Skizze eines konstruktiven Sozialismus (Teil 2)

Die strategische Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse – das ist der Gegenstand von Transformationspolitik. Was das im syndikalistischen Zuschnitt bedeutet, wurde im ersten Teil der Artikelserie angerissen.[1]Siehe Holger Marcks, »Skizze eines konstruktiven Sozialismus (Teil 1). Syndikalistische Transformationspolitik: Die Vermittlung zwischen Realität und Utopie«, auf: direkteaktion.org, 3. Sept. 2018 (online hier). Zugleich wurde dort argumentiert, dass im Syndikalismus bereits das Prinzip des Programms vorweggenommen wurden, auf das linke Debatten derzeit hinauslaufen: eine aufbauende Sozialtechnik, die nicht auf unmittelbaren Ordnungsbruch abzielt, sondern die Vermittlung zwischen Realität und Utopie vorantreibt. Derlei Transformationspolitik lässt der revolutionären Sehnsucht ihre Geltung, ohne die Arbeit am Bestehenden für ein ungewisses Abenteuer zu suspendieren. Dieses Prinzip gilt es im Folgenden nun auszudifferenzieren. Denn bisher wurde der Gegenstand nur auf einer metapolitischen Ebene betrachtet.[2]Metapolitik ist hier nicht im spezifischen Sinne der ›Neuen Rechten‹ gemeint, die darunter ein Agieren im ›vorpolitischen‹ Raum versteht, um diskursive Macht über Begriffe und Leitvorstellungen zu gewinnen, sondern meint hier allgemein die übergeordnete Bestimmung politischer Prinzipien, aus denen konkrete Politiken überhaupt erst folgen. Das heißt, es wurden neuere Transformationstheorien in einen begrifflichen Bezug zum Syndikalismus gesetzt, um die Fluchtpunkte analoger Denkarten herauszustellen. Sie bilden die programmatische Silhouette ab, an der sich ein überhistorisches Prinzip abzeichnet. Wie sich jene Silhouette füllen und damit das Prinzip zu einem differenzierten Programm ausfächern lässt, ist hingegen mit Blick auf politische Ebenen zu beantworten, die Zweck, Ziel und Mittel der Transformation tangieren –[3]Die Achse von Zweck, Ziel und Mittel stammt aus Carl von Clausewitz‘ Kriegstheorie, hat sich aber auch als Schema bewährt, um politisches Handeln zu analysieren oder reflektieren. In diesem Schema wird der Zweck durch den (prinzipiellen) politischen Anspruch, das Ziel durch eine (zweckdienliche) Strategie und die Mittel durch (zielführende) Taktiken bestimmt. und dies vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen und aktueller Bedingungen.

Gerade die unterschiedlichen Ebenen politischer Praxis und deren Ineinandergreifen sind in den neueren Transformationstheorien ja unterbeleuchtet. Wie bereits erörtert, malen diese zwar das originär syndikalistische Prinzip nach, dass ein freiheitlicher Sozialismus aufzubauen ist, indem durch Organisationsformen, welche die Utopie präfigurieren, neue Gesellschaftsformen etabliert werden. Doch wie diese realutopischen Keimformen Wirkungsmacht erlangen und zu einer Gegenmacht ausgebaut werden sollen, wird von ihnen kaum ausbuchstabiert. So identifizieren sie auf sozialtheoretische Weise Prozesse und Mechanismen der Transformation, aber keine Praxen, die diese taktisch und strategisch zu aktivieren vermögen. In der Debatte um ›Neue Klassenpolitik‹ wiederum finden sich zwar Vorschläge für horizontale Organisationspraxen, in denen man Potentiale für Mobilisierung und soziale Kämpfe sieht, doch sind diese in keine Sozialtheorien eingebettet, mit der sich ein Programm der Transformation entwickeln ließe. Immerhin erfordert dieses nicht einfach Konzepte für erfolgreiche Basisorganisierung, sondern eben solche für eine erfolgreiche transformatorische Basisorganisierung. Es ist nämlich das eine, Menschen zu mobilisieren und Kämpfe zu gewinnen, und das andere, da heraus Strukturen und Institutionen zu entwickeln, die so etwas wie eine Gegengesellschaft ermöglichen.

In dieser Kunst versuchte sich stets der Syndikalismus, dessen originelles Moment nicht etwa ist, die Basisorganisierung erfunden zu haben, sondern daraus Bausteine der Gegenmacht formen zu wollen. Sie ist demnach kein Selbstzweck, sondern soll zur Befreiung ermächtigen. Aufgrund dieses Zwecks, der eine ständige Ausbaufähigkeit von Handlungsmöglichkeiten annimmt, ist ein konstruktiver Sozialismus, wie Pierre Ramus einst herausarbeitete, vor allem als Praxistheorie zu konzipieren, was wiederum eine Gesellschaftsanalyse voraussetzt, »die die Motive und Hintergründe menschlichen Handels klärt«.[4]Ilse Schepperle, Pierre Ramus. Marxismuskritik und Sozialismusrezeption, München 1988, S. 231. Denn nur oberflächlich geht es darum, Staat und Kapitalismus alternative Strukturen entgegenzusetzen. In der Tiefe besteht das Werk vielmehr darin, breite Massen für solche Strukturen zu interessieren, sie darin einzubinden und durch sie zu erheben. Das sind jeweils Aufgaben, die auf unterschiedlichen Handlungsebenen zu lösen sind. So erfolgt das Interessieren auf meso- (Organisationen als kollektive Akteure), das Einbinden auf mikro- (Organisationen als zwischenmenschlicher Kosmos) und das Erheben auf makropolitischer Ebene (Organisationen als soziale Institutionen).[5]Die Mittel bzw. Taktiken vermitteln dabei zwischen Mikro- und Mesopolitik, das Ziel bzw. die Strategie zwischen Meso- und Makropolitik und der Zweck bzw. der politische Anspruch zwischen Makro- und Metapolitik. Zugleich müssen sich die damit verbundenen Ziele und Mittel konsistent zum Zweck verhalten, wenn präfigurative Politik aufgehen soll.[6]Grundsätzlich fragt Taktik nach der richtigen Mobilisierung für strategische Interaktionen und Strategie nach den richtigen Interaktionen für politische Ziele. Gerade präfigurative Politik muss über diese Linearität hinaus den politischen Anspruch immer in die Taktiken zurückspiegeln, also zirkular denken, wenn der Zweck nicht schon durch die Wahl der falschen Mittel unterlaufen werden soll. Wir werden das im Folgenden nun durchdeklinieren, angefangen bei der Mesopolitik.

Vermittelbare Vermittlungsformen: Das Puzzle der realutopischen Sozialtechnik

Es ist das Verdienst von Sutterlütti und Meretz, die Denkbarkeit einer Neuordnung abseits des revolutionären Bruchs gestärkt zu haben. Gerade mit ihrem Modell des »Fünfschritts« liefern sie eine Sozialtheorie für einen qualitativen Systemwandel, bei dem Keimformen für einen Funktions- und Dominanzwechsel sorgen.[7]Siehe Sutterlütti & Meretz, Kapitalismus aufheben, S. 202–209. Plausibel ist ein solches Modell nicht zuletzt deswegen, weil auch der Kapitalismus sich aus Keimformen zum dominierenden System entwickelt hat, ganz ohne revolutionären Bruch – und doch alles so radikal durchdringend. Insofern liefern die Autoren eine Plausibilisierung dafür, dass revolutionäre Arbeit am Bestehenden ansetzen kann, womit sie der plumpen Vorstellung mancher Linker entgegenwirken, alles, was nicht immer ums Ganze ginge, würde zwangsläufig vom System geschluckt. Zweifelhaft wird es aber, wenn sie zu den Szenarien eines solchen Entwicklungsprozesses kommen. Denn obwohl in ihrem Werk viel von Aufbauen die Rede ist, erscheint dieser Prozess doch weitestgehend passiv, als etwas, das der Gesellschaft geschieht. Diesen Eindruck erweckt zumindest ihre Suche nach potentiellen Keimformen, die sie etwa in linken Kollektiv-Projekten, Formen der Solidarischen Ökonomie oder Wissenscommons wie Wikipedia finden und deren »commonistische Vermittlungsform« letztlich »transpersonale Beziehungen« schaffen soll, die zur gesellschaftlich allgemeinen Struktur werden.[8]Siehe ebd., S. 209–233.

Diese Szenarien erschöpfen sich vor allem in abstrakten Vorstellungen vom Werden eines »Commonismus«, die sich wie eine Prophezeiung lesen. Von der aktiven Konstruktion, dem schöpferischen Aufbau, liest man dabei nichts. Ebenso wenig wird – abgesehen von normativen Versprechungen – eine Konstitution der Zielgesellschaft ausgemalt, was die Autoren ja eigentlich einzufordern scheinen. Vermutlich ist diese Zurückhaltung der linken Mentalität geschuldet, bloß nicht zu viel vorgeben zu wollen, damit sich alle linken Projekte darin wiederfinden können, egal wie dysfunktional oder unvereinbar sie sind. Vielleicht hallt hier auch die marxistische Logik mit ihrem strukturalistischen bias nach, die der agency, also der Handlungsmacht von Akteuren,[9]In den Sozialwissenschaften ist es eine nicht endende Debatte, inwieweit menschliches Handeln durch soziale Strukturen determiniert oder von freien Entscheidungen getrieben ist. Je nachdem, wie einseitig sich Perspektiven in diesem Spannungsverhältnis verorten, spricht man von einem bias, also einer Art Schieflage. kaum Platz einräumt und, wie Ramus deutlich machte, »menschliches Handeln dahingehend einschränkt, Ereignisse zu erwarten, anstatt aktiv die eigene Geschichte zu gestalten.«[10]So seine Position zusammengefasst von Schepperle, Pierre Ramus, S. 230. Für seine fundierte Marxismus-Kritik in aller Ausführlichkeit siehe Pierre Ramus, Die Irrlehre des Marxismus im Bereich des Sozialismus und Proletariats, Wien & Leipzig 1927. In jedem Fall geraten sie so in Widerspruch zu ihren eigenen Prämissen, wonach sie skeptisch sind, »dass sich die Projekte einfach irgendwie vernetzen und dadurch ein ›commonistischer Raum‹ entsteht, der irgendwann den Kapitalismus ablöst.«[11]Sutterlütti & Meretz im Interview mit Konicz, »Wir hoffen« (online hier). Zumindest steuern sie wenig Konkretes zur Lösung des auch von Hardt festgestellten Problems bei, dass es einer »konstituierenden Macht« bedarf, die »im großen Stil« die »Instituierung« neuer Beziehungsweisen angeht.[12]Hardt im Interview mit Trott, »Von destituierenden Bewegungen«, (online hier).

