„Sie sprangen über den schmalen Bach und wollten gerade zu den Tannen losrennen, als sie plötzlich vor Schreck zusammenfuhren: Ein rotes Band war als Absperrung zwischen den Bäumen gespannt. […] Zögernd gingen sie auf die Absperrung zu, und nach wenigen Metern erkannten sie, dass jemand an einen besonders dicken Baumstamm ein Schild genagelt hatte. Sie lasen die wenigen Worte im Stillen und wiederholten sie dann halblaut: »Holzsammeln ab sofort verboten! Holzdiebe werden hart bestraft. Dieser Waldabschnitt ist verkauft!«“[1]Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut, S. 25–26.
So beginnt das Abenteuer der beiden Protagonist:innen Karl und Rosa in „Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut“.
Von kinderbeeinflussender Start-up-Ideologie zum eigenen Kinderbuch
Autoren dieses Abenteuerromans sind Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt, die Bekanntheit erlangten durch ihre Veröffentlichung „Influencer. Die Ideologie der Werbekörper“ und den Wirtschaftspodcast „Wohlstand für alle“. Im Zweiteren erschien im April 2022 eine Rezension zu dem Kinderbuch „Die Start-up Gang“ vom Unternehmer und Veronica-Ferres-Ehemann Carsten Maschmeyer – ein ideologisch motiviertes Buch über Schulkinder, die beim Start-up-Gründen erfahren, welche tollen Chancen der freie Markt angeblich allen fleißigen Menschen eröffnen würde und unterschwellig Wettbewerbsdenken und Verwertungslogik propagiert. Wie Nymoen und Schmitt bemerken, habe dieses Buch, das sie kurz vors Überschnappen gebracht habe[2]Vgl. Wohlstand für alle, Ep. 139, Min. 0:15–0:17, online unter https://wohlstandfueralle.podigee.io/139-maschmeyer-start-up-gang, sie dazu inspiriert, nun ein eigenes Kinderbuch mal in gut und von der richtigen Perspektive aus zu schreiben.[3]vgl. Wohlstand für alle, „Neu erschienen: Unser Kinderbuch “Die kleinen Holzdiebe”, 12.08.24, Min. 2:48-2:52, online unter https://wohlstandfueralle.podigee.io/1848-neu-erschienen-die-kleinen-holzdiebe
Rund ein Jahr später erschien mit der Episode „Marx und die Holzdiebe“ in „Wohlstand für alle“[4]Episode 197, 17.05.2023, online unter https://wohlstandfueralle.podigee.io/197-marx-holzdiebe eine nicht minder inspirierende Folge, die exemplarisch und vor allem bildhaft das Sich-Ausbreiten bürgerlicher Eigentumsideologie thematisiert. Und so schnell war die Idee eines Kinderbuchs entstanden.
Ganz nach der Idee eines linken Kinderbuchs mit wirtschaftsökonomischem Bildungsanspruch sind die Protagonist:innen Karl und Rosa: zwei Kinder, die auf das Insel Feudalia auf dem Hof ihrer (Zieh-)Eltern wohnen. Eines Tages wird das Holzsammeln auf der Insel verboten. Menschen von der Nachbarsinsel Capitalia hätten den Wald gekauft, verkündet die Königin von Feudalia. Ab jetzt wollten die beiden Inseln Handel betrieben, was angeblich mehr Wohlstand und Spielzeug für die Feudalia-Inselbewohner:innen bringen würde, laut den beiden Beratern der Königin. Da die Feudalia:innen ohne das heruntergefallene Holz aus dem Wald im Winter nicht mehr ihre Höfe beheizen und damit bewohnen können, sind sie gezwungen in die Stadt zu ziehen und in Fabriken zu arbeiten. So auch die Familie von Karl und Rosa. In der Stadt angekommen, beginnt der zweite Teil des Romans, das Elend und das Abenteuer.
