In Zeiten der Corona-Pandemie entstehen viele Unsicherheiten. Im Privaten gehen verunsicherte Menschen auf Distanz. Die Regierungen verhängen Ausgangsbeschränkungen, Ausgangssperren, Kontaktverbote und beschränken damit die Grundrechte der Freizügigkeit, schließen Grenzen und legen Teile der Wirtschaft lahm. Vieles davon erscheint auf den ersten Blick sinnvoll. Plötzlich sind anarchistische Syndikalist*innen konfrontiert mit staatlich-autoritären Maßnahmen, die oberflächlich betrachtet irgendwie vernünftig wirken…
Aber wir leben ja immer noch im Kapitalismus. In Halle geht das inzwischen soweit, dass der Oberbürgermeister Bernd Wiegand bei einer Pressekonferenz Ende März klarstellt: Allein im Park ein Buch zu lesen, sei kein triftiger Grund das Haus zu verlassen[1]Halle (Saale): Video-Pressekonferenz vom 30. März 2020 zur aktuellen Corona-Lage, 16:27min.. Der gleiche OB sagte jedoch auch, als nach Großraumbüros in Callcentern gefragt wird, deren Systemrelevanz in einigen Branchen stark angezweifelt werden dürfte: „Ich bin kein Fan von Großraumbüros. Die Ansteckungsgefahr ist zu groß“. Aber machen könne er hier nichts, beteuert er. Das liege in der Verantwortung der Arbeitgeber*innen[2]Grossraumbueros und Baustellen – Wiegand sieht derzeit keinem Möglichkeit. Die staatliche Demokratie endet, wie allzu oft, vor den Toren der Betriebe.
Ein weiteres Beispiel, bei welchem es nun auch zu Auseinandersetzungen kam, sind die schwierigen Bedingungen zur Einhaltung der Schutzmaßnahmen bei Pizzalieferdiensten. Konkret kritisierte die FAU Halle die aktuell fehlenden Infektionsschutzmaßnahmen bei dem halleschen Liefer-Unternehmen „Uno Pizza“. So beschrieb einer der Fahrradkuriere die Situation in einem Bericht:
„Hält man sich in der Filiale auf, bewegen sich bis zu sieben Menschen auf 25 m². Zwischen langen Regalen und Theken trifft man sich an einem arbeitsreichen Abend unzählige Male. Oft rempelt man sich unbeabsichtigt an oder steht sich beim Einpacken der Ware schon mal auf den Füßen. […] Es scheint mir außerdem so, als ob meine Kolleg*innen die Situation auf die leichte Schulter nehmen. Man klatscht sich herzhaft zur Begrüßung ab.“
Die FAU Halle reagierte umgehend und wendete sich in einem Offenen Brief an die Geschäftsführung. Darin heißt es:
„Leider hat die UP Gastro GmbH – zumindest bisher – nicht wie andere Lieferdienste auf bargeld- und kontaktlose Lieferung und Bezahlung umgestellt. […]“ Uns wurde berichtet, dass in Ihrem Unternehmen einfachste Hygieneregeln untereinander, gegen die Übertragung nicht eingehalten werden. […] Es werden zwei Meter Abstand zu Mitmenschen gefordert. Dies ist besonders in den arbeitsreichen Spätschichten in Ihren engen Filialen gar nicht möglich.“[3]Offener Brief der FAU Halle
Eine Reaktion der Geschäftsführung erfolgte umgehend. So wurden neue Arbeitsanweisungen verkündet. Dazu gehören kontaktloses Bezahlen und Ausliefern auf Kundenwunsch, das Bereitstellen von Desinfektionsmitteln und Einweghandschuhen, das Erstellen eines Pandemieplans, das regelmäßige Fiebermessen bei den Angestellten, sowie die Einführung von Kurzarbeit, überwiegend für Alleinerziehende.
