Seit über einem Jahr sitze ich mit Kurzarbeit im Home-Office. Der große Kulturbetrieb, in dem ich angestellt bin, ist auf wenige Quadratmeter zusammengeschrumpft. Online-Besprechungen im Team und die Betreuung von online-Veranstaltungen sichern mir und meiner Familie das Brot auf dem Tisch. Wir igeln uns ein, unser Haus ist das Raumschiff, mit dem wir abgekapselt durch diese Pandemie steuern.
Während ich mich online mit den Kolleg:innen austausche, ein paar Anträge für nette Digitalprojekte schreibe und online Gespräche mit Feministinnen moderiere, stellen Hunderttausende Lebensmittel her, transportieren existentielle Waren, schuften in Krankenhäusern, holen den Müll ab. Ganz klar: Ich und mein Job sind nicht systemrelevant. Weder im Sinne einer Lebensnotwendigkeit, noch im Sinne der Kapitalverwertung und auch nicht zum Aufrechterhalten des Status Quo.
Kulturarbeit in unserer Gesellschaft ist – außerhalb der Pandemie – in dem bisherigen Umfang möglich, weil die Triebkräfte des Kapitalismus die gesellschaftlich notwendige Arbeit von zwei Seiten zusammenpressen. Auf der einen Seite wirken die fortwährenden technischen und organisatorischen Innovationen und machen immer weniger totale Arbeitszeit notwendig. Auf der anderen Seite schafft aber nur die Lohnarbeit Mehrwert und damit Kapital – daher wird der Raum, die die Innovationen für eine bessere personelle Ausstattung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit eigentlich schaffen, nicht ausgeschöpft, im Gegenteil. Mit der Notwendigkeit von Produktivitätssteigerung geht der Druck zu Einsparungen einher, das Grundparadoxon des Kapitalismus.
Alles muss raus
Also arbeiten immer weniger Menschen in den lebensnotwendigen Berufen, um immer mehr Menschen am Leben zu halten. Die Übrigen, die eigentlich gebraucht würden, um die wirklichen Bedarfe im Gesundheitswesen, in der sozialen Arbeit, im Wohnungsbau und vielen weiteren Bereichen zu decken, orientieren sich nicht an der gesellschaftlichen Notwendigkeit, nicht an den unmittelbaren Bedürfnissen, aber auch nicht an ihren eigenen Vorstellungen, auch wenn gerade wir im Kulturbereich uns das natürlich gerne einreden. Wir versuchen uns allein auf der Angebotsseite des Marktes. Wir sind ein Angebot, das bestrebt ist, Nachfrage zu generieren, zu der natürlich auch die staatliche Kulturpolitik und das Stiftungswesen zählen. Wir versuchen, Konsum zu stimulieren, um dadurch als Wert in Erscheinung zu treten. Wir sind der personifizierte Fetischcharakter der Ware.
Die Kampagnen der Kulturinstitutionen in der Pandemie, die auf eine „Systemrelevanz“ setzten, waren erfüllt von dem Bewusstsein darüber, dass Kultur natürlich nicht systemrelevant ist und somit Ausdruck von purer Angst. Ohne zahlendes Publikum, ohne Markt bleiben nur noch staatliche Zuwendungen, in einer Situation, in der ein sich seit Jahrzehnten unterfinanziert gebender Staat selbst vor sinkenden Einnahmen und steigenden Ausgaben steht. Doch auch der Staat ist von Angst getrieben. Kontrollverlust, Zusammenbruch des Binnenmarktes, weitere politische Zersplitterungen – die Liste der Horrorvorstellungen in den Köpfen der Politikberater:innen angesichts der Pandemie dürfte noch wesentlich länger sein.
Kulturbetriebe werden notdürftig am Leben gehalten, schon unter der Notdürftigkeit erhalten die vielen Freien des Kulturbetriebes – neben den Künstler:innen auch Techniker:innen & organisatorische Helfer:innen – eine besonders prekäre Form der Existenzsicherung. Keine unbefristeten Ansprüche können gestellt werden, sondern Almosen abhängig von politischen Konjunkturen werden vergeben – die so genannten Corona-Hilfen für freie Künstler:innen sind sozialpolitisch gesehen sogar noch prekärer als das Hartz-System. Und selbst um diese Hilfen musste zäh gerungen werden.
Steine fressen
Ein weiteres „Instrument“, wie staatliche Transferleistungen gerne genannt werden, ist das so genannte „Neustart Kultur“ Programm. Hier werden über Zuwendungsgeber:innen Gelder für Investitionen, digitale Programme sowie Projekte im Kulturbereich ausgeschüttet. Anstatt eben auch die Freien im Kulturbereich mit einer ausreichenden Existenzsicherung in der Pandemie, in der Arbeitslosigkeit auszustatten, klebt der Staat am Akkumulationsritus: Mittel müssen investiert werden, um Beschäftigung zu schaffen, um Konsum anzukurbeln, um Gewinne zu erwirtschaften. Die beantragenden Kulturinstitutionen & Träger:innen von Kulturarbeit sollen freie Künstler:innen, Techniker:innen usw. von den Mitteln bezahlen, soweit sie sie nicht brauchen, um das eigene Personal halten zu können. Ohne in Abrede stellen zu wollen, dass dabei inhaltlich spannende Projekte entstehen, dass es dafür auch (online) Publikum gibt, ähnelt dieses Vorgehen strukturell doch dem der Britischen Verwaltung in Irland während der großen Hungersnot im 19. Jahrhundert. Hilfen wurden nur gegen den Nachweis von Arbeit gewährt, weshalb der irische Westen bis heute von unzähligen kleinen Mauern durchzogen ist. Mangels anderer Arbeit schichteten die durch Kartoffelfäule und Tierseuchen arbeitslos gewordenen Bauern und Bäuerinnen sinnlos Steine aufeinander, zogen Mauern, die niemand brauchte, da das vom modernen kapitalistischen Geist durchzogene Britannien keine Hilfe ohne individuelle Leistung ausschütten wollte.
Meine Arbeitskraft ist zu einem Sinnbild von Lohnarbeit im hochentwickelten Kapitalismus geworden. Vernetzt mit einer unüberschaubaren Anzahl an Personen und Institutionen, potentiell jederzeit einsetzbar, auf Investitionen & Kund:innen wartend, prinzipiell überflüssig und austauschbar. Ich sitze im home-office, höre meine Kinder, die nicht in die Kita können, schreien, und mir wird bewusst, dass mein Hauptjob die Sorgearbeit sein muss. Ich organisiere online-Veranstaltungen, die neben Trilliarden von Youtube-Clips und Facebook-Videos bestehen müssen, die nur ein Bausteinchen in der postmodernen Unterhaltungsindustrie sind, eine Industrie, die nicht auf mich gewartet hat. Corona hat mich von der Überidentifikation mit meiner Arbeit geheilt, von dem Anspruch der Selbstverwirklichung durch Kulturarbeit, von der Konstruktion eines großen gesellschaftlichen Sinns meines Tuns, für den man die niedrige Bezahlung gern in Kauf nimmt. Eine Gesellschaft, die Überfluss produzieren könnte, produziert Überflüssige. Ich wünschte, es wäre andersherum.
Foto: Ben Rudiak-Gould/ Steinmauer aus der Zeit der großen Hungersnot im Burren, Westirland