Ein langer Weg nach Kurdistan, ein langer Weg zum Frieden

In diesem Teil berichtet der Autor subjektiv über seine Teilnahme an der #Delegation4Peace in der Autonomen Region Kurdistan. Dieser Artikel erschien gekürzt erstmalig in der September-Ausgabe der Graswurzelrevolution.

Mitte Juni 2021. Wir fahren durch die Berge der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, unsere Busse sind voller Internationationalist:innen. Das Rattern der Motoren mischt sich mit dem Hupen überholender Pickups, dem Klicken von Kameras, dem konzentrierten Tackern der Tastaturen, Sprachfetzen angeregter Diskussionen auf Englisch, Deutsch, Kurmandschi und Französisch.

Als Gewerkschafter:innen der FAU sind wir Teil einer internationalen Delegation zur Unterstützung der kommunalistischen Bewegungen der Region und zum Protest gegen einen drohenden türkischen Invasionskrieg im Nordirak. Die Busse winden sich die steilen Schotterstraßen des Zagros-Gebirges (Çiyayên Zagrosê) hinauf, wir sind keine 20 Kilometer von der Front entfernt.

In den nächsten Tagen soll unsere heterogene Delegation auf über 150 Vertreter:innen verschiedenster Organisationen, Parteien, Gewerkschaften und Medien aus über 20 Ländern anwachsen. Wir sollen uns mit Vertreter:innen von Parteien und Zivilgesellschaft, aber auch mit Geflüchteten und Kriegsopfern treffen. Ziel ist es, einen Eindruck von der Lage in der Autonomen Region Kurdistans zu bekommen, wo seit dem 24. April 2021 (Jahrestag des türkischen Völkermords an den Armenier:innen) eine großangelegte türkische Militäroffensive begonnen hat. Offiziell gilt diese der Niederschlagung der PKK im Zagros-Gebirge, viele Beobachter:innen befürchten indes darüber hinaus eine dauerhafte türkische Besetzung, Vertreibungs- und Umsiedlungspolitik in den attackierten Gebieten.

Blick zurück

2012: Mit über 25 Freund:innen sind wir auf dem anarchistischen Weltkongress in St. Imier (Schweiz). In diesem Schmelztiegel libertärer Bewegungen macht eine Nachricht die Runde und taucht über alle Tage in verschiedensten Gesprächen auf: Die kurdische PKK, verknüpft mit parteiinternen Machtkämpfen und Säuberungen, habe eine Kehrtwende gemacht. Von einer marxistisch-leninistischen Kaderpartei soll sie sich den anarchistischen Ideen des Anacho-Kommunismus und Kommunalsismus angenähert haben. Ich stutze, ist mir doch kein Beispiel in der revolutionären Geschichte für eine ähnliche Entwicklung in so kurzer Zeit bekannt. Auf dem Kongress treffe ich langjährige Freund:innen, exilierte Anarchist:innen aus der Türkei – sie bestätigen mir, das etwas dran ist, sich die Entwicklung schon mehrere Jahre vollziehe und das die kommunalistisch-kurdische Bewegung mittlerweile größere Teile Nordsyriens und auch Teile der Türkei de facto unter Kontrolle halte.

Zu Hause beginne ich zu recherchieren, mehr Informationen einzuholen, doch die Informationslage bleibt dürftig. Ein paar Artikel im Internet geben sehr unterschiedliche Einschätzungen darüber, ob es sich bei all dem wirklich um eine Konzeptänderung oder schlicht einen PR-Gag vor dem Hintergrund des weltweiten Niedergangs des autoritär-kommunistischen Lagers handelt.

Daesh, Pegida und linke Gegenwehr

Zwei Jahre später, die nordsyrische Stadt Kobane wird vom Daesh (auch bekannt als Islamischer Staat) bedrängt. In meiner Stadt, in der die kurdische Bewegung vorher weitgehend isoliert von der deutschstämmigen Linken war, kommt es am 10. Oktober 2014 zu einer ersten großen Demonstration. Es sollte die Demo werden, die an Lutz Bachmann vorbei zog und diesen dazu bewegte, Pegida zu gründen, was viele Antifaschist:innen Dresdens auf besondere Weise im gemeinsamem Kampf mit der Bewegung verbindet.[1]https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/200901/pegida-eine-protestbewegung-zwischen-aengsten-und-ressentiments Für viele der aufgetauchten deutschstämmigen Linken war es der erste Kontakt mit den kurdischen Genoss:innen der Stadt. Wir waren verblüfft und berührt von der Masse und der Stimmung der Demonstration, bemühten uns mit unseren ersten Brocken Kurmandschi, tauschten Handynummern.