Der so entstehende Eindruck, dass die Ansätze des Neuen bereits da sind und diese nur wahrgenommen und quantitativ ausgedehnt werden müssen, um zu einem qualitativen Wandel zu führen, ist auch deswegen kritikabel, weil der Kapitalismus, der als Beispiel für eine Keimformentwicklung dient, keineswegs so natürlich zum Durchbruch gelangte, wie es im Marxismus häufig suggeriert wird. Denn tatsächlich war dieser auch das Ergebnis aktiv gestaltender Politik. Motiviert durch materielle Interessen, etablierte das besitzende Bürgertum sukzessive Strukturen und Institutionen – und das durchaus auch strategisch –, mit denen ein Dominanzwechsel möglich wurde. Der Aufbau von Fabrik- und Handelssystemen sowie die Bildung von Monopolen und Kartellen als Unterbau, die Einrichtung einer Managerklasse sowie von Bankenwesen und Aktienmärkten als Mittelbau sowie die Beeinflussung und Zurichtung des politischen Überbaus – all das sind Vollzüge, ohne die die Funktionsweise des Kapitalismus die Gesellschaft nicht derart hätte durchdringen können. Der Syndikalismus hatte das in seiner Geschichtsphilosophie stets anerkannt, den Kapitalismus also mehr als Resultat von materiellen und kulturellen Kämpfen denn als historisch-materialistische Konsequenz verstanden. Entsprechend räumte er auch der agency der Arbeiterbewegung mehr Bedeutung ein.

Die neue Gesellschaft in der Schale der alten aufzubauen, bedeutet daher in der syndikalistischen Logik nicht, das Neue im Bestehenden zu suchen und auszubauen, sondern etwas Neues zu konstruieren und im Bestehenden Anknüpfungspunkte zu finden, aus denen es Ressourcen schöpfen kann. Der Unterschied mag spitzfindig klingen, ist aber entscheidend. Es bedeutet, aus den Verhältnissen heraus zu agieren, ohne allein auf sie zu bauen. Man bleibt mit einem Bein in der Realität verhaftet und zweigt sich aus dieser die dynamischen Potentiale ab, um dem Aufbau von Gegenmacht Schwung zu verleihen. Und diese Potentiale wohnen in den Widersprüchen der Realität. Sie bieten Gelegenheit für Kämpfe, über die sich Menschen für alternative Strukturen interessieren und an sie anbinden lassen, um die Keimform zu nähren. Die Widersprüche und Opportunitätsstrukturen zu identifizieren, ist das materialistische Moment des Syndikalismus – sie strategisch zu nutzen und erweitern, sein voluntaristisches. Damit vermeidet er die absoluten Anmaßungen der »utopischen Sozialtechnik«, wie Karl Popper die Methode nennt, »keinen Stein auf dem anderen zu lassen«, um ein radikales Ideal zu verwirklichen. Zugleich jedoch folgt er damit nicht einfach der von Popper favorisierten »Sozialtechnik der kleinen Schritte«, die darauf reduziert ist, sich »nach den dringendsten Übeln umzusehen, um sie zu lösen.«[13]Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde – Band I. Der Zauber Platons, 7., überarb. Aufl., Tübingen 1992, S. 189 u. 194.

Wir werden im Weiteren noch vertiefen, warum reformistische und auch konservative Kritiken der utopischen Sozialtechnik durchaus einen berechtigten Kern haben. Hier soll zunächst der Hinweis genügen, dass der Syndikalismus Bedenken um die »Gefahren der Revolution« teilt,[14]Umso mehr natürlich im Verlaufe seiner Geschichte und wachsender Erfahrungen. Siehe etwa Rudolf Rocker, »Gefahren der Revolution«, in: Die Freie Gesellschaft, Nr. 38, Jg. 4 (1953), S. 37–50. ohne auf dem Standpunkt des Reformismus zu stehen, der durch bloße »Symbiose«, wie es Wright nennt, die bestehenden Institutionen verbessern möchte.[15]Vgl. dazu Wright, Reale Utopien, S. 453–485. Genauer gesagt, folgt er Platons Maxime der Gesamtheitsplanung, die Popper der utopischen Sozialtechnik zurechnet – d.h., ein radikales Ziel zu bestimmen und dann die einzelnen Schritte und Mittel für die praktische Umsetzung festzulegen –,[16]Siehe Popper, Die offene Gesellschaft, S. 187–188. versucht aber, diesen Holismus mit dem nötigen Maß an Realismus zu füllen, der der Sozialtechnik der kleinen Schritte eigen ist. Er steht damit für eine Synthese der Methoden: eine real-utopische Sozialtechnik. In der Lesart Camus‘ bedeutet das, die Grenzen des situativ Machbaren anzuerkennen, statt vom absoluten Standpunkt aus zu handeln. Es gilt, nicht die Utopie in die Wirklichkeit zu pressen, sondern in der Auseinandersetzung mit dieser zu einer neuen zu kommen. Die syndikalistische Revolte ist daher relativ; sie hat die gegenwärtigen Möglichkeiten im Blick, und nicht, wie Marx und Hegel, die geschichtlichen Notwendigkeiten. Sie weicht den Widersprüchen nicht aus, sondern arbeitet mit ihnen – um sie so zu überwinden.[17]Siehe Camus, Mensch in der Revolte, S. 226–238.

In diesem realistischen Radikalismus, bei dem sich die utopische Politik dem realen Leben zu beugen hat, geht es um mehr als die Schrittfolge. Das Puzzle der realutopischen Sozialtechnik besteht vor allem in der Doppelaufgabe, neue Vermittlungsformen so zu schaffen, dass sie auch breit vermittelbar sind. Zum Beispiel weisen der utopische Sozialismus von einst und die »gelebten Utopien« von heute solche Formen auf, aufgrund ihres Nischencharakters mangelt es aber an einer Verbundenheit mit der Realität, über die ihr illustrativer Gehalt Interesse stiften könnte.[18]Mit utopischer Sozialismus ist jene frühsozialistische Tradition gemeint, die durch die Bildung alternativer Gemeinschaften eine neue Gesellschaft realisieren wollte. Deren Grundgedanken setzen sich in den zeitgenössischen Kommunen fort, die manchen als »gelebte Utopien« gelten. Siehe z.B. Bernd Drücke (Hg). Ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert: Interviews und Gespräche, Berlin 2006, S. 233–263. Warum diese Freiraum-Strategie (vgl. dazu Wright, Reale Utopien, S. 435–452), in der Bewegungsforschung zuweilen als ›Exit‹ bezeichnet, keine Wirkungsmacht entfalten kann und sich sogar ganz gut mit dem ›System‹ verträgt, wird im Verlauf der Serie noch Thema sein. Der Marxismus wiederum war einst als Parteiprojekt durchaus vermittelbar, hatte aber, wie Korsch kritisierte, durch sein »bedingungsloses Festhalten an den politischen Formen der bürgerlichen Revolution« die andere Hälfte des Puzzles nicht gelöst.[19]Korsch, »Zehn Thesen«, S. 386. Ähnliches gilt, wie Sutterlütti und Meretz feststellen, auch für nicht-nischenhafte Bewegungen heute, die durch strategische Interaktion mit den institutionellen Realitäten zwar versuchen, »Allgemeinheit zu erringen, aber da sie keine neuen Formen der Vergesellschaftung … aufbauen«, sich weiter in der Form der politisch-staatlichen Veränderung bewegen; und das nehme »dem emanzipatorischen Streben seine Spitze«,[20]Interview mit Konicz, »Wir hoffen«. weswegen derlei »konkreten Utopien« oft nur appellative Kampagnen bleiben.[21]Vgl. dazu Alexander Neupert-Doppler (Hg.), Konkrete Utopien. Unsere Alternativen zum Nationalismus, Stuttgart 2018. Die darin vorgestellten Ansätze sind im Wesentlichen Perspektiven, wie soziales Leben anders organisiert sein könnte, etwa in Form eines vergesellschafteten Gesundheitssystems, aber enthalten häufig kein konstruktives, auf neuen Vermittlungsformen aufbauendes Programm, das darüber hinausginge, für eine Einsicht in diese Perspektiven zu streiten. Wir werden nun schauen, wie eine syndikalistische Lösung des Puzzles aussehen könnte.

Den Anfang zu Ende, das Ende zu Anfang denken: Mesopolitik als Dreh- und Angelpunkt

Die realutopische Sozialtechnik des Syndikalismus kann auch als eine der Wechselschritte begriffen werden. Man arbeitet einerseits mit der Realität, ja, zieht sie mit, und baut andererseits an der zu nährenden Utopie, ohne zu weit voranzupreschen. Dass das Resonanzfeld zwischen beiden Welten nicht zerrissen wird, die Utopie also mit der Realität in einer Weise interagiert, die einen zunehmenden Ressourcenfluss vom Bestehenden ins Werdende ermöglicht, das ist Sache der Praxistheorie.[22]Praxistheorie meint im soziologischen Sinne eine Theorie, die Gesellschaft als Produkt sozialer Praktiken begreift. Im politischen Sinne kann darunter eine Theorie verstanden werden, die Wissen über jene konstitutive Funktion sozialer Praktiken in Handlungen zu übersetzen versucht, mit der sich das Produkt Gesellschaft verändern lässt. Sie muss Organisationen konstruieren, die zwischenmenschliche Beziehungen inklusiv ausgestalten, die kollektives Handeln zur Realitätsbewältigung ermöglichen und die zugleich als Unterbau gegengesellschaftlicher Instituierung taugen. Es bedarf also eines gesamtheitlichen Programms, in dem Mikro-, Meso- und Makropolitik ineinandergreifen. Verfehlt das Programm nur eine der drei Aufgaben, geht es insgesamt nicht auf. Eine solch holistische Denkweise verläuft zirkulär, weil sie sich in Theorie und Praxis stets rückversichern muss, dass eine Ebene eine andere nicht falsch ausrichtet. Sie unterscheidet sich so im Anspruch von manchen anderen präfigurativen Transformationsansätzen, die lediglich erwägen, ob sich makropolitische Ziele in der Mikropolitik widerspiegeln. Genau damit fehlt diesen aber die strategische Schnittstelle zur Realität, über die Vermittelbarkeit hergestellt wird.

