ZDF unter der Überschrift Skandal Schule – Macht Lernen dumm? Hüther wurden von Precht locker die Bälle zugespielt – bläst der Populärphilosoph doch mit seinem Buch Anna, die Schule und der liebe Gott in ein ähnliches Horn in Sachen Schulkritik. Precht bezieht sich bei seinen Vorstellungen einer besseren Schule auch auf Maria Montessori („das Kind als Baumeister seiner selbst“).
In der Sendung vom 2. September 2012 erzählte Prof. Hüther nun vom katastrophalen und antiquierten Schulwesen, in dem Kindern die Lust am Lernen so richtig ausgetrieben werde durch frontal unterrichtete Wissensvermittlung. Stattdessen plädierte Hüther wie in der Vielzahl seiner gut besuchten Vorträge dafür, dass bei Kindern das Interesse geweckt und Potenziale entfaltet werden müssten, und zwar durch LehrerInnen, die nur noch als Coachs fungieren sollen. Starre Klassen und Fächer sollen durch Lernbüros ersetzt werden. Precht ergänzte dies mit fächerübergreifenden Projekten.Hüther und Precht liefern manchen interessant klingenden Ansatz zu Inklusion und Gesamt- und Ganztagsschulen, auch wenn das Bild der gemeinen Schule als Konstrukt aus dem 19. Jahrhundert, das sich noch nicht den gesellschaftlichen Begebenheiten angepasst hat, sehr klischeebehaftet ist. Viele Inhalte in Hüthers Präsentationen sind allerdings Binsenweisheiten – als ob Altbekanntes nur darauf gewartet hätte, wieder aufgewärmt zu werden. Außerdem reißen die beiden Visionäre die Schule aus gesellschaftlichem Kontext von Interessensgegensätzen und Verteilungskämpfen heraus. Selbst wenn aus den Schulen nur noch kreative und engagierte Menschen kommen würden, wie beide sich das erträumen, die Eigentumsverhältnisse wären ja immer noch da. Freilich lässt Precht als Bertelsmann-Referent außer Acht, dass die kapitalistische Wirtschaft auf ungleicher Verteilung basiert. Oder wie es der Kabarettist Volker Pispers ausdrückt: Jeder kann hier reich werden – aber nicht alle.Hüther gibt ferner Unternehmen seine Allerweltsratschläge; beispielsweise sollen ältere Beschäftigte anstatt nur verwaltet zu werden nochmal richtig motiviert werden, damit sie sich für etwas einzusetzen können und sich mit ihrer Aufgabe identifizieren. Seine Vorstellungen von Menschen in der Wirtschaft passen sehr gut in ein Zeitalter von Clouds, Crowdworkern und Smart Factories, wo hoch engagierte PerformerInnen ihren Unternehmen unbezahlbare Dinge wie „Freundlichkeit“, „Liebenswürdigkeit“ und „Kreativität“ schenken.Heikel an diesen Vorstellungen ist weniger deren Umsetzung oder die Frage, ob die VerkünderInnen der neuen Bildungsbewegung nun aus anderen Disziplinen (Neurobiologie und Philosophie) kommen und kein Pädagogikstudium vorzuweisen haben, sondern vielmehr die Frage, ob es sich hier wirklich um eine (Schul-)Revolution handelt oder ob nicht letztendlich dem Kapital motivierte Subjekte geliefert werden.
Der gewerkschaftliche Ruf nach revolutionären Bildungsreformen
Auch die IG Metall Jugend proklamiert mit den Positionen ihrer aktuell noch laufenden Kampagne eine „Revolution Bildung“. Es wird eine Reform des BaföG und eine Novellierung des Berufsbildungsgesetzes gefordert. Die Rahmenbedingungen für Weiterbildungen sollen gesetzlich vereinheitlicht und tarifpolitisch stärker verankert werden – insbesondere soll die Finanzierung besser im Interesse der Beschäftigten verhandelt werden.
Die größte Einzelgewerkschaft labelt ihren Strauß aus spezifischen Forderungen, welche sich größtenteils auf ihre Zielgruppe (Auszubildende und Dualstudierende) beziehen, inflationär als Revolution. Im September letzten Jahres fand dazu ein großer Jugend-Aktionstag statt, ein buntes Spektakel mit Demonstration und Konzert. Es kamen um die 20.000 überwiegend junge Mitglieder nach Köln, was für eine Demonstration im Bildungsbereich beeindruckend ist. Dennoch gilt die Kampagne in der Organisation als umstritten aufgrund ihrer Unausgegorenheit im Gegensatz zur „Operation Übernahme“, welche mit der Aufnahme der unbefristeten Übernahme nach der Ausbildung in den Flächentarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie 2012 endete. Beim Tarifabschluss dieses Jahres konnten beim Punkt Weiterbildung nur geringe Fortschritte erzielt werden.Resümierend kann festgehalten werden, dass eine soziale Bewegung den Anspruch haben sollte, das Bildungswesen nicht nur parolenhaft komplett über Bord zu schmeißen. Vielmehr muss sie konkret gegen Kürzungen und prekäre Verhältnisse im Bildungsbereich ankämpfen. Es kann uns nicht nur darum gehen, die Lust am Lernen zu wecken – Ziel sollte sein, einen klaren Standpunkt im Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit zu vermitteln. Es irritiert, wenn schlichte Verbesserungen zu Umwälzungen verklärt werden.