Nicht mein Staat, nicht mein Großraumbüro, mein Problem

Dieser Text beginnt wie vielleicht viele andere aus dem letzten Jahr mit einer einfachen Feststellung: Meine Kopfschmerzen begannen plötzlich. Das schreckliche an der Situation: Ich sitze in einem Großraumbüro. Der Raum ist geschlossen; erst seit wenigen Tagen wird darauf geachtet, überhaupt einmal pro Stunde zu lüften. Wenn ich wirklich Corona habe, ist die Gefahr da, dass ich nach sieben Stunden des Aufhaltens im geschlossenem Raum über zehn Menschen angesteckt haben könnte. Ich lohnarbeite in einem Call Center. Abtrennungssäulen teilen die einzelnen Arbeitsplätze, die Luft kann trotzdem zirkulieren. Während wir an unseren Plätzen sitzen und telefonieren, tragen wir aus technischen Gründen keine Masken.

Dies war die Vorgeschichte. Ich überspringe, wie es sich anfühlte, als mein Schnelltest positiv war; welche Ängste ich hatte; dass ich die letzten fünf Minuten von der fünfzehnminütigen Wartezeit bis zur Auswertung des Schnelltests weiter lohnarbeiten musste, obwohl bereits offensichtlich war, dass der Schnelltest positiv war. Ich komme zu meinem PCR-Test. Die ausführende Ärztin lächelt mich durch ihre zig Lagen an Schutzkleidung an. Sie hat glatte, blonde Haare. Ich kann nicht sehen, wie sie unter ihrem blauen Einwegkittel gekleidet ist. Ihr ordentliches Haar und ihrem Jobstatus zu urteilen nach, vermutlich wohlhabend und bürgerlich. Vermutlich verdient sie mindestens und hoffentlich das dreifache von meinem Gehalt.

Da sie mir nicht wortlos ein Stäbchen so tief in meinen Rachen rammen möchte, dass ich kurz vor dem Übergeben bin, unterhält sie sich ein bisschen mit mir. Sie fragt mich, wo ich meinen Schnelltest gemacht habe. Ich sage: Im Großraumbüro. Sie fragt mich, was ich arbeite. Ich sage: Ich bin Call-Center-Agentin. Die Frau erblasst, ihre Mundwinkel neigen sich nach unten und sie sagt nichts mehr.
Ich saß still auf meinem Stuhl im Testzentrum und fragte mich, ob sie keine Call-Center mag. Erst später ist mir eingefallen, dass eine Person, die ihre Gesundheit im Kampf gegen eine Epidemie riskiert, nicht erfreut sein kann, wenn sie hört, dass der am einfachsten nach Hause zu verlagernde Job weiterhin in einem Großraumbüro stattfindet. Vielleicht hat sie sich gefragt, wie diese Situation eines verkackten Scheißhaufens in Deutschland passieren konnte. Ich tue es auf jeden Fall seit meiner Erkrankung jeden Tag.

Der Fall durchs Loch im System

Die Firma, in der ich lohnarbeite, hat mir nie angeboten im Home Office zu lohnarbeiten. Ich hätte es gerne getan, weil ich die Situation als unvernünftig empfand. Zugegebenermaßen habe ich erst zu spät selbst nachgefragt – ironischer Weise drei Tage bevor Corona bei mir festgestellt wurde. Eine Weile lang verbot ich mir, darüber nachzudenken. Unterbewusst war mir klar: Eigentlich kann ich es moralisch nicht mit mir vereinbaren für eine Firma zu arbeiten, der meine Gesundheit und der Schutz von Älteren oder Menschen mit Vorerkrankungen egal ist. Das große Problem ist nur, dass mir meine Arbeit dort Spaß macht und ich mir nicht vorstellen kann, je ein Unternehmen mit entspannteren Kolleg:innen und besser funktionierendem Betriebsrat zu finden.