Wie mir ging es vielen in und außerhalb unserer Gewerkschaftsbewegung. Wir begannen Reportagen, Einschätzungen und Dokus zu sichten und uns ein Bild von der Situation zu machen, gleichzeitig wurde die Bewegung durch ihren erfolgreichen Bodenkampf gegen den Daesh weltberühmt, Rojava ein Schlagwort, welches vielen Menschen auch außerhalb der linken Bewegung ein Begriff wurde.

Daneben hielten uns als ostdeutsche Linke in dieser Zeit aber v. a. auch lokale Geschehnisse auf Trapp: Die Zahl rechter Anschläge und Gewalttaten schoss in die Höhe, weit über ein Jahr waren 35 rechtsradikale Demonstrationen pro Woche (!) in Sachsen keine Seltenheit. Meine Genoss:innen und ich fuhren mehrmals die Woche los, vor irgendeine Geflüchtetenunterkunft, wo wir mit den Betroffenen nur mit ein paar Fahnenstangen und Pfefferspray bewaffnet notdürftig den Selbstschutz gegen einen besser bewaffneten und weit größeren rechten Mob organisierten. Heidenau, Freital, Bautzen, Dresden und Clausnitz sind nur einige der Ortsnamen, die uns zu dieser Zeit mehr im Ohr klangen als Kobanê, Dirbêsiyê, Qamişlo oder Afrîn.[2]Eine längere Reportage über die ersten drei Jahre Pegida aus Sicht des Autors erschien in der Online-Zeitung Direkte Aktion unter dem Titel: „Drei Jahre Pegida, drei Jahre Belagerungszustand

Trotzdem lernten wir gerade in dieser Zeit immer wieder Menschen kennen, die vor Ort gewesen waren, die mit unterschiedlichen Blickwinkeln, mit Fundamentalkritik oder auch voller Begeisterung in uns ein differenzierteres Bild von den gesellschaftlichen Dynamiken entstehen ließen, die sich im Nord-Osten Syriens und wenig später auch im Sindschar-Gebirge (Çiyayê Şingal) abspielten.

Keine Freunde außer die Berge

Über die vielen Stationen bis zu dem Punkt, an dem ich im Irak stand, denke ich nach, als wir aussteigen und auf die iranischen Berge und den Cheekha Dar (den höchsten Berg des Iraks) blicken. Nach 40 °C im staubig-abgasbelasteteten Erbil und fünf Stunden Busfahrt atmen wir endlich kühle Bergluft. Leider bleibt uns nur wenig Zeit die Ruhe, die Stimmung und die Höhe in uns aufzunehmen, doch alle, die wir zum ersten mal Kurdistan bereisen, wissen, dass dieser Moment unauslöschlich in unserem Kopf und unserem Herzen bleiben wird. Es ist mein dritter Tag in Kurdistan und unsere Gastgeber:innen wollen uns zunächst die Schönheit des Landes nahebringen. Das ist gelungen! Mit Blick auf das zerklüftete Gebirge, die leidvolle Geschichte der Minderheiten der Region und die immer mangelhafte Unterstützung für diese, wird mir die Tragweite des kurdischen Sprichworts „Keine Freunde außer die Berge“ voll bewusst.

Die Fahrt geht weiter, es werden Projekte besprochen, Pressemitteilungen geschrieben, Perspektiven aus verschiedenen Ländern ausgetauscht. Unterbrochen wird das rege Treiben von Checkpoints der Peschmerga-Einheiten, die meist entweder der stärksten Regierungspartei PdK (auf deutsch KDP abgekürzt) oder der zweitgrößten YNK (auf deutsch PUK abgekürzt) unterstehen. Innerhalb von zwei Tagen sehe ich so viele Sturmgewehre wie vermutlich in meinem ganzen Leben zuvor nicht. Schon am gestrigen Tag wollte eine Abordnung unserer Delegation zum Parlament fahren und sich mit Vertreter:innen der verschiedenen kurdischen Parteien treffen. Daraus wurde nichts, vorm Hotel hielten bewaffnete Kräfte die Fahrt auf. Auch wir machten erste Bekanntschaft mit Militär-Transportern und Agenten in zivil, die uns begleiten.