Der Syndikalismus nimmt hingegen die Mesoebene als Ausgangspunkt seiner holistischen Denkweise. Von da aus denkt er sich in die anderen Ebenen – und wieder zurück. Konkret bedeutet das, zunächst eine Organisationsform zu wählen, welche die materiellen Interessen der unteren Klassen unmittelbar adressiert und somit resonanzfähig ist. Auf diese Weise soll Handlungsmacht und strategische Varianz ermöglicht werden, um nicht – wie so manche auf den revolutionären Olymp fixierte Gruppe – »Flugsand der Geschichte« zu sein.[23]So bezeichnet Richard Reich den entfremdeten Menschen, der, mit Jaeggi gesprochen, sich nicht in ein Verhältnis mit der Welt zu setzen vermag, in dem diese Bearbeitung durch ihn erfahren kann; er ist, kurz gesagt, in seiner Fähigkeit zur Gestaltung und Aneignung der Welt beeinträchtigt (Jaeggi, Entfremdung, S. 55–58) und ordnet daher sein Denken einer »mystischen Sehnsucht« unter; Richard Reich, »Humanität und politische Verantwortung«, in: ders. (Hg.), Humanität und politische Verantwortung, Stuttgart u.a. 1964, S. 17–36, hier S. 24. Zugleich soll so sichergestellt werden, dass man die Gegenwart nicht einer ungewissen Zukunft opfert, wie Pouget zu sagen pflegte.[24]Siehe Oostinga, »Wir kriegen nur«, S. 42. Denn auch wenn die Gesamtstrategie nicht aufgehen sollte, wären damit zumindest größere Stücke vom Kuchen abzuhaben.[25]Eine Politik, die allein aufs Absolute abzielt, läuft hingegen Gefahr, unter dem Strich nichts zu erreichen oder gar irreparable Schäden anzurichten. Oder wie Camus sagt: »Selbst wenn die Gerechtigkeit nicht verwirklicht ist, bewahrt die Freiheit die Protestgewalt und rettet die gemeinsame Verbindung der Menschen«; Camus, Mensch in der Revolte, S. 236. Deswegen sind Gewerkschaften der mesopolitische Dreh- und Angelpunkt des Syndikalismus . Von ihnen war schon früh im Kapitalismus klar, dass sie, weil sie eben aus den alltäglichen Widersprüchen heraus agieren, äußerst mobilisierungstauglich sind. Und zugleich bergen sie, weil sie an der materiellen Basis des Kapitalismus ansetzen, das Potential in sich, die berüchtigte Bäckerei vielleicht doch übernehmen zu können. Diese Position wurde das erste Mal deutlich 1869 auf dem Baseler Kongress der Ersten Internationale formuliert, der als Geburtsstunde des Gewerkschaftssozialismus (Syndikalismus) gelten kann.

Hatte der Genfer Kongress 1866 bereits festgestellt, dass die Gewerkschaften über den Alltagskonflikt hinaus wichtig sind »als organisierte Kraft zur Beseitigung des [kapitalistischen] Systems«,[26]»Resolutions of First Congress Assembled at Geneva, September, 1866«, in: General Council of the International Working Men’s Association (Hg.), Resolutions of the Congress of Geneva, 1866, and the Congress of Brussels, 1868, London 1868, S. 3–9, hier S. 8. fand in Basel die Position Anklang, dass sie im Zuge ihrer Entfaltung föderale Räte bilden sollten, welche jenes System ersetzen. Die Internationale sollte daher nicht den Weg über den Staat gehen, sondern selbst ein transnationaler »Staat in den Staaten« sein, der die neue Ordnung präfiguriert.[27]Die Position wurde v.a. vom belgischen Föderalisten Eugène Hins vorgetragen, der u.a. sagte: »Man will … die gegenwärtigen Regierungen umwandeln. … Kameraden, gehen wir diesen Weg nicht. … Auf den Ruinen der alten Staaten bauen wir den unsren, wie er schon in jeder unserer Sektionen existiert.« Hier wird nochmal deutlich, dass der Anti-Etatismus der Föderalisten, aus dem der Massenanarchismus erwuchs, v.a. darin bestand, den Weg über den bestehenden Staat zu meiden, und weniger in der fundamentalen Ablehnung eines Überbaus, der als Staat bezeichnet werden könnte. Siehe z.B. Brupbacher, Marx und Bakunin, S. 76 ff. Diese Position war zunächst ideologisch nicht klar zuordenbar, weil sie in der Internationale, die vor allem ein Zusammenschluss von Gewerkschaften darstellte,[28]Vgl. dazu Knud Knudsen, »The Strike History of the First International. An Interpretation«, in: Frits van Holthoon & Marcel van der Linden (Hg.), Internationalism in the Labour Movement, 1830–1940, Bd. 1. Leiden u.a. 1988, S. 304–321. für viele recht naheliegend war. Sie begann sich aber zunehmend als anarchistisch zu verstehen, nachdem die MarxistInnen sich von ihr abgrenzten und so deren AnhängerInnen zur Differenzbestimmung zwangen. Marx und Engels folgten dabei einer Position, die sie bereits im Kommunistischen Manifest dargelegt hatten: »Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.«[29]Karl Marx & Friedrich Engels, »Manifest der kommunistischen Partei« (1848), in: MEW, Bd. 4, S. 459–493, hier S. 493. Diese Position elaborierten sie dann dahingehend, dass die politischen Machtzentralen durch nationale Parteien zu erobern seien; entsprechend wollten sie die Internationale parteipolitisch und zentralistisch umgestalten.

Diese strategische Einfassung war konstitutiv für den politischen Marxismus, der sich von da an durch die Organisationsform der staatlich orientierten Partei auszeichnete[30]Ihre reformerischen und revolutionären Varianten könnte man dabei, in Anlehnung an Lenin, als »zwei Taktiken« innerhalb der gleichen strategischen Einfassung bezeichnen. Vgl. Wladimir I. Lenin, »Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution« (1905), in: LAW, Bd. 1, S. 527–646. und die Gewerkschaften nur als ›Transmissionsriemen‹ funktionalisierte.[31]Die Sozialdemokratie verfolgte zunächst eine Arbeitsteilung zwischen Partei (Politik) und Gewerkschaft (Ökonomie), wobei das politische Primat, Marx‘ Linie folgend, dominierte und die Gewerkschaft disziplinierte. Das Unvermögen zum politischen Streik in Deutschland, wo der Marxismus die frühe Arbeiterbewegung prägte, rührt nicht unwesentlich daher. Siehe Holger Marcks, »Wer hat uns verraten…«, in: Direkte Aktion, Nr. 197, Jan./Feb. 2010 (online hier). Die bolschewisierte Sozialdemokratie leitete in logischer Konsequenz daraus ab, dass die Partei die ›lenkende Kraft‹ sei und die Gewerkschaft der Verbindung zwischen Partei und Masse zu dienen habe. Darin besteht das Problem, das der Anarchismus – auf den selbige Einfassung co-konstitutiv wirkte – mit dem Marxismus hatte.[32]Es ist mehr als verkürzt, die Kritik an Marx‘ nur auf sein Verhalten in der Internationale zu richten, statt auf seine theoretisch begründete Praxiskonzeption, die grundlegend für den politischen Marxismus war. Genauer gesagt bedeutet das sogar, Marx selbst nicht ernst zu nehmen. Dass Marx die »Konstruktion der Zukunft« als »nicht unsere Sache« betrachtete, ist nicht einfach »eine Lücke« im Marxismus (Adamczak, Beziehungsweise, S. 101), sondern das konstitutive Moment für das Schisma zwischen Marxismus und Anarchismus, ein von Marx bewusst gewollter Bruch. Und dieses erwuchs nicht etwa aus den Launen des streitsüchtigen Marx, sondern einer Praxiskonzeption, die er aus dem historischen Materialismus ableitete. Denn das utopische Ziel wollte er nur vage als »Diktatur des Proletariats« definiert wissen, alles Weitere würde sich aus den Triebkräften der Geschichte ergeben. Das Proletariat hatte sich in diesen Prozess einzufügen, also den geschichtlichen Notwendigkeiten zu folgen, und das erforderte eben eine zentralistische bzw. autoritäre Organisationsweise, damit die Masse sich einheitlich auch objektiv richtig formiert.[33]Siehe Marcks, »Auf Kriegsfuß«, S. 319. Eine solche Auffassung, die Camus als absolut bzw. »cäsarisch« herausgearbeitet hat,[34]Siehe Camus, Mensch in der Revolte, S. 242. stand der anarchistischen, welche die relativen Möglichkeiten betonte, diametral entgegen. Vor allem aber enthielt sie keinerlei Bewusstsein für Probleme der Präfiguration, etwa dass sich in so einer Räson »die Belange des nationalen Staates mit den geistigen Belangen [der] Partei« vermengen[35]Rudolf Rocker, Nationalismus und Kultur, Bd. 1, Bremen 1977 [1949], S. 313. oder darin Rechtfertigungsmuster für totalitäre Herrschaft angelegt sind.[36]In diesem Punkt geht es eben nicht darum, dass explizit eine Gewaltherrschaft angestrebt wurde, sondern um die Implikationen einer Denk- und Organisationsweise, die autoritären Tendenzen besondere Möglichkeiten schafft. In diesem Sinne war der Weg von Marx über Lenin zu Stalin zwar nicht determiniert, aber eben doch organisch vorbereitet. Vgl. dazu Rudolf Rocker, Absolutistische Gedankengänge im Sozialismus, Darmstadt 1950. Siehe auch Holger Marcks, »Marxistischer Dreisatz. Anté Ciligas Odyssee durch die Sowjetunion«, in: Direkte Aktion, Nr. 202, Nov./Dez. 2010 (online hier).