Akkumulation, Hofnarrenberater und Arbeitslager
Exemplarisch und gut verständlich wird an der Geschichte das Ausbreiten des Kapitalismus deutlich. Besonders hervorzuheben ist dabei die Idee und Umsetzung des Themas. Wie auch Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt mehrfach erwähnten, gibt es bereits eine gute Menge an Kindersachliteratur über dieses und ähnliche Themen, doch woran sich Linke noch üben könnten, ist die massentauglichere, unterhaltsame Aufbereitung von Themen in Form von Abenteuergeschichten. Wie ersichtlich könnte dies nicht nur hilfreich sein, um massentauglich zu werden, es macht auch einfach Spaß. Diesen Unterhaltungswert haben Nymoen, Schmitt und der Illustrator Nick-Martin Sternitzke mit Bravur umgesetzt. Der Roman liest sich wie ein journalistischer Marx-Artikel – allerdings in lebendig gewordener und noch mitreißenderer Form. Nicht nur die Geschichte ist fesselnd, auch Sternitzkes liebevolle Illustrationen tragen extrem zur Lesefreude bei. Es kommen schräge Figuren vor, wie ein Papagei, der häufig „Akkumulation“ krächzt und die beiden Berater der Königin sind die umfunktionierten Hofnarren.
Die Altersempfehlung wurde auf zehn Jahre hochgesetzt und der Roman richtet sich auch an erwachsene Leser:innen. Um ehrlich zu sein: Ich musste fast weinen, als ich im überfüllten Zug saß, auf dem Weg zur Arbeit, die Presseversion des Textes auf meinem Smartphone in der Hand und die Stelle las, an der eine der Figuren ins Arbeitslager geschickt wurde. Ich musste viel darüber nachdenken, ob die Altersempfehlung ab zehn Jahren zu niedrig wäre. Sie ist gerechtfertigt meiner Meinung nach (natürlich sollten Eltern sowieso immer gucken, was die individuelle Belastungsgrenze ihrer Kinder ist).
Vermutlich trifft der Roman erwachsene Leser:innen mehr, denn wir sind uns schmerzlich darüber bewusst, dass der fiktive Abenteuerroman, in dem es darum geht, wie Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und zu entwürdigender Arbeit gezwungen werden, in etwa so tatsächlich stattfand. Und er erinnert uns daran, wie sehr wir – manche mehr, andere weniger – unter unseren eigenen Arbeitsbedingungen leiden. Daher ist es traurig, doch leider ist der Roman eine sinnvolle Lektüre, um Kinder auf entwürdigende Arbeitsbedingungen, die sie vermutlich in irgendeiner Form erleben werden, vorzubereiten. Besonders bitter und den Finger auf den genau richtigen wunden Punkt legend, wird die Geschichte, wenn wir sie kolonialgeschichtlich betrachten.
„Das Kapital hat kein Gesicht“
Das Schönste an dem Roman ist, dass ein Kinderbuch geschrieben wurde, das keiner Gut-Böse-Dichotomie anheimfällt. Als Person, die sich künstlerisch mit Kinderbüchern auseinandergesetzt hat, hatte ich bereits ein paar Diskussionen mit Erzieher:innen, ob meine Enttäuschung über die große Fixierung auf das Gut-gegen-Böse in Kinderliteratur übertrieben sei und eine differenziertere Darstellung der Welt für Kinder nicht zugänglich sei. „Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut“ ist ein Beweis dafür, dass es möglich ist, kindgerecht eine komplexe Welt darzustellen. So stellt zum Beispiel Karl fest: „»Das ist kein Mann und keine Frau, das Kapital hat kein Gesicht. Oder anders gesagt: Es hat ganz viele Gesichter. Die Gesichter sind austauschbar.«“[5]„Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut“, S. 200.
Und nach ein paar düsteren Kapiteln im Arbeitslager folgt der emporhebende Widerstand der Arbeiter:innen in marxʼscher Manier. Das Ende sei nicht vorweggenommen; ich jedenfalls konnte im Zug auf dem Weg zur Arbeit sitzend und lesend wieder lachen und mich fragen, wie auch ich gegen meine schlechten Arbeitsbedingungen angehen kann. Und so bereitet der Roman Kinder nicht nur auf entwürdigende Arbeitsbedingungen vor, er zeigt ebenso, dass wir gemeinsam etwas dagegen tun können. Es kann ehrlich gesagt werden: „Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut“ ist ein inspirierender Roman über die Entstehung des Kapitalismus und Arbeiter:innenwiderstand, der Groß und Klein sehr unterhalten wird.
Bildnachweis: Copyright des Covers: beim Insel Verlag, (Bild-Hintergrund-Zusammenstellung von der DA)