Während unserer heutigen Fahrt beginnen Sicherheitskräfte der Autonomen Region Kurdistan am Flughafen Erbil ankommende Mitglieder unserer Delegation die Anreise zu verweigern. Zum Schluss werden es weit über 50 sein. Viele sitzen Tage lang mit mangelnder Versorgung im Transit-Bereich fest, manche gehen in den Hunger-Streik. Das deutsche Konsulat in Erbil schweigt zu den Vorgängen. Am selben Tag werden drei Mitglieder der syrischen PKK-Schwesternpartei PYD, teils offizielle Vertreter in der Autonomen Region Kurdistan, in Erbil festgenommen und ohne Gerichtsverfahren und Beistand oder Informationen über ihren Verbleib in Haft genommen. Zwei kommen nach 50 Tagen ohne Erklärung wieder frei. Der Dritte Aktivist ist Anfang August weiterhin vermisst.

Das Problem der internationalen Aufmerksamkeit

In den Jahren 2016 und 2017 beschäftigten wir uns in unserem Syndikat (lokale Gewerkschaft der FAU) intensiv mit der bevorstehenden Gründung unserer neuen Gewerkschaftsinternationale, der Internationalen Konföderation der Arbeiter:innen[3]Online erreichbar unter: https://www.iclcit.org/ und im Zuge dessen auch mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der zapatistischen, kommunalistischen und syndikalistischen Bewegungen. Für uns wurde klar, dass diese drei Strömungen gerade die organisiertesten Versuche darstellten mit libertär orientierten Konzepten tausende von Menschen zu organisieren und sich dabei weltweit mit anderen Bewegungen zu koordinieren. Aus unseren lokalen Erwägungen flossen Anträge zur Schwerpunktsetzung der neuen Internationale ein und wurden angenommen.

Ein großes Problem für die kommunalistischen Bewegungen in Türkei, Nord-Ost-Syrien, Iran und Nordirak ist, dass ihnen internationale Aufmerksamkeit meist nur während akuter Kriegszeiten zu Teil wurde und wird. Ich war da leider zunächst keine Ausnahme. Mit dem 19. Januar 2018 sah sich die Revolution in Nord-Ost-Syrien einer neuerlichen, türkischen Invasion gegenüber. Anders als bei vorherigen Konflikten, nahm ich diesmal sehr aktiv an der Solidaritätsarbeit teil, lernte Menschen vor Ort kennen, sichtete tägliche Berichte über Frontverläufe, Menschenrechtsverletzungen und auch Videos der dschihadistischen Milizen, die als Verbündete der Türkei kurdische Kämpfer:innen vergewaltigten, verstümmelten, töteten. Natürlich hatte mich all dies schon vorher beschäftigt, doch diesmal konnte ich nicht mehr schlafen, mir verging der Appetit und ich verzweifelte ob unserer Machtlosigkeit und dem Desinteresse der deutschen Öffentlichkeit, deren Regierung den türkischen Diktator deckte, Panzer und Drohnentechnologie lieferte, um im nächsten Moment wieder etwas von humanistischen Werten und Rechtsstaatlichkeit zu faseln.

Für mich begann eine intensive Auseinandersetzung mit mir selbst, mit den eigenen Privilegien, die wir als Mitglieder von linken Bewegungen in Konsumländern wie Deutschland genießen, wie diese Gesellschaftsformen unsere Aushandlung von individuellen und kollektiven Zielen und unser Verantwortungsgefühl prägt. Die kommunalistischen Bewegungen des sogenannten Nahen und Mittleren Ostens blieben für mich derweil weiterhin relativ undurchschaubar. Nicht zu übersehen war, dass in der Berichterstattung der Bewegung für ein linkes, deutsches Publikum die eigenen Erfolge all zu rosig gemalt wurden, so dass sie leider oft der Glaubwürdigkeit entbehrten. Nicht zu übersehen war aber auch, dass die Errungenschaften der Revolution in Nord-Ost-Syrien und auch die vieler widerständiger Gemeinden in der Türkei eine krasse Verbesserung v. a. für Frauen darstellten und über die politischen Systeme al-Assads, Erdogans und des Daesh weit hinaus wiesen, mochten sie auch kein Anarchismus in Reinform sein.