AnarchistInnen und SyndikalistInnen versuchten hingegen zu antizipieren, wie revolutionäre Organisationen das Feld zukünftiger Handlungsmöglichkeiten ordnen. Damit nahmen sie gewissermaßen das Konzept der ›Pfadabhängigkeiten‹ vorweg, das heute in der Organisationssoziologie Usus ist. Im Prinzip standen sie damit auch für ein komplexeres Materialismus-Verständnis, das man als praktischen Materialismus bezeichnen könnte. Denn sie analysierten nicht einfach die Opportunitätsstrukturen als sich fortschreibende Determinanten der Geschichte, die man nur richtig wahrnehmen muss, sondern erwogen auch, wie sich durch strategische Interaktionen jene Strukturen prozessual verändern und neue Möglichkeiten oder Schließungen entstehen. In Konsequenz bedeutete das, auch die eigenen Organisationsformen reflexiv in die Betrachtung einzubeziehen. Denn Präfiguration findet in der politischen Praxis immer statt, im Guten wie im Schlechten. Das, was man präfigurative Politik nennt, ist bloß jene Politik, die sich das auch bewusst zu machen versucht. Neuere Transformationstheorien üben sich nun genau darin, womit sie sich – wenn auch unbewusst – aus der konstitutiven Einfassung des politischen Marxismus lösen, dessen Genealogie auf der Verneinung des keimformtheoretischen Prinzips basierte, die Organisationsform an einem Bild der Utopie auszurichten.

Da jene Theorien jedoch der Mesofrage ausweichen, durch welche Organisationen man strategischen Zugriff auf die Realität erhält, fehlt ihnen das reflexive Moment für eine kritische Keimformtheorie. Das zeigt sich etwa bei Adamczak, die wie Sutterlütti und Meretz zwar viel über Aufbau redet, die dafür nötige agency aber nur als magische Kraft beschwört.[37]»Wir haben Trump zur Macht geträumt«, rief Alt-Right-Harlekin Richard Spencer nach Donald Trumps Wahlsieg, als wäre da Magie am Werk gewesen. Magie oder auch ›Magick‹ ist insofern eine Platzhaltererklärung für komplexe Prozesse, die man nicht genauer erklären kann oder will, etwa im Glauben an die mobilisierende Kraft bezaubernder Botschaften. Vgl. dazu Gary Lachmann, Dark Star Rising. Magick and Power in the Age of Trump, New York 2018. Auch in der Linken spielt – wenn auch unter anderen Vorzeichen – Magie eine Rolle, etwa wenn quasi-religiöse Hoffnungen, Wünsche und Beschwörungen der kommunistischen Machbarkeit den strategischen Diskurs ersetzen (wovon freilich auch viele AnarchistInnen nicht frei waren/sind). Adamczak steht für so einen magischen Kommunismus, was sie indirekt auch bekennt. So findet sie etwa – sehr scharfsichtig – in Emma Goldmans träumerischer Hoffnung in die Russische Revolution eine »religiöse Sprache«, die darauf hindeute, »dass es im politischen Diskurs der Emanzipation unverstandene Momente gibt, deren säkulare Übersetzung nicht gelungen ist, weil sie in der Sprache einer begrenzten Rationalität nicht als intelligible darstellbar waren«, nur um dann letztlich Goldmans »Hoffnung auf Glück« Recht zu geben, deren ›geheiligten Boden‹ lediglich durch eine ›wärmende Sonne‹ ersetzend. Siehe Bini Adamczak, Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution, Münster 2017, S. 9 u. 135. Man könnte also sagen, Adamczak übersetzt jene religiöse Semantik in eine säkulare; die Syntax der unverstandenen (magischen) Momente bleibt aber erhalten. Revolutionen werden bei ihr nicht gemacht, sondern brechen aus – um just die Geschichte für allerlei Optionen zu öffnen.[38]Siehe Adamczak, Beziehungsweise, S. 86 ff. Vgl. generell Adamczak, Der schönste Tag. Und zugleich soll die sie ergreifende Bewegung (wohl) noch organisch gewachsen sein.[39]Adamczak bleibt diffus, was die von ihr eigeforderten Konstruktionsbemühungen bedeuten sollen. Klar ist, dass die »revolutionäre Rekonstruktion« solidarisch und universal, nicht totalitär und nicht singulär usw. usf. sein soll; insofern formuliert sie v.a. Prinzipen der neuen Beziehunsgweisen (siehe Adamczak, Beziehungsweise, S. 275–286). Wie diese aufgebaut werden sollen, bleibt ein Rätsel. Konstruktion bezieht sich daher scheinbar nur auf die Implementierung bestimmter Solidarprinzipien in einer Bewegung, nicht aber auf den Aufbau von Bewegung selbst. Präfigurative Politik in Konsequenz müsste Konstruktion aber auch als Organisationsformierung begreifen, da die Keimformen von Beginn an die Entwicklungspfade einer neuen Ordnung vorzeichnen – und damit auch die Realisierungsmöglichkeiten von Solidarität. Das heißt: Ein Vertrauen auf organische Bewegungsbildung unter Promotion der richtigen Prinzipien impliziert letztlich doch die Imagination, eine solidarische Neuordnung würde sich spontan vollziehen können. Der fragile Marxismus will sich also lösen von der alten Einfassung, kann aber die historisch-materialistische Kinderstube nicht abstreifen, die ihn kein realistisches Maß finden lässt. Von den absoluten Notwendigkeiten, die Camus ansprach, springt er zu absoluten Möglichkeiten; vom lähmenden Determinismus, den Ramus feststellte, zu einem hoffnungsvollen Spontaneismus. Ein praktischer Materialismus hingegen versucht, die Bewegung ganzheitlich zu konstruieren, denkt ihren Anfang zu Ende und ihr Ende zu Anfang. Nicht angeleitet durch die Metaphysik, sondern durch Erfahrungen in einer Mesopolitik, die auf Handlungsmacht abzielt. Denn in diesem Versuch zeigen sich immer wieder Grenzen, wie sich der utopische Anspruch realer Keimformen mit den realen Anforderungen utopischer Neuordnung in Einklang bringen lassen. So wird die Utopie permanent neu durch die Keimform vor- und diese durch die Utopie nachgezeichnet.[40]In einer kritischen Keimformtheorie, die sich in einer heuristischen Praxis reflektiert, wird eben nicht nur prä-, sondern auch post-figuriert. Denn nicht nur bedingt die Keimform einfach den utopischen Output, der antizipierte Output soll sich ja auch in der Keimform widerspiegeln. Die fortwährende Gestaltung der Keimform stellt insofern auch eine Nachzeichnung der (sich wandelnden) Utopie dar.

Jenseits von Improvisation und Integration: Irrwege der Transformationspolitik

Transformationspolitik ist ein Labyrinth. Sie kann stets auf Irrwege geraten, die nicht zum Ziel führen. Manche der Wege entpuppen sich schnell als Sackgasse; andere erweisen sich erst spät als Verirrung, aus der es kein Zurück gibt. Transformation kann so schon scheitern, bevor sie begonnen hat. Und sie kann nach einem langen Weg im Abgrund landen, auf den man – wider aller Hoffnung – von Beginn an zusteuerte. Auf diese Weise mag es häufig so erscheinen, als wären revolutionären Situationen »mehr Möglichkeiten eingeschrieben« als es die kommende Degeneration nahelegt.[41]Olga Montseny, »Unter den Trümmern: der kommende Kommunismus. Bini Adamczak über das womögliche Gelingen der Russischen Revolution«, in: Huch, Nr. 88, Okt. 2018 (online hier). Tatsächlich aber bewegt sie sich zwar nicht auf einem »linearen Weg«,[42]Ebd. so doch aber in Pfadabhängigkeiten, welche die Möglichkeiten dispositionieren. Damit ist nicht nur gemeint, dass etwa eine marxistische Partei bereits die Keime einer Parteidiktatur in sich trägt. Sondern vor allem meint das, ob Akteure, die diese degenerative DNA nicht in sich tragen – also im besten Sinne fortschrittlich funktionieren –, auch so aufgestellt sind, dass sie sich sowohl gegen autoritäre Revolutionsakteure als auch die Reaktion durchsetzen können. Denn gerade infolge von Aufständen wird »Ordnungssicherheit« derart destabilisiert,[43]Zum Begriff siehe Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 1992, S. 223–224. dass eine allgemeine Verunsicherung mobilisierend für die Reaktion wirkt, Konflikte also wahrscheinlich sind, in denen es horizontale Akteure schwer und autoritäre (Revolutions-)Akteure einen Vorteil haben.[44]Hier liegt der entscheidende Schwachpunkt des magischen Kommunismus. Er betrachtet etwa die Russische Revolution als Situation mit offenem Ausgang, weil man diese – korrekterweise – nicht auf das autoritäre Potential der bolschewistischen Partei reduzieren könne und etwa die Räte ein emanzipatorisches Potential in sich trugen. Entscheidend ist aber nicht deren emanzipatorischer Gehalt, sondern deren agency im Verhältnis zur agency anderer Akteure. Um hier die Schach-Analogie aus dem ersten Teil nochmal zu bemühen: Einer Niederlage geht stets, um mit Adamczak zu sprechen, »eine Serie des Scheiterns voraus«, und »nahezu jede Station dieser Serie – wenn auch jede weniger als die vorangegangene – [enthält] die Möglichkeit zur Umkehr« (Adamczak, Der schönste Tag, S. 134). Tatsächlich aber sind die Entwicklung des Spiels und die Niederlage weitestgehend vorgezeichnet, nämlich durch einen Mangel an Vorbereitungen, die den unterlegenen Spieler überhaupt erst hätten befähigen können, »andere [richtige] Entscheidungen« (ebd.) treffen zu können: Ein Schachlaie wird niemals eine Schachmeisterin schlagen, vermutlich nicht einmal in einer Situation, die besonders vorteilhaft für ihn ist, weil ihm die Handlungsmacht dafür fehlt. Diese Disposition ist das »unverstandene Moment« des magischen Kommunismus. Ganz in der Tradition des historischen Materialismus, der häufig keine Praxistheorie kennt, sieht er nur die Struktur einer ›offenen‹ Situation, nicht aber, wie die Praxis der Akteure dispositioniert ist – und kann dadurch schnell in hoffnungsvollen Spontaneismus verfallen. Ein praktischer Materialismus hingegen setzt die agency der Akteure ins Verhältnis zueinander und zur Struktur – und kommt dadurch zu einem realistischen Verständnis der Situation.