Durch den Buschfunk habe ich erst nach und nach herausgefunden, wieso es meinem Betrieb so schwer fällt, uns das Home Office anzubieten. Wie viel die technisches Ausstattung für’s Arbeiten zu Hause kostet, ist flexibel. Auf der Website einer Firma, die sich auf die Produktion solcher Technik spezialisiert hat, fand ich Angebote zwischen 500 und 1.500 Euro pro Mitarbeiter:in. Obwohl es auf den ersten Blick nicht so erscheint, gibt meine Firma ihr Bestes, immerhin so viele Mitarbeiter:innen wie möglich ins Home Office zu schicken. Dabei verwendet sie sehr schlechte Technik, über die sich dauerhaft beschwert wird, die sogar noch unter den 500 Euro liegt – dafür jedoch mehr Menschen vom Großraumbüro befreit. Unsere Firma hat durch die Pandemie weniger Aufträge und dadurch finanzielle Probleme. Als ich dies hörte, war ich zuerst zutiefst entsetzt, weil ich durch das offensichtliche Fehlen staatlicher Förderungen des Home Office für unsere nicht-wohlhabende Firma dachte, dass der Staat allgemein keine Förderung des Home Office für nicht-wohlhabende Firmen anbietet. Dies wäre ja sogar kapitalistisch gedacht totaler Nonsense – keine 500 Euro auszugeben für den Schutz von Arbeiter:innenleben, die im besten Fall jung sind und noch so viele Steuern zahlen könnten …

Wie ich später herausfand, gibt es diese Förderung doch. Nur ist unsere Firma eine der wenigen, die durch eine Lücke im System fällt. Unser Umsatz liegt knapp über der Förderungsgrenze. Allerdings wird dabei nicht bedacht, dass unser Call Center monatlich hohe Zinssummen zahlen muss, die aufgenommen wurden, um die Pandemie zu überstehen. Ohne Pleite zu gehen, kann es sich meine Firma nicht leisten, uns alle ins Home Office zu schicken. Pech gehabt!

Ist das Leben von Menschen in Ministerien und Behörden mehr wert?

Sollte das Thema nun für mich erledigt sein mit dem Wissen, dass unsere Firma eine Lücke im System war, weil die Gesetzte der Bundesregierung aus im Ansatz nachvollziehbaren Unvermögen nicht detailliert genug sind für Sonderfälle? Dass unsere Form von Demokratie eine bessere gesellschaftliche Form als andere ist, aber trotzdem Minderheitenunterdrückung bedeutet, ist ja nichts Neues. So „einfach“ ist es jedoch trotzdem nicht. Laut Recherche des Beratungs- und IT-Dienstleister ChannelPartner gab die Bundesregierung im Jahr 2020 nur zwischen März und September 93,5 Millionen Euro für die Home-Office-Ausstattung von Mitarbeiter:innen in Ministerien und Behörden aus. Somit wurde pro verbeamteter Person für das Home Office im Durchschnitt rund 2.300 Euro ausgegeben.[1]ChannelPartner: Was darf ein Arbeitsplatz im Homeoffice kosten?. 04.06.2021. Online unter: https://www.channelpartner.de/a/was-darf-ein-arbeitsplatz-im-homeoffice-kosten,3338469 Die Zahlen habe ich nicht nachgeprüft. Eventuell variieren sie geringfügig, repräsentieren jedoch ein relativ aussagekräftiges Bild davon, wie die Realität aussieht. Weiterhin sind, da 93,5 Millionen Euro nicht die genauste Angabe ist, Rundungsfehler zu beachten. Wenn beinah 100 Millionen Euro für’s Home Office zur Verfügung stehen und diese gerecht und spartanisch verteilt worden wären mit einer 500-Euro-Ausstattung pro Loharbeiter:in, hätten rund 187.000 statt 40.652 Menschen mit dem selben Geld versorgt werden können. Das wären rund 146.000 Menschen mehr gewesen – das 4,6-fache an Arbeiter:innen.