Am Ende der Überlegungen stand der Entschluss, mich im Internationalen Komitee der FAU-Bundesföderation zu engagieren und mich durch Korrespondenz und Recherche so gut wie möglich mit den Verhältnissen vertraut zu machen.

Widersprüchliche Audienzen und „Displaced Persons“

Wieder im Bus, Tag vier meines Aufenthalts. Wir singen revolutionäre Musik oder blicken unseren Gedanken nachhängend aus dem Bus ins schwindende Tageslicht. Wir sind fertig vom Tag. Nicht weil wir nur drei oder vier Stunden geschlafen haben, die Sonne den ganzen Tag unermüdlich brannte oder weil wir seit zwölf Stunden nichts gegessen haben. Es sind die Widersprüche des Tages, die an uns nagen und in unseren Köpfen ihre Kreise drehen.

Am Morgen haben wir nach mehrstündiger Fahrt das religiöse Oberhaupt der Êzîd:innen getroffen, den „Bavê Şêx“ Ali Elias, der seit Ende 2020 im Amt ist. Die Êzîd:innen sind eine religiöse Minderheit, die seit Jahrhunderten verfolgt wird. Internationale Aufmerksamkeit erhielten sie ab dem 3. August 2014, als der Daesh vor ihrem Hauptsiedlungsgebiet, dem Sindschar-Gebirge stand, mit der festen Absicht das Volk der Êzîd:innen samt ihrer kulturellen Stätten zu vernichten. Das Sindschar-Gebirge im Westen des Nordirak, nahe der Autonomen Region Nordostsyrien, unterstand damals dem Schutz der Autonomen Region Kurdistan. Die Peschmerga der PdK, von der Bundesrepublik Deutschland später für die Abwehr des Daesh mit Waffen ausgerüstet, räumten die Stellungen des Sindschar-Gebirges ohne einen einzigen Schuss abzugeben und überließen zehntausende vorher entwaffnete Êzîd:innen ihrem Schicksal. Schlussendlich waren es revolutionäre Einheiten aus Nord-Ost-Syrien und der PKK, die mit US-Luftunterstützung einen Fluchtkorridor frei kämpften. Für tausende kam diese Hilfe allerdings zu spät.

Die Audienz ist widersprüchlich. Einerseits weil es um die Person Ali Elias, wie auch anderer kürzlich gewählter Oberhäupter innerhalb der êzîdischen Gemeinschaften Streit gibt. Neben den tradierten Wahlverfahren (die Führer der Êzîd:innen sind prinzipiell Männer, müssen bestimmten Familien entstammen und werden meist nur von den Eliten gewählt) wurde bei den letzten Wahlen auch besondere politische Einflussnahme und eine Nähe der Kandidat:innen zur Partei PdK unterstellt. Teile der Êzîd:innen erkennen die Wahl nicht an. Weiterhin werden bis heute Kinder aus IS-Vergewaltigungen von der êzîdischen Führung nicht anerkannt und viele betroffene Frauen fühlen sich ausgestoßen und stigmatisiert. Nach Aussagen von Êzîd:innen und ehemaligen YPG-Kämpfer:innen, die ich treffe, befinden sich hunderte betroffene Kinder in Waisenlagern der YPG in Nord-Ost-Syrien, zurückgelassen von verzweifelten Müttern. Auch die Selbstmordrate unter êzîdischen Frauen ist weiterhin hoch. Schließlich kommt mir zu Ohren, dass weibliche Kämpfer:innen der êzîdischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ und YJÊ (nach 2014 nach nord-ost-syrischem Vorbild von Kommunalist:innen aufgebaut) vom Bavê Şêx aus der êzîdischen Gemeinschaft ausgeschlossen worden sein sollen. Auf der anderen Seite vertritt der Bavê Şêx immer noch tausende Êzîd:innen, bringt uns bei der Audienz viele Probleme der Religionsgemeinschaft nahe und legitimiert mit seiner Audienz auch unsere Delegation auf dem diplomatischen Parkett der Autonomen Region Kurdistan.