So offen revolutionäre Situationen also erscheinen, tatsächlich werden ihre Schranken bereits vorher abgesteckt, auch wenn sich das der primären Wahrnehmung der Akteure entziehen mag. Die jüngere Geschichte hat etwa mit dem Arabischen Frühling nochmal aufgezeigt, wie regelmäßig horizontale Bewegungen von den Dynamiken revolutionärer Konfliktinteraktionen erschlagen werden und wie die von ihnen initiierten Aufstände dramatisch entgleisen. Auch Anarchismus und Syndikalismus mussten das immer wieder schmerzlich erfahren. Trotz vieler hoffnungsvoller Aufstände und Revolutionen, musste man sich stets der Reaktion oder der autoritären Konkurrenz geschlagen geben.[45]Man denke an Paris 1871, Jerez 1892, Buenos Aires 1909, Ruhrgebiet 1919/20, Patagonien 1920–21, Kronstadt 1921, Ukraine 1917–22, Asturien 1934. Schapiro folgerte diesbezüglich bereits in den 1920ern mit Blick auf die Russische Revolution, dass eine Bewegung, die ihre Organisationsform nicht umfassend elaboriert hat, die Revolution in nur »provisorischen« Institutionen verregelt und im Kampf um die Zukunft auf der Strecke bleibt.[46]Siehe Alexander Schapiro, »Les périods transitoires de la révolucion«, in: La Voix du Travail, Nr. 6, Feb. 1927. Oder in der Sprache neuerer Transformationstheorien ausgedrückt: In der Sequenz der Destituierung der alten Ordnung befinden sich die Kräfte der Selbstorganisation noch im zähen Prozess der improvisierten Instituierung, während die verbliebene konstituierte Macht oder konstituierende Mächte der autoritären Art bereits effizient formiert sind, um sich der alten Institutionen trotz ihrer Prekarität wirkungsvoll zu bedienen.

Es ist das Verdienst der reflexiven Praxistheorie Schapiros,[47]Das leider vergessene Denken Schapiros – Sekretär Kropotkins, Weggefährte Rockers und politischer Mentor von IISG-Gründer Arthur Lehning – ist gut zusammengefasst in: Klostermann, Einleitung; ein Text, der mehr zu einer revolutionären Praxistheorie beiträgt als alle Marx-Bände zusammengenommen. die Bedeutung der Mesopolitik für die Schwungkraft der nötigen Instituierung herausgestellt zu haben. Ähnlich wie Valeriano Orobón Fernández, für den eine revolutionäre Gewerkschaft als einzige Keimform in der Lage sei, die Transformation bewusst zu gestalten, da sie »mitten in der Produktion [lebe], die … den Prüfstein jeder Revolution darstellt«,[48]Valeriano Orobón Fernández, »La CNT y la dictadura«, in: Solidaridad Obrera, Nr. 409, 24. Apr. 1932. betonte er die Aufgabe, über die Alltagskämpfe die Praxistheorie ständig zu aktualisieren. Es könne nicht bei »Desideraten«, also Formulierungen des Wünschenswerten, bleiben, sondern bedürfe eines Verständnisses ihrer »praktischen Realisierungsmöglichkeiten, die an den Fähigkeiten zum Aufbau … ihre Schranken finden.«[49]Schapiro, »Les périods«. Seine Konzeption der ›bewussten Rebellion‹ entspricht somit Camus‘ Philosophie der ›Revolte‹. Diese sei wie »ein Pendel, [das] seinen eigentlichen Rhythmus sucht. Aber diese Regellosigkeit … vollzieht sich um einen Angelpunkt herum«; so »bringt die Revolte das Maß und die Grenze ans Licht«.[50]Camus, Mensch in der Revolte, S. 238. Wie Camus richtete sich also Schapiro gegen das absolute Denken, nicht nur im Marxismus, sondern auch in Teilen des Anarchismus, die ignorant gegenüber den Relationen der Realität waren. Den aufständischen Elementen etwa attestierte er eine »unkonstruktive Phraseologie«, die allenfalls in der Zeit »des ersten Stammelns unserer Bewegung« entschuldbar gewesen sei.[51]Schapiro, »La reconstrucción«.

Umso mehr gilt ein solches Urteil heute, wo reichlich Wissen über die »unbeabsichtigte Folgen« von Aufstand und Revolution vorliegt,[52]Zum Begriff der »unbeabsichtigten Folgen« siehe den soziologischen Klassiker von Robert K. Merton, »The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action«, in: American Sociological Review, Nr. 6, Jg. 1 (1936), S. 894–904. welche die syndikalistische Kritik bereits umtrieben. Wohl auch verschuldet durch die lange Dominanz von Marxismus und Vulgäranarchismus, die keine reflexive Praxistheorie kannten, hängt die Linke diesem kritischen Niveau heute weit hinterher. Dass eine Phraseologie wie Der kommende Aufstand, die nicht einmal das Problem des »Anti-Chaos-Reflexes« zur Kenntnis nimmt,[53]So lässt sich die weitverbreitete Abneigung vor Revolutionen bezeichnen, die nicht unbedingt auf einer Ablehnung ihrer normativen Ziele gründet, sondern v.a. auf der Angst vor ihren unberechenbaren Verläufen. Sie ist ein konstanter Faktor der Nicht- oder gar Gegenmobilisierung. Siehe generell Richard Löwenthal, »Vom Ausbleiben der Revolution in den Industriegesellschaften«, in: Historische Zeitschrift, Nr. 1, Jg. 232 (1981), S. 1–24. so gefeiert werden kann, ist bezeichnend für ihren »gesinnungsethischen« Zustand.[54]Als »Gesinnungsethik« bezeichnet Max Weber die Geisteshaltung eines solchen Akteurs, der sich nicht davon irritieren lässt, »daß die Folgen seines Tuns die Steigerung der Chancen der Reaktion, gesteigerte Bedrückung seiner Klasse, Hemmung ihres Aufstiegs sein werden«. Eine »Verantwortungsethik« hingegen kalkuliere mit »den durchschnittlichen Defekten der Menschen« und nehme mögliche negative Folgen des Handelns bei Entscheidungen ernst. Siehe dazu grundsätzlich Max Weber, Politik als Beruf, Köln 2014 [1919], S. 82 ff. Dabei wäre eine Linke, die wieder Anschluss finden will, gut beraten, sich Kritiken der »Revolutionsmythologie« zu stellen,[55]Rudolf Rocker, »Revolutionsmythologie und revolutionäre Wirklichkeit«, in: Die Freie Gesellschaft, Nr. 36/37, Jg. 4 (1952), S. 3–15. ja, zu fragen: »Wie revolutionär ist eigentlich die Revolution?«.[56]Vgl. Raul Zeliks Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Überlegungen zum Wechselspiel von ›rechtssetzender‹ und ›rechtserhaltender‹ Gewalt: »Wie revolutionär ist eigentlich die Revolution? Zu Walter Benjamins ›Zur Kritik der Gewalt‹«, in: ders., Im Multiversum des Kapitals. Wer herrscht wie, wer protestiert, wer nicht und warum nicht? Hamburg 2016, S. 39–45. Denn ihr Problem ist eben nicht, dass die Fehlerhaftigkeit des Kapitalismus nicht vermittelbar wäre, sondern dass sowohl ihre martialischen als auch romantischen Revolutionsideen als arglos gelten. Das ließe sich auch für die neueren Transformationstheorien sagen, die nicht mehr als Desiderate darstellen. Horizontale und inklusive Strukturen zu promoten und zu hoffen, dass sie einen Funktions- und Dominanzwechsel bewirken, reicht eben nicht aus. Im besten Falle bleiben sie ohne Wirkungsmacht; im schlimmsten Falle tragen sie zur Destabilsierung von Ordnung bei, ohne dass ihre Unterkomplexität den komplexen Dynamiken in Kämpfen um Neuordnung gewachsen wäre.

Dabei handelt es sich um ein selbstreferentielles Problem: Wo Keimformen keine Aussicht auf Gegenmacht erkennen lassen, bleiben sie ohne Wirkungsmacht – und ohne Wirkungsmacht entwickeln sie keine Aussicht auf Gegenmacht. Um den Kreis zu durchbrechen, bedarf es eines ganzheitlichen Programms, das von einem reflexiven Verständnis zu entwickelnder Möglichkeiten zeugt. Es geht um die aktive Gestaltung eines kraftvollen Unterbaus für die Instituierung von Gegengesellschaft, der Ordnungssicherheit und kein ungewisses Abenteuer vermittelt. Und das geht mit Gewerkschaften, die Menschen entlang alltäglicher Widersprüche interessieren. Durch eine solche Mesopolitik, welche die Organisation strategisch zu erweitern und taktisch auf Konflikte zu reagieren versucht, werden in der Praxis ständig mikro- und makropolitische Probleme offenbar, anhand derer sich die Keimform elaborieren lässt: Funktioniert die Organisation horizontal und inklusiv genug, um den normativen Ansprüchen der Neuordnung gerecht zu werden; und ist sie effektiv und funktional differenziert genug, um mit den empirischen Problemen einer Neuordnung umgehen zu können? Diese Fragen markieren ein Spannungsfeld, das zum Maßhalten ebenso wie zur realistischen Anpassung der Utopie zwingt. Der Glaube, beides wäre in vollem Maße zu haben, zeugt von genau jener absoluten Denke, die keine Relationen kennt – und in Wirkungslosigkeit oder Gewaltherrschaft münden muss.

Eine reflexive Praxistheorie arbeitet mit den Widersprüchen, auch wenn dies das Risiko beinhaltet, dass die Keimform in das Bestehende integriert wird. Man denke nur an die etablierten Gewerkschaften, die den Dominanzwechsel verfehlten und sich als Korrektiv in die Realität einfügten. Dies war aber auch bedingt durch das marxistische Konzept der Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaft, das Letztere auf Ausgleichsprozedere reduzierte. Die syndikalistische Geschichte, die viele Aufstände und Revolutionen kennt, kann jedenfalls nicht bestätigen, dass Gewerkschaftsarbeit zu Integration führen muss. Zwar ließe sich systemtheoretisch sagen, dass Protest stets eine korrektive Funktion innewohnt und er durch seinen »appellativen Charakter« nicht umhinkommt,[57]Christoph J. Virgl, Protest in der Weltgesellschaft, Wiesbaden 2011, S. 23. »die Einrichtungen, denen er widerspricht, indirekt anzuerkennen«.[58]Harry Pross, Protestgesellschaft. Von der Wirksamkeit des Widerspruchs, München 1992, S. 18. Dennoch ist die Arbeit mit der institutionellen Realität eine Voraussetzung für Weiteres. Denn das Vorgehen gegen konkrete Missstände ist, wie Popper feststellte, stets vermittelbarer als eine abstrakte Gesellschaftsvision – und damit ein Band, an dem sich eine neue Kollektivität überhaupt erst hochziehen kann.[59]Siehe Popper, Die offene Gesellschaft, S. 189–190. Wie Negri bei einer Diskussion 2009 in Berlin richtig – und de facto syndikalistisch – klarstellte, sind Kämpfe für konkrete Verbesserungen wie höhere Löhne »an sich nicht revolutionär«; das Entscheidende sei, »welche Form die Kämpfe annehmen«.[60]So bei einer Veranstaltung zu »Rebellion und Krise« im Monarch. Den Videoausschnitt zur Passage siehe hier.