Doch wie es scheint, gelten diese Maßnahmen nur auf dem Papier. Die Realität und der Arbeitsalltag der Köch*innen und Fahrradkurier*innen scheint anders auszusehen. So berichtete der bereits zitierte Fahrer weiter:
„Am Donnerstag kommen neue Anordnungen von oben. In unserer Whats-App-Gruppe werden drei Bilder geteilt, die den Ablauf der kontaktlosen Lieferung beschreiben. Wir sollen bei Betreten der Filiale Fieber messen, sowie die Hände desinfizieren. Es sind Schutzhandschuhe zu tragen! Ein Abgleich mit der Realität zeigt: Das Fieberthermometer stellt sich als völlig ungeeignet heraus; Desinfektionsmittel sind vier Fläschchen à 50 ml vorrätig. Das würde nicht lang ausreichen, würde sich jede*r nach einer Kontaktsituation die Hände desinfizieren. Im Stress ist dafür aber sowieso keine Zeit. […] Irgendwann gebe ich mich meinem Schicksal hin und schwimme mit dem Strom mit. Die Einweghandschuhe nerven. Kund*innen können mit kontaktloser Lieferung nichts anfangen. Die kaputten und vor Schweiß streng riechenden Firmenjacken machen nach jeder Lieferung die Runde. Meine eigene Jacke darf ich nicht zum Ausfahren nehmen.“
Kurz: Es hat sich nichts geändert. Kontaktloses Bezahlen und Ausliefern findet kaum statt. Desinfektionsmittel waren tagelang zu wenig da oder mussten teilweise mit Wasser gestreckt werden. Das Einhalten eines Zweimeterabstandes ist kaum möglich. Es wird auch nicht daraufhingewirkt. Hinzu kommt der hohe Arbeitsdruck, der selbst einfachste Maßnahmen wie regelmäßiges Händewaschen und das Tragen von Schutzhandschuhen erschwert. Die neuen Arbeitsanweisungen wurden und werden unzureichend bis gar nicht kommuniziert, so berichten die Kolleg*innen.
Die Probleme hören hier freilich nicht auf. Uno Pizza ist schon häufiger aufgefallen mit einer massiv arbeiter*innenfeindlichen Politik. Die FAU Halle sammelt hier nicht die ersten Erfahrungen mit dem Betrieb. In der Vergangenheit und auch heute wurden und werden immer wieder Strategien offenkundig, die ein konsequentes Unterlaufen des Mindestlohns zeigen. Und das vor allem im Umgang mit Minijobber*innen. Es gibt vermehrt Berichte, über Probleme mit bezahltem Urlaub, der auch Minijobber*innen zusteht und häufig keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. In einem Fall wurden einem Kollegen gar acht Stunden vom Lohn abgezogen – als Strafe für verletzungsbedingten Fehlen zum Schichtbeginn. Als der betreffende Kollege offene Lohnforderungen gewerkschaftlich geltend machte, hatte er einen Tag später die Kündigung im Briefkasten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt… Zudem berichteten ausländische Studierende, die als Minijobbende für Uno arbeiten von Rassismus. Auch für sexistische Werbeinhalte wurde Uno Pizza mehrfach kritisiert[4]z.B. bei Pinkstinks oder beim Werberat und zeigte sich uneinsichtig[5]Vgl. Bild-Zeitung. Und weiterhin, als die Polizei und die Stadt im Oktober 2019 nach dem Anschlag auf die Synagoge und einen Dönerladen eine Ausgehwarnung aussprach, weil potentiell noch Attentäter durch die Stadt laufen könnten, lieferte Uno Pizza weiter Pizza aus. Auch Unwetterwarnungen lassen die Chefs kalt. „Dass bei Sturmsituationen, auch aufgrund der windanfälligen Räder, noch nichts passiert ist, grenzt an ein Wunder“, so der Fahrer. Die Liste an Verfehlungen ist lang und könnte weitergeführt werden.
Während also Infektionsschutzmaßnahmen erst sehr spät eingeführt und quasi nicht umgesetzt wurden, konnte es dem Unternehmen aber nicht schnell genug gehen, als es hieß, in der Öffentlichkeit den Schein zu bewahren.
Nachdem die FAU Halle dem lokalen Radiosender Corax ein Interview über die Situation gab[6]Radiointerview der FAU Halle mit Radio Corax, erfolgte die Reaktion umgehend[7]Reaktion der Geschäftsführung von Uno Pizza. Geschäftsführer Thomas Kochmann äußerte sich nun selbst im Radio. Er sprach von einer großen Verantwortung, die er als Geschäftsführer für über 400 Angestellte habe. Er sagt dabei selbst, dass von diesen Angestellten ca. 90% Minijobbende sind. Was er aber nicht sagt: Damit hat ein Großteil seiner Angestellten keinen Anspruch auf Kurzarbeitsgeld. Sozialleistungen bezahlt er für sie damit auch fast gar keine. Er sagt weiterhin, es sei selbstverständlich, dass seine Angestellten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhalten und Urlaubsentgelt. So manche der Mitarbeiter*innen würden über diese Aussagen sehr staunen. Er behauptet zudem, sein Lieferdienst habe als erster auf die Corona-Krise reagiert, ja schneller noch als sogar die Bundesregierung. Fakt ist: Eine Stichprobe mit den größten Lieferdiensten in Halle hat ergeben: Uno Pizza hat mit Abstand als letzter Lieferdienst reagiert.
Dieses zermürbende Hin und Her kann man noch eine Weile weiterführen. Auf der einen Seite eine Geschäftsführung, die damit beschäftigt ist, Theater zu spielen, auf der anderen Seite frustrierte Arbeiter*innen, von denen viele es kaum zwei Monate im Betrieb aushalten und Kolleg*innen, die sich Sorgen machen, ein gefährliches Virus zu verbreiten, aber denen aus existentiellen Gründen gar keine Wahl bleibt, als das Spiel mitzuspielen.
Und damit noch einmal zurück zur Politik: Es ist in Halle also verboten, alleine im Park ein Buch zu lesen, oder sich mit mehr als einer Person draußen im Freien zu treffen, geschweige denn, öffentliche Kundgebungen und ähnliches durchzuführen. Besonders bizarr endete dies jüngst in Bremen. Dort hielten Geflüchtete eine Kundgebung ab, mit zwei Meter Sicherheitsabstand zwischen den Teilnehmenden. Nun wird gegen einige Teilnehmenden ermittelt, weil sie angeblich nicht den nötigen Abstand hielten. Nur, dass sie gegen die Unterbringung von viel zu vielen Menschen auf zu kleinem Raum protestierten, interessierte niemanden [8]Vgl. TAZ. Aber dieser (und vermutlich auch andere) Lieferdienst darf, unter widrigsten hygienischen Bedingungen, überteuerte Pizza an die Menschen liefern. Das Infektionsrisiko für alle Kolleg*innen ist hoch. Die Gefahr, dass sie das Virus weiter an Risikogruppen tragen, dementsprechend. Alle Beteuerungen der Geschäftsführung, in aller Klischeehaftigkeit von Chefs, ist nicht mehr als Theater.
Es geht hier mindestens um:
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Die Senkung des Arbeitsdrucks, um hygienische Maßnahmen im Arbeitsalltag auch umsetzen zu können.
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Schulungen der Angestellten.
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Ausreichend Desinfektionsmittel.
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Kontaktlose Zahlung und Lieferung als Standard.
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Die unbedingte Einhaltung des Zweimeterabstandes zwischen den Kolleg*innen und dass sie nicht verschwitzte Klamotten untereinander tauschen müssen.
Dies zeigt: Die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus haben eine massive Schlagseite. Betroffen sind, wie meistens, Menschen aus dem Niedriglohnbereich. In Italien haben Arbeiter*innen in Fabriken gestreikt, um nicht mehr arbeiten zu müssen und damit etwas sicherer zu sein. In Polen fordert die Inicjatywa Pracownicza (IP)[9]polnisch: Arbeiter*innen-Initiative: „Vorübergehende Schließung aller Betriebe, die während der Epidemie nicht unbedingt nötig sind und deren Arbeitsorganisation die öffentliche Gesundheit gefährdet (Lagerhäuser und Produktionsbetriebe, die keine notwendigen Waren wie Medikamente oder Lebensmittel herstellen oder liefern). 100% Lohnfortzahlung für die Arbeiterinnen und Arbeiter dieser Betriebe während der Betriebsschließung.“[10]Forderungen der IP Hört sich vernünftig an.