Es folgt ein eindrücklicher Besuch von Lalisch (Laliş), des höchsten Heiligtums der Êzîd:innen. Auch hier haben wir widersprüchlichste Eindrücke und wir treffen eine auffällige Frau wieder, die uns schon beim Hinflug an den Fersen klebte und der wir noch verschiedentlich begegnen – ob sie BND-Agentin oder Mitglied eines anderen Geheimdienstes ist, lässt sich schwer feststellen.

Anschließend fahren wir ohne offizielle Genehmigung ins êzîdische Flüchtlingslager Sheikhan. Sieben Jahre nach dem Genozid von 2014 leben hier ca. 12.000 Geflohene in Zelten – es ist nur eines von vielen Lagern in Syrien und Nordirak und die Êzîd:innen nur eine von vielen Betroffenengruppen. Allein im Governement Dahuk (Dihok) leben einer Übersichtskarte in der Lagerverwaltung nach über 700.000 „Displaced Persons“. Nur ein Bruchteil unserer Delegation wird ins Lager gelassen, nur für kurze Zeit und mit Polizei-Begleitung. Der Rest unserer, zu diesem Zeitpunkt 60-köpfigen Delegation wird von der Lagerleitung zum Tee eingeladen. Auch hier Ambivalenz: Der Lagerleiter hat selbst Fluchtgeschichte, scheint sich sogar über die Delegation zu freuen und doch bleiben die Menschen hier in elenden Lagerbedingungen, weil das Barzani-Regime, welches sich für die Lagerführung verantwortlich zeichnet, weder materielle noch militärische Sicherheiten für die Êzîdin:innen garantiert. Viele von uns verzichten daher darauf, unter Barzani-Porträts und -Schriftzügen die Tee-Rationen der Insassen wegzutrinken und suchen am Rande des Camps das Gespräch mit den Betroffenen – so auch ich mit zwei Genoss:innen.

Wir und andere erhalten in unseren Gesprächen ähnliche Einschätzungen der aktuellen Lage: Die Leute trauen dem Barzani-Regime nicht, es waren PKK- und nord-ost-syrische Kräfte, die sowohl militärisch als auch humanitär unterstützt hätten. Sie erzählen, dass sie keine Hoffnung haben, da der Daesh immer noch stark in der Region sei, auch sonst viele Muslime den Êzîd:innen feindlich gegenüber stünden und nun sogar Daesh-Gefangene im selben Lagerkomplex untergebracht würden. Die PKK sei schließlich abgezogen, um keine Legitimation für weitere türkische Angriffe auf die Region zu liefern, die êzîdischen Selbstverteidigungseinheiten würden von kurdischer und irakischer Regierung bekämpft. Internationale Hilfen für den Aufbau êzîdischer Dörfer würden von der kurdischen Regierung in die eigene Tasche gesteckt, der Wiederaufbau und der Verkehr in und aus êzîdischen Ortschaften von Regierungsmilizen verhindert. Das Bild, das bleibt: Hunger, Elend, Trauma, Stillstand und Resignation. Da an Schlaf nicht zu denken ist, formulieren wir noch in der Nacht eine Pressemitteilung.[4]Presseerklärung der Gewerkschaft FAU: Besuch beim Oberhaupt der Êzîd*innen und im Flüchtlingslager Sheikhan vom 14. Juni

“Politik ist ein dreckiges Geschäft!”

Der fünfte Tag beginnt mit einer Überraschung: Die Bundespolizei selbst ist am Flughafen Düsseldorf aktiv geworden und hat rund 20 unserer Delegierten an der Ausreise gehindert. Da davon auch deutsche Parlamentarier:innen betroffen sind und alles danach aussieht, dass die deutschen Sicherheitsorgane hier auf direkte Anfrage des türkischen Geheimdienstes handeln, erfährt die Geschichte eine größere Öffentlichkeit in linken und konservativ-rechten Medien. Der Tag besteht für uns im Wesentlichen aus Pressearbeit im Hotel.

Durch verschiedene Medienberichte über unsere Delegation ändert die Regierungspartei PdK am nächsten Tag ihre Taktik: Nach diversen Treffen einer unserer Abordnungen mit diversen Parteien und Gewerkschaften der Autonomen Region sagt der Regierungsverantwortliche für auswärtige Angelegenheiten überraschend ein kurzfristiges Treffen zu. Noch zwei Tage vorher hatte uns seine Partei in Pressestatements wüst als Terrorist:innen beschimpft.

Das Treffen findet bei uns im Hotel statt, über 80 Mitglieder der Delegation sind anwesend. Nach diplomatischen Nettigkeiten beginnt der Quasi-Außenminister einen längeren Monolog und wiederholt die gängigen Erzählungen der PdK: Dass es sich bei der Autonomen Region Kurdistans um einen Rechtsstaat handele, die PKK diesen nicht anerkenne, dass die türkischen Angriffe die Schuld der PKK seien und sie außerdem dafür verantwortlich seien, dass die Êzîd:innen nicht in ihre Siedlungsgebiete zurück kehrten. Manche Teilnehmer:innen werden in ihren Nachfragen eindringlicher: Ob nicht verschiedene Demokratie-Konzeptionen ihre Berechtigung hätten und in jedem Fall mehr als der türkische Despotismus? Ob der Feind nicht eher die aggressive, türkische Autokratie sei als die PKK? Unser Gegenüber verfällt in Realtalk: Welche Optionen die Autonome Region gegen das NATO-Land Türkei denn hätte? Ob die Regierungen unserer Herkunftsländer irgendetwas für den Schutz der irakischen Kurd:innen unternehmen würden, käme es zum Krieg? Es fallen die Worte „Politik ist ein dreckiges Geschäft!“ und auf die Nachfrage, ob nicht wenigstens die Grenzen nach Nord-Ost-Syrien geöffnet werden könnten, um die ausblutende Bevölkerung dort mit dem Nötigsten zu versorgen, ist die klare Antwort: „Nein, weil wir überleben wollen!“ Nach diesem Wortgefecht verlässt der Politiker nebst seiner Leibwächter eilig und sichtlich wütend das Gebäude.

Noch in der Nacht steigt die Präsenz ziviler Agenten unerträglich an. Schon in den letzten Tagen waren offensichtlich Hotelzimmer in unserer Abwesenheit durchsucht worden und immer einige Spitzel zu gegen, doch ab jetzt bis zur Abreise der Delegation aus Erbil bevölkern ganze Scharen die Lobbys der Hotels, in denen wir uns bewegen.

Bei einer Auswertung der Gespräche mit den restlichen Parteien und Organisationen kristallisieren sich später zwei Kernforderungen heraus, bei denen sich alle einig sind: 1. Die PKK muss von den internationalen Terrorlisten verschwinden, da diese Einordnung einerseits ungerechtfertigt ist und andererseits die internationale Legitimation für die türkischen Angriffskriege liefert. Andererseits: Es darf zu keinerlei Gefechten zwischen PKK-Milizien und Peschmerga kommen.

Am darauffolgenden Tag wird unsere geplante Demonstration inklusive Pressekonferenz vor dem UN-Sitz in Erbil verboten. Unser Hotel wird von bewaffneten Kräften mit Sturmgewehren umstellt, wir dürfen das Gebäude nur einzeln für Besorgungen verlassen. Kurzerhand wird die Pressekonferenz unter Anwesenheit von Polizei und Peschmerga in der Hotellobby abgehalten. Ich schreibe eine Pressemitteilung, umringt von türkisch sprechenden Agenten und keine 20 Meter vom Lauf der nächsten AK 47 entfernt. Trotz des Verbots des Protests bleibt ein Erfolg:

Alle namhaften Medien der Region sind vertreten, das Thema ist in der lokalen Öffentlichkeit voll gesetzt, kritische Stimmen aus der Region, vorgetragen durch uns Internationalist:innen, können vom Barzani-Regime nicht zum Schweigen gebracht werden.

Am achten Tag reise ich schweren Herzens ab, viele andere bleiben. Beim Flug treffen wir wieder auf die mutmaßliche BND-Agentin. In Düsseldorf empfängt uns eine große Solidaritätskundgebung und ein ebenso großes Polizei-Aufgebot, das sich aber zurück hält – uns schützt vermutlich die gesteigerte Aufmerksamkeit deutscher Medien.

Der Rest der Delegation wechselt im Anschluss ins YNK-dominierte Gebiet, wo der Repressionsdruck nachlässt. Es kommt zu Fahrten in direkte Frontnähe, Treffen mit Kriegsopfern, Demonstrationen und Auftritten in diversen kurdischen Medien. Je später unsere Mitdelegierten nach Deutschland zurückkehren, desto unfreundlicher wird der Empfang. Zuletzt werden Gepäckstücke illegal durchsucht und entwendet, Rückkehrer:innen teils zu Boden geworfen, mehrere Stunden festgehalten und befragt. Weitere Repression wird sicher folgen, wenn das Medieninteresse völlig verebbt ist.