Schafft zwei, drei, viele Sozialkartelle: Gewerkschaftliche Wege aus der Isolation

In was für eine Sackgasse es führt, wenn man das Risiko der Integration einfach umgehen möchte, zeigt die Lage der radikalen Linken heute, in der es große Teile länger zur Religion gemacht hatten, sich möglichst deutlich vom Reformismus abzugrenzen. Deren ›revolutionäres‹ Paradigma, dass die Interaktion mit den institutionellen Realitäten zu meiden sei, weil man sonst das System affirmiere oder gar davon kooptiert werde, hat vor allem zu einem geführt: Isolation – also weniger als Reformismus. Schließlich dreht sich diese Form des absoluten Denkens, das um jeden Preis vermeiden will, »systemstabilisierend zu wirken«, nur um eine Symbolpolitik unverhandelbarer Themen, mit denen sich keine agency entwickeln lässt, so dass »der Weg in die Umsetzung von Alternativität versperrt« ist.[61]Nicole Deitelhoff, »Leere Versprechungen? Deliberation und Opposition im Kontext transnationaler Legitimitätspolitik«, in: Anna Geis u.a. (Hg.), Der Aufstieg der Legitimitätspolitik. Rechtfertigung und Kritik politisch-ökonomischer Ordnungen, Baden-Baden 2012, S. 63–80, hier S. 74. Ein neues Phänomen ist das freilich nicht. Schon der »aufständische Anarchismus« suchte einst sein Heil in einem »Maximalismus«, der dem Engagement für konkrete Reformen ebenso misstraute wie größeren Organisierungsversuchen, weil das potentiell Herrschaft reproduziere. Damit blieb ihm keine andere ›Praxis‹ übrig, als phraseologische Materialien zu produzieren, die den unmittelbaren Aufstand beschwören, aus dem sich alles Weitere spontan ergeben muss.[62]Oder halt in einer Art Übersprungshandlung individuell Militanz ausüben, um die Kluft zwischen Realität (politische Wirkungslosigkeit) und Anspruch (Volksaufstand) vermeintlich zu überbrücken. Die ganze Disposition ist gut herausgearbeitet bei van der Walt & Schmidt, Schwarze Flamme, Kapitel 4, S. 157–188. Diese vulgäre Denke treibt bis heute ihr Unwesen in der Linken, die sich häufig nicht an der Realität die Hände schmutzig machen will.

Ironischerweise hat sich diese vulgäranarchistische Denkart nach 1968 und insbesondere ab den 1990ern auch in Gruppen eingeschlichen, die sich als marxistisch verstehen. Sie mochten vielleicht nicht gerade den Aufstand beschwören, teilten aber die maximalistische Logik, das jegliche Agitation immer ums Ganze gehen muss. Genauso wie der Insurrektionalismus arbeiteten sie sich gerne an den ›possibilistischen‹ Kräften ab, die ihre Strategie an relativen Möglichkeiten ausrichteten – etwa an Akteuren, die konkrete Forderungen stellten –, weil sie keine Einsicht in die absoluten Notwendigkeiten hatten. Und genauso wie ihr anarchistisches Pendant glaubten sie – auch wenn ihr sophistisches Wortgebimmel das verdeckte – in unterkomplexer Weise an magische Wendungen der Geschichte. Wie oben bereits angedeutet, verhält sich die Vorstellung, dass Transformation erst bewusst gestaltet werden kann, wenn sich die neue Gesellschaft im »Schoß« der alten entwickelt hat,[63]Diese passivierende Marxsche Losung ist nicht zu verwechseln mit der aktivierenden syndikalistischen Losung, die neue Gesellschaft in der Schale der alten aufzubauen. synchron zum Spontaneismus. Beides negiert die schöpferische Kraft in der Gegenwart und vertraut auf eine quasi-göttliche Macht, welche der Revolution schon ihre Richtung geben wird. Diese praxisverhindernde Denkart hat die Linke lange gelähmt; und so konnte es nicht wundern, dass sie sich Ende der 2000er Jahre, als Krisenprozesse eine neue Ära der umkämpften Zukunft einleiteten, nur in der Zuschauerrolle befand.

Das sogenannte claim making, das Kämpfen für konkrete Forderungen, ist eben das entscheidende »Zugangsvehikel« zur Realität,[64]Siehe Teil 1 der Serie, Anm. 70. mit dem sich kollektive Praxen überhaupt erst in Schwung bringen lassen – statt solche Praxen nur durch ›anti-kapitalistische‹ Eventmobilisierungen und beziehungslose Militanz zu simulieren. Der Anarchismus kann ein Lied davon singen. Groß geworden über Gewerkschaften in der Ersten Internationale, rückte er nach deren Spaltung zunehmend in Richtung Insurrektionalismus und fand sich binnen weniger Jahre in der Isolation wieder. Insbesondere französische Anarchisten erkannten die Ursachen und forderten in den 1890ern eine Rückkehr zur gewerkschaftlichen Tradition der Internationale.[65]Siehe beispielhaft Fernand Pelloutier, »Der Anarchismus und die Gewerkschaften« (1895), in: Erwin Oberländer (Hg.), Der Anarchismus, Freiburg i.Br., S. 316–333. Sie wurden so zügig zur stärksten Kraft in der französischen Arbeiterbewegung und lösten eine internationale Welle des Syndikalismus aus. In vielen Ländern war der Syndikalismus längere Zeit die dominierende Kraft. Erst nach der Russischen Revolution, die bei vielen (falsche) Hoffnungen weckte – auch weil die syndikalistischen Revolutionsversuche bis dato scheiterten –, konnte der Marxismus vielerorts wirklich Fuß fassen und dem Syndikalismus den Rang ablaufen. Dennoch blieb er etwa in Spanien bis in die 1930er tonangebend und schickte sich dort 1936 zu seinem größten Revolutionsversuch an, der 1939 endgültig erneut scheiterte.

Auch wenn alle stets die Spanische Revolution mit Blick auf die Jahre 1936–39 betrachten, das eigentlich Interessante ist die jahrzehntelange Arbeit, welche die CNT und ihre Vorgängerinnen davor leisteten. Hier wurden die Weichen für die revolutionäre Möglichkeit gestellt. Aber auch das Scheitern wurde hier schon dispositioniert,[66]Auch im anarchistischen Diskurs werden die Pfadabhängigkeiten, in denen sich die Spanische Revolution bewegte, gerne ausgeblendet und lieber fantasiert, wie es hätte sein können, wenn man selbst die Entscheidungen der Involvierten hätte steuern dürfen. Insofern findet Adamczaks Erzählung vom »möglichen Gelingen der Russischen Revolution« seine Entsprechung in anarchistischen Erzählungen vom möglichen Gelingen der Spanischen Revolution. wie etwa Schapiro oder die treintistas bereits vor 1936 warnten, denen die konstruktive Vorarbeit nicht genug war.[67]Siehe Schapiro, »Bericht über die CNT«; sowie »Manifest der Dreißig« (1931), in: Diego Abad de Santillán & Juan Peiró, Ökonomie und Revolution, hgg. v. Thomas Kleinspehn, West-Berlin 1975, S. 65–71. Die treintistas waren eine Gruppe 30 führender CNT-Mitglieder, die vor den Risiken einer zu sehr forcierten revolutionären Entwicklung warnten. Wir werden am Ende der Serie auf dieses Problem des revolutionären Taktgefühls zurückkommen, hier soll nur festgehalten werden, dass Gewerkschaftsarbeit keineswegs im Reformismus versanden muss und ein probater Weg aus der Isolation ist. Bestätigt wird das auch durch den Gegenwartssyndikalismus. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele syndikalistische Organisationen lange nur auf dem Etikett eine Gewerkschaft. Faktisch waren sie linke Szenegruppen, die sich die absoluten Denkweisen des Vulgäranarchismus angeeignet hatten – und entsprechend isoliert. Erst mit der Rückkehr zu einer beharrlichen Gewerkschaftsarbeit konnte etwa die FAU, angefangen in Berlin, wieder einigermaßen in die Spur finden.[68]Siehe Konun, »Make Syndicalism« (online hier). Auch in Hannover oder auch Jena zeitigt eine ernst gemeinte Gewerkschaftsarbeit Wachstumserfolge. Ein bescheidener, fragiler Anfang, der überall nur durch mikropolitische Neuausrichtungen wirklich weiter ausgebaut werden kann, die im nächsten Teil zu behandeln sind. Auch in anderen Ländern sehen wir, wie sich ernstgemeinte Betriebsarbeit auszahlt und der anti-autoritären Linken eine Verankerung in den Kreisen ermöglicht, welche die ›Neue Klassenpolitik‹ ansprechen will, aber nicht erreicht.[69]Z.B. die United Voices of the World, die ihre Ursprünge im britischen Wobbly-Kontext haben, durch ein klareres gewerkschaftliches Profil aber viele migrantische ArbeiterInnen organisieren und beeindruckende Erfolge erzielen konnten, oder die Burgerville Workers Union in Portland, die erfolgreich junge Fast-Food-ArbeiterInnen organisiert.