Diese Zahlen zu hören, ist für mich ein Schlag ins Gesicht. Die staatliche Förderung hätte für mehr Firmen angesetzt werden können, wenn nicht unnötig Tablets in die Popöchen von Beamt:innen gestopft worden wären. Ich fühle mich als minderwertig vom deutschen Staat behandelt.

Außergewöhnliche Zeiten, keine außergewöhnlichen Maßnahmen

Wer zahlt für das Home Office? Dass es nicht die arbeitende Person tun muss, die schon genug ausgebeutet wird, ist klar. Rechnung tragen müssen die Firmen oder wenn es diese nicht vermögen eine staatliche Hilfe. Dass dies in manchen Fällen nicht funktioniert, wurde im letzten Absatz gezeigt. Doch auch hier ist die Geschichte vom staatlichen Versagen nicht zu Ende und dürfte für die meisten nichts Neues sein.

Am 16. Dezember 2020 wurde beschlossen, den Einzelhandel zu schließen und die Präsenzpflicht in Schulen aufzuheben. Waren das denn schon alle Maßnahmen, als Deutschland eine Durchschnitts-Sieben-Tage-Inzidenz von fast 200 aufwies?[2]corona-in-zahlen.de Kurz gesagt: Ja. Obwohl? Weiterhin wurde gesagt: „Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber werden dringend gebeten zu prüfen, ob die Betriebsstätten entweder durch Betriebsferien oder großzügige Home-Office-Lösungen vom 16. Dezember 2020 bis 10. Januar 2021 geschlossen werden können.“[3]https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/merkel-beschluss-weihnachten-1827396, Markierung übernommen Wow, es wird darum gebeten …

Immerhin, seit dem 20. Januar gibt es eine neue Erweiterung der Corona-Arbeitsschutzverordnung, die besagt, dass alle Arbeitgeber:innen dazu verpflichtet sind, ihren Mitarbeiter:innen Home Office anzubieten, solange „keine zwingenden betriebsbedingten Gründe entgegenstehen.“[4]https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/buerokratieabbau/verordnung-zu-homeoffice-1841202 Aktuell wurde diese Verordnung bis zum 30. Juni verlängert.[5]https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/verordnung-zu-homeoffice-1841120 Diese zweite Verordnung erscheint nun doch sinnvoll.

Doch wie sieht es in der Umsetzung aus?

Im NDR-Info-Corona-Update besprachen am 6. April Korinna Hennig und Sandra Ciesek Möglichkeiten, Kontaktreduktionen zu messen. Dabei wurde eine Studie der Humbolt-Universität vorgestellt, die im Frühling 2021 eine um 11 Prozent verringerte Mobilität im Vergleich zum Jahr 2019 vor der Pandemie feststellte. (Gearbeitet wurde mit Mobilfunkdaten.) Im Frühling 2020 war die Mobilität laut der Studie um 40 Prozent gesunken. Doch nicht nur hierzu, auch zur uhrzeitlichen Verteilung gibt die Studie Werte:

„Wenn man mal schaut, wie groß die Mobilität zwischen 22 Uhr und fünf Uhr ist, dann sind das insgesamt aufsummiert 7,4 Prozent der absoluten Mobilität. Die Mobilität ist natürlich am höchsten zwischen sieben und acht Uhr morgens, da liegt sie schon bei 6,4 Prozent, oder auch zwischen 15 und 16, 16 und 17 Uhr. Da ist sie über sieben Prozent. Das sind so die typischen Stoßzeiten für Pendler, also um zur Arbeit und zur Schule zu kommen und um wieder nach Hause zu kommen.“

Hmmm, für mich scheint es recht offensichtlich, dass die effektivste Strategie im Kampf gegen die Pandemie wie im Lockdown vor einem Jahr das konsequentere Anbieten von Home Office gewesen wäre. Hören denn zu wenige Bundestagsabgeordnete das NDR-Corona-Update? Mensch könnte meinen, dass es eine gute Idee wäre, in einer Pandemie dieses oder andere Informationsmedien zu verwenden, als Politiker:in und mitverantwortliche Person für über 83 Millionen Menschen. Am 24. April, also 18 Tage nach Ausstrahlung der Folge, wurde die Ausgangssperrenregelung beschlossen und keine einzige weitere Maßnahme bezüglich des Home Office.