Kampf gegen die Resignation

Es ist Anfang August. Hinter mir liegen Vorträge und Interviews zum Thema, ebenso mischt sich Alltagsstress und Lohnarbeit ein. Die Fahrt erscheint schon wieder unglaublich lang her, surreal und entrückt. Und trotzdem reichen die Zeilen lange nicht, um zu erzählen, was ich den Leser:innen gerne vermitteln würde.

Unsere Delegationsreise kann sicher als ein Versuch begriffen werden, öffentliche Debatte auch dort herzustellen, wo sie unterdrückt wird. Sie war ebenso eine Suche nach neuen Konzepten in einer Situation, in der Großmächte mit einer historisch nie dagewesenen militärischen Übermacht das Leben zigtausender Menschen und eben auch die Hoffnung auf (basis-)demokratische und humanistische Gesellschaftsformen bedrohen. Ende Juni war in einer österreichischen Zeitung zu lesen, dass sich zumindest in der Autonomen Region Kurdistan daraufhin mehr und mehr Widerstand gegen eine Hinnahme der türkischen Aggression von Seiten der großen Parteien und der Peschmerga-Einheiten regt.

Trotzdem bleibt ein Gefühl relativer Machtlosigkeit in mir zurück, denn der PdK-Vertreter hatte an einem Punkt Recht: Selbst die Autonome Region Kurdistan und die Autonome Administration Nord-Ost-Syrien hätten allein gegen die NATO-Armee der Türkei kaum eine Chance, selbst wenn sie effektiv zusammen kämpfen könnten und wöllten. Der Krieg wird in den Ländern entschieden, die das Erdogan-Regime wirtschaftlich und politisch am Leben erhalten, also u. a. in Deutschland.

Um so länger ich mich mit den sozialen Kämpfen außerhalb von Europa befasse, Freund:innen und Genoss:innen kennen lerne, die im Kampf fallen oder mir ihre Geschichten des Verlusts und ihrer Entbehrungen erzählen, desto mehr befremdet mich, welche Urteile, welchen Luxus und welche Privilegien sich selbst eine radikale Linke in Deutschland als scheinbar selbstverständlich heraus nimmt. Diese mangelnde Empathie und das mangelnde Verantwortungsgefühl ist ein großes Problem. Ein anderes, noch schwerwiegenderes Problem ist, dass Öffentlichkeitsarbeit und Protest in Deutschland und anderswo wenig bis gar nichts bewirken wird, wenn die wirtschaftlichen Interessen in eine andere Richtung weisen. Als Belege für diese Aussage sei nur beispielhaft der Massenprotest gegen die Agenda 2010 (um 2004) genannt oder auf die völlig verzerrten Reaktionen der Politik bezüglich der Forderungen der aktuellen Klimabewegung verwiesen.

Als Internationalist:innen und Humanist:innen bleibt uns in Deutschland aus meiner Sicht deshalb nichts anderes übrig, als unsere eigenen Privilegien immer wieder kritisch zu überprüfen, uns in möglichst breiten, globalen und radikaldemokratischen Organisationen zu engagieren und darauf hinzuarbeiten, dass wir selbst wirtschaftlichen Schaden in solch einem Maße verursachen können, dass wir gegenüber den wirtschaftlichen Interessen an der Unterstützung der einen oder anderen Diktatur und Autokratie Gehör finden müssen.

Dieser Weg ist lang, steinig, ein Kampf gegen die eigene Resignation und die Resignation der Mitmenschen. Auf diesem Weg sehen wir als Internationalist:innen immer wieder Freund:innen und Genoss:innen sterben. Ich kann daher nur alle Leser:innen bitten, sich den nötigen Organisierungs- und Bildungsprozessen anzuschließen und ihn zu beschleunigen.

Im nächsten Teil

Im dritten Teil schreibt Steff Brenner aufbauend auf seinen Erfahrungen und Blickwinkeln zu möglichen Problemen und Strategien internationalistischer Strategien anarchosyndikalistischer Bewegungen.

 

Fotos & Titelbild © Steff Brenner

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