Mittelfristig besteht die Aufgabe des Gegenwartssyndikalismus darin, diese Organisierung nicht nur voranzutreiben, sondern in ein Programm der Gegenmacht einzufügen, das die Basis über einen institutionellen Unterbau in Kontrast zu den bestehenden Institutionen setzt. Dies ist das transformatorische Moment, über das sich die Widersprüche aufrechterhalten lassen, aus deren Dynamiken heraus Dominanzwechsel möglich und Integration vermieden wird.[70]Vgl. dazu Sutterlütti & Meretz, Kapitalismus aufheben, S. 209–233. Darin unterscheidet sich der Syndikalismus von den etablierten Gewerkschaften, die ein symbiotisches Abbild der bestehenden Institutionen sind – und so kein Transformationspotential besitzen. Und er unterscheidet sich von den mittlerweile vielen löblichen konkreten Organisierungskampagnen, mit denen die Linke wieder soziale Verankerung erreichen will. Diese funktionieren zwar nicht in der Logik der bestehenden Institutionen, haben aber selbst kein institutionelles Programm, das über jene Desiderate hinausgeht, die einen Wunsch nach Transformation ausdrücken.[71]Besonders herausragend ist hier der Mieterbereich. Insbes. die Organisierung rund um »Kotti & Co.« und bei der Deutsche Wohnen AG sind beeindruckende Beispiele der Basisarbeit, die dennoch ohne eine Institutionalisierung ihrer Revolte keine nachhaltige Transformation ermöglichen. Ähnliches gilt für die Agenda der IL Berlin für die Abschaffung des privaten Wohnungsmarkts; siehe IL Berlin, Das rote Berlin. Strategien für eine sozialistische Stadt, Berlin 2018. Sie promotet zwar Basiskämpfe, hat sonst aber nicht mehr zu bieten, als Proteste, Kampagnen, Volksentscheide und Ungehorsam vorzuschlagen. Ein Aufbauprogramm von unten für neue Formen der Vergesellschaftung enthält sie nicht. Damit bewegt sie sich in genau der alten Form, die laut Sutterlütti und Meretz das emanzipatorische Bestreben abstumpft. Dadurch steuern sie tatsächlich auf das von der Systemtheorie festgestellte Problem zu, dass sie nur als Korrektiv der Realität fungieren und sich im Falle von Erfolgen sogar überflüssig machen.[72]Vgl. Virgl, Protest, S. 30. Die sozialen Kämpfe in einer transformatorischen Gewerkschaftsform einzubetten, die dauerhaft Interessenwidersprüche adressiert, bleibt daher unerlässlich.

Die Gewerkschaftsform bedeutet keineswegs eine Verengung auf Betriebsarbeit.[73]Zwar hatte der Syndikalismus zumeist seinen Schwerpunkt in der Produktion, weil diese eben die umkämpfte Grundlage des Kapitalismus ist, er beschränkte sich aber nie auf Betriebe, sondern organisierte im besten Falle auch andere Bereiche, die im allgemeinen Klassenkampf wichtig sind, zuweilen gar in Formen kommunaler Politik. Unter Gewerkschaft ist im syndikalistischen Sinne vielmehr ein soziales Kartell zu verstehen, in dem sich Gruppen aufgrund ihrer Lage in einem Widerspruchsverhältnis zusammenschließen. Der Widerspruch zwischen arbeitender und unternehmender Klasse ist dabei nur einer von mehreren. Andere sind die zwischen mietender und vermietender Klasse, zwischen konsumierender und distributierender Klasse, zwischen verwalteter und verwaltender Klasse. Ein moderner Syndikalismus sollte der Multiplität der Klassen durch multiple Gewerkschaften gerecht werden, also die Arbeiterorganisierung durch »gewerkschaftliche Sozialorganisationen« im Miet-, Konsum- und Ämterbereich ergänzen,[74]Zum Konzept der gewerkschaftlichen Sozialorganisation siehe Peter Merten, Anarchismus und Arbeiterkampf in Portugal, Hamburg 1981, S. 175–181. die eine umfassende Transformationspolitik ermöglichen. Im Rahmen eines institutionellen Programms können sie die ersten Bausteine darstellen, auf denen Strukturen der Selbstverwaltung – wie Wirtschafts-, Wohn-, Konsum- und Verwaltungsföderationen – aufbauen. Denn erst durch sie, die eine Vermittlung zur Realität gewährleisten, können Ressourcen aus dem Bestehenden ins Werdende übertragen werden. Gewerkschaften sollten nämlich tatsächlich ein Transmissionsriemen sein. Aber eben nicht für die Partei, welche die Menschen wieder in die alte Form zurückführt – sondern für die Welt der Selbstverwaltung.

Im dritten Teil wird dann diskutiert, wie der Aufbau von transformatorischen Gewerkschaften zu gestalten ist und welche taktischen Innovationen ihnen zu Gegenmacht verhelfen können.

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11 Kommentare zu «Skizze eines konstruktiven Sozialismus (Teil 2)»

  1. Ein Teil der Kritik am Marxismus ist berechtigt, aber der Autor verfällt doch selbst einem absoluten Anti-Marxismus, der nichts von seinem Reichtum & Erkenntnis weiß, die Widersprüchlichkeit zudeckt.
    Auch bei den Syndikalisten macht sich doch ein marxistischer Einfluss bemerkbar, wenn sie von Klassenkampf und der Abschaffung der Ausbeutung/Lohnarbeit sprechen.
    Dem Autor gelingt es bei den Anarchisten zwischen kritischen Strömungen, Verknöcherungen und Vulgarisierung zu differenzieren und man wünscht sich, dass ihm das auch bei der marxistischen Theorie gelänge.
    Denken wir etwa an Rosa Luxemburgs Kritik an der russischen Revolution und der Diktaturtheorie von Lenin/Trotzki, dann gerät die Gleichung marxistische Partei = Parteidiktatur=totalitäre Entwicklung ins wanken.
    Bei Marx finden sich übrigens deutliche Formulierungen, die sich auf das Wort Keim beziehen und es ist etwas albern ihm ein syndikalistische Theorie gegenüberzustellen, die sich auf materielle Möglichkeiten bezieht, so als wäre der Mann ein idealistischer Träumer gewesen.
    Außerdem ist es doch Irrsinn, die Marxisten für die Integration der Gewerkschaften verantwortlich zu machen und ob ihre Theorien von der zwangsläufigen Integration der Gewerkschaften falsch sind, müssen wir erst einmal durch Taten beweisen.
    Das Instrumentelle Verhältnis gegenüber Gewerkschaften ist sicherlich abzulehnen, aber die Fetischisierung der Gewerkschaft, sie zu einem Allheilmittel zu machen, ebenso.

    1. Hallo,

      danke für das Feedback.

      Die Verständigung in diesem Punkt hängt wohl davon ab, was man als (politischen) Marxismus definiert. Die Lesart in dieser Reihe ist, dass der Marxismus nur eine Variante des Sozialismus und des Klassenkampfes ist und er sich von anderen Varianten durch seine Revolutionsstrategie (zentralistische Parteien zur Eroberung der nationalen Macht) abgrenzte. So ist jedenfalls das Schisma zwischen Anarchismus und Marxismus (zweier Strömungen des Sozialismus) einst entstanden, nachweislich. Das war der Punkt, an dem man auseinanderging. Was danach an Verklärung und Vereinnahmung entstand, steht ebenso auf einem anderen Blatt wie das Phänomen, das aus dem Marxismus heraus Unterströmungen entstanden, wie etwa der Rätekommunismus oder Operaismus, die sich genealogisch eher wieder Richtung Anarchismus bewegten. Und natürlich lassen sich verschiedenen Erscheinungen, die sich als marxistisch *verstehen*, differenzierend würdigen. Nur sind das ja häufig Marxismusverständnisse, die nichts mit dem historischen Ursprung des POLITISCHEN Marxismus zu tun haben, sondern retrospektiven Umdeutungen des Marxismus folgen. Wer nicht einer Strategie zentralistischer Partein zur nationalen Machteroberung folgt, ist – politisch-typologisch betrachtet – eben kein/e MarxistIn, genau genommen. Definitionskriterien wie „Klassenkampf“ und „Abschaffung der Lohnarbeit“ taugen da jedenfalls nicht. Denn das gab es vor Marx und war auch seinen konkurrierende Kräften eigen.

      Im Einzelnen:

      „Auch bei den Syndikalisten macht sich doch ein marxistischer Einfluss bemerkbar, wenn sie von Klassenkampf und der Abschaffung der Ausbeutung/Lohnarbeit sprechen.“

      Das ist ein gutes Beispiel für retrospektive Vereinnahmung. Klassenkampf und Abschaffung der Lohnarbeit (Sozialismus) ist nichts originär Marxistisches. Die allermeisten Kräfte der Internationale (vorwiegend eine sozialistische Klassenkampforganisation) standen auf diesem Standpunkt. Und die AnarchistInnen sowieso. Das ist nichts, was Marx erfunden hat. Das ist eine Erzählung, die erst später im 20. Jahrhundert dominant wurde, als der Anarchismus als Gegenspieler weggefallen ist, der Marxismus mit der Sowjetunion über eine diskursive Lobby im Format einer Weltmacht verfügte und auch das Bürgertum diese Gleichsetzung von Sozialismus = Marxismus kolportierte – und der Neo-Anarchismus dieses sein eigene Erbe nicht mehr pflegte.

      Was originär marxistisch ist, ist jedenfalls die historisch-materialistische Deutung von Klassenkampf und Sozialismus – und die Ableitung einer spezifischen Parteistrategie daraus. Die AnarchistInnen und SyndikalistInnen hielten diese Deutung für zu eng geführt, weil sie zu strukturalistisch war, voluntaristische Momenate außer Acht ließ und eine Kultur- und Institutionenkritik missen ließ. Der Marxismus brauchte dann bis Mitte/Ende des 20. Jahrhunderts, um diese Elemente wirklich aufzunehmen, etwa im Postmarxismus.

      „Denken wir etwa an Rosa Luxemburgs Kritik an der russischen Revolution und der Diktaturtheorie von Lenin/Trotzki, dann gerät die Gleichung marxistische Partei = Parteidiktatur=totalitäre Entwicklung ins wanken.“

      Diese Gleichung gibt es in dem Text nicht. Der lehnt eine solch lineare Deutung ab. Er weiß daraufhin, dass dem Konzept der zentralistischen Partei zur nationalen Machteroberung wie auch der historisch-materialistischen Deutung revolutionärer Prozesse eine strukturelle Disposition innewohnt, die besondere Möglichkeiten für autoritäre Kräfte schafft. Das steht nicht im Widerspruch dazu, dass sich in so einer Struktur kritische und progressive Geister bewegen und aktiv sind.

      „Bei Marx finden sich übrigens deutliche Formulierungen, die sich auf das Wort Keim beziehen und es ist etwas albern ihm ein syndikalistische Theorie gegenüberzustellen, die sich auf materielle Möglichkeiten bezieht, so als wäre der Mann ein idealistischer Träumer gewesen.“

      Der Unterschied zwischen der Marxschen und der syndikalistischen Rede vom Keim ist im Text erklärt. Ersteres sieht die Keime sich aus den Verhältnissen entwickeln. Letzteres planzt den Keim in die Verhältnisse ein und treibt ihn voran. Richtig ist jedenfalls, dass Marx kein idealistischer Träumer war. Und hier hatte er den Vulgäranarchisten insurrektionalistischer Art etwas voraus. Sein Revolutionsmodell verhielt sich jedoch wenn nicht naiv, so doch ignorant zu den Dispositionen seiner Organisationsform, blendete also aus, wie die Gesellschafsform durch diese vorgezeichnet wird. Darüber hinaus bezieht sich das Träumerische eher auf gegenwärtige Marxismen, die etwa Revolutionen als offene Situationen sehen und nicht wahrnehmen, wie ihre Entwicklung schon durch die vorrevolutionäre Arbeit angeleitet wird.