Ein weiteres Zitat aus dem Corona-Update, um meine These zu unterstützen: Am 11. Mai sprach Korinna Hennig diesmal mit Christian Drosten über den Vergleich mit anderen Ländern in Bezug auf frühere Öffnungen trotz höherer Fallzahlen am Beispiel der Niederlande. Ein großer Faktor dafür, dass sich unsere nordwestlichen Nachbar:innen frühere Öffnungen erlauben können, dürfte ein geringerer Teil an Beschäftigten im Industriesektor sein (in den Niederlanden 15 Prozent, während es in Deutschland 27 Prozent sind). Denn dort lassen sich Kontaktbeschränkungen besonders schwer umsetzen. Doch auch das Home Office ist dort strikter geregelt:

„[Die Niederlande haben] gleichzeitig viel mehr Dienstleistung und in diesem Land eine strikte Home-Office-Regelung, die fast Gesetzeskraft hat, die also nicht so eine unverbindliche Empfehlungsgrundlage ist, sondern wo man erklären muss, warum man in die Firma zur Arbeit geht, wenn man doch auch zu Hause arbeiten kann, wo der Arbeitgeber das auch belegen muss.“[6]Hrsg.: NDR Info: Coronavirus-Update, Folge 88 (Impfmission possible). Vom 11.05.2021. Online unter: https://www.ndr.de/nachrichten/info/coronaskript294.pdf

Fazit

Oder haben die Bundestagsabgeordneten doch den Podcast gehört und ihnen war die Wirtschaft schlicht und ergreifend wichtiger als der Schutz von Menschenleben (körperlich in Hinblick auf SARS-CoV-2, aber auch psychisch in Hinblick auf die Gefühle von Isolation und Freiheitsverlust)?

Denn klar ist: Welches kapitalistisch strukturierte Unternehmen beginnt plötzlich damit, Tausende von Euros rauszuhauen für den Schutz seiner Mitarbeiter:innen, nur weil die Bundesregierung es darum bittet? Und auch die Pflicht zum Anbieten des Home Office geht nicht weit genug, da sich anscheint trotzdem nicht genug daran gehalten wird. Wieso auch, wenn es anders als in den Niederlanden nicht überprüft wird und es genug Schlupflöcher gibt, um zu begründen, dass das Vorhandensein von Arbeiter:innen in der Firma unerlässlich wäre?

Als Anarchist:in bin ich für eine Gesellschaft, die ohne von oben verordnete Verbote auskommt. Doch da wir nun einmal in der Scheiße stecken, hätte ich mir ein bisschen mehr Regulierung im Bereich Wirtschaft gewünscht. Denn dass eine neoliberale Politik nicht funktioniert, das war doch schon vor ihrer Einführung offensichtlich. Doch da ich Anarchist:in bin, darf auch dieser Satz nicht fehlen: Ich will nicht still sein, ich will schreien, sodass es alle hören und wissen, wie fatal beschissen die Beschlüsse der Bundesregierung sind, dass sie krank machen und Leben gefährden und dass wir an einer Gesellschaft arbeiten müssen, in der niemand zur Arbeit in einem Großraumbüro während einer Pandemie gezwungen wird.

 

Foto: Ausgangsbild vom IDF (online über Wikipedia abrufbar: https://he.m.wikipedia.org/wiki/%D7%A7%D7%95%D7%91%D7%A5:Ventilators_developed_by_IDF_Unit_81_and_Sheba_Medical_Center_for_corona_patients._III.jpeg),

Bearbeitung: Texthinzufügung durch anonyme Lohnarbeiterin, Copyright: CC

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