      „Außerdem ist es doch Irrsinn, die Marxisten für die Integration der Gewerkschaften verantwortlich zu machen und ob ihre Theorien von der zwangsläufigen Integration der Gewerkschaften falsch sind, müssen wir erst einmal durch Taten beweisen.“

      Da steht, die Integration der Gewerkschaften hatte AUCH mit dem marxistischen Konzept der Arbeitsteilung von Partei und Gewerkschaft zu tun, in dem die Gewerkschaften auf systeminterne Ausgleichsprozedere reduziert wurden. Ansonsten ist es schon längst „bewiesen“, dass Gewerkschaften nicht zwangsläufig in Reformismus und Integration versanden. Oder wie erklärst du dir sonst die zahlreichen syndikalistischen Aufstände und Revolutionen? Gäbe es diese Zwansläufigkeit, hätte es sie ja nicht gegeben.

      „Das Instrumentelle Verhältnis gegenüber Gewerkschaften ist sicherlich abzulehnen, aber die Fetischisierung der Gewerkschaft, sie zu einem Allheilmittel zu machen, ebenso.“

      Das ist wohl eine Frage, was man unter Gewerkschaft versteht. Wenn man da den landläufigen Begriff vor Augen hat, stimmt das. Hier wird Gewerkschaft aber sehr weit definiert: als Form der sozialen Selbstorganisation, die sich von anderen Formen der (sporadischen, informellen) Selbstorganisation darin unterscheidet, dass sie sich instituionell zu verstetigen versucht. Ob das ein Allheiltmittel ist? Gewiss auch nicht. Der Text argumentiert lediglich, dass es ein Weg aus der Isolation ist, auf dem sich kontinuierlich Praxen entwickeln lassen, anhand derer man die Keimform permanent und kritisch justieren kann. Dass auch das letztlich im Abgrund landen kann, hat der Text auch erwähnt – und das wird auch noch später ausgeführt. Es wird übrigens auch noch darauf einzugehen sein, was für eine Rolle andere Strukturen (wie Räte und alternative Parteiformen) in einem konstruktiven Prozess spielen können.

  2. Hallo,
    Vielen Dank für den Text Holger. Da stehen viele schöne Dinge und die Auseinandersetzung kann sich sicher an mehreren Fragestellungen entzünden, wobei ich mit dir in der „magischen Schlagseite“ unser aktuellen Keimformtheorie zustimme, da fehlt was sehr wichtiges :). Ich möchte v.a. auf die Frage nach der Gewerkschaft als Keimform eingehen, da ich mir höchst unsicher bin:

    1. Damit wir über das gleiche reden: Du verstehst Gewerkschaften sehr weit als institutionell verstetigte Form sozialer Selbstorganisation. In dem Text tauchen diese gewerkschaftliche Praxis aber eingeschränkt als das auf worunter man Gewerkschaft heute versteht: Als institutionalisierte Interessensorganisation v.a. von ökonomischen Interessen, v.a. der Interessen der Lohnarbeiter*innen. So würde ich Gewerkschaft auch verstehen und eine autonomes Zentrum oder solidarische Landwirtschaft kaum Gewerkschaft nennen, auch wenn sie eine verstetige Form sozialer Selbstorganisation sind.

    2. Unsere Keimformtheorie begann damit re/produktive Keimformen spannend zu finden. Gewerkschaften sind Praktiken wo Interessensvertretung gut geübt werden kann, damit auch innere Konfliktaustragung und größere Organisationsversuche. Ich glaube mit dieser Praxis sind sie als keimförmiges Praxisfeld stark eingeschränkt. Wir müssen nicht nur inklusive Praktiken der Interessensorganisation aufbauen, sondern auch Praktiken des anderen Wohnens, Tätig-Seins etc. – wie du ja auch selbst schreibst. Kannst du mir nochmal erklären warum Gewerkschaften hierfür entscheidend für dich sind? Und warum „können [durch sie] Ressourcen aus dem Bestehenden ins Werdende übertragen werden“? Die Wohn- Wirtschafts- Verwaltungsförderationen sind bei dir dann eher auf der Ebene der Mikropolitik? Bei Keimform ist für uns halt gerade sehr spannend wie die verschiedenen re/produktiven Keimformen miteinander in Beziehung treten können, dass wäre bei dir vl Verwaltungsförderation …

    lg, simon

  3. Tag Holger,

    geiler Artikel, den du bisher geschrieben hast. Wenn du Leute für die FAU gewinnen und überhaupt den Syndeklismus näher vorstellen wolltest, hast du das bei mir ein gutes Stück weit geschafft. Danke dafür.

    Ich hab mir ne Menge Notizen gemacht, aber da ich lange Internetkommentare meist super nervig finde, würde ich mich jetzt wirklich reduzieren. Problematisch, um das vorweg zu nehmen, wird meiner Einsicht nach der Text dann immer, wenn versucht wird den Syndekalismus als den einen goldenen Weg darzustellen und das dann nicht umbedingt argumentativ belegt wird, sondern stattdessen andere Denkweisen/Autor*innen auf eine Weise verurteilt werden, die der Sache oft nicht gerecht ist. Da frage ich mich manchmal was dein Anliegen ist: Für den Syndekalismus gerade zu stehen und ihn gegen alles andere zu verteidigen oder wirklich nach Lösungen und Wegen zu suchen, die den Kapitalismus aufheben/überwinden bzw. Gegenmacht dazu aufbauen zu können. Wenn du das so nicht stehen lassen willst, können wir gerne darüber diskutieren – aber darum gehts mir eigentlich nicht.

    Du gehst ja an die ganze Sache sehr historisch ran und zeigst auf, wo Streitpunkte lagen, sich Strömungen aufgeteilt und teils wieder zusammengelaufen sind. Für mich wäre die Frage, inwieweit etwa die historische Trennung der Kommunistinnen und Anarchistinnen heute noch relevant ist. Meiner Erfahrung nach schwanken die meisten heranwachsenden Linken auf der Suche nach politischer Idendität sowieso gedanklich zwischen irgendwelchen Lagern umher, versuchen sich untereinander abzugrenzen und landen dann meist irgendwo, wo sie Freunde finden oder ihnen zufällig ein Buch davon in die Hände geflogen ist. Da ist ja, wieder meiner Erfahrung nach, kein wirklicher Graben außerhalb der reinen Szenemilieus. – Vielleicht nur so weit: Wie siehst du das? Lassen sich heutigen Marxist*innen (die sich oft nur als Marxist*innen bezeichnen, weil sie das Kapital gelesen haben und gut finden) falsche Strategien vorwerfen, die Marxist*innen vor hundert Jahren genommen haben? Macht es noch Sinn diese Spaltungen heute aufzugreifen oder wird da nicht einfach weiter Geschichte konstruiert, die eigentlich längst abgeschlossen ist und nur über Erzählungen künstlich am Leben gehalten wird?

    Die Keimformtheorie, wie sie Sutterlütti und Meretz betreiben, und der Syndekalismus kommen so historisch aus zwei verschiedenen Richtungen und treffen sich jetzt wieder in wesentlichen Punkten. Was definitiv nicht der Fall ist, ist dass die Theorie von Sutterlütti und Meretz nur eine Form von Syndekalismus ist, der um Wertkritik und Kritische Psychologie erweitert und gleichzeitig in Sachen konkreter Praxis reduziert wurde – dafür ist sie zum Beispiel zu sehr im Abstrakten angesiedelt. Das Kapital von Marx hilft, Gesellschaft allgemein zu verstehen (wodurch er den Kapitalismus im Speziellen erst kritisieren kann); die „Grundlegung der Psychologie“ hilft die menschlichen Potentiale allgemein (und wieder außerhalb kapitalistischer Verhältnisse) zu verstehen und die Wertkritik hilft (ganz platt) nicht auf die Fehler des traditionellen Marxismuses hereinzufallen und die Eroberung der Macht der einen Klasse nicht mit der Überwindung/Aufhebung des Kapitalismuses zu verwechseln. Aus dieser Distanz zu den konkreten Verhältnissen und Praxen wird hier jetzt überhaupt erst überlegt, was denn eine herrschaftsfreie Gesellschaft überhaupt bedeutet und wie sie innerhalb der menschlichen Potentiale möglich sein kann. Das ist eine bisher unabgeschlossene Forschungsrichtung (im Untertitel ihres Buches nennen sie es auch eine „Einladung“ um mit nachzudenken), mit dem Ziel irgendwann überhaupt einen Standpunkt zu finden, bevor auf konkrete Praxen geschlossen werden kann. Es wird sozusagen erst das Ziel definiert, bevor begonnen wird loszulaufen. Das jetzt nur vorab.

    Der Syndekalismus, so wie ich ihn jetzt aus deinen Beschreibungen verstehe, geht ja genau den umgekehrten Weg und versucht aus den Kämpfen der Gegenwart schrittweise die Praxen von Selbstorganisation zu erschließen, wenn ihm auch eine konstruierte Transformationsgrundlage zugrunde liegen soll. In diesen Kämpfen – besonders in einer Ausweitung auf die Auseinandersetzungen zwischen Mietern/Vermietern, Verwalteten/Verwaltern – sehe ich auch das vielleicht einzige Potential zur Mobilisierung und eines, das die Keimformtheorie in ihrer bisherigen Form nicht erreichen kann (auch, ich wiederhole mich, weil das gerade nicht ihr Anliegen ist). Die sehr große Gefahr allerdings ist bei der Vorgehensweise des Syndekalismus, dass der Rahmen der kapitalistischen Produktion nicht verlassen werden kann, da sämtliche Auseinandersetzungen ja genau in diesem Rahmen stattfinden. Das Ergebnis wird im allerbesten Fall eine, wie du sagst, „Gegengesellschaft“ werden, die nur im Bezug auf den Kapitalismus bestehen kann – das woran Sutterlütti und Meretz gerade forschen ist dagegen eine wirklich qualitativ andere Gesellschaft und, wenn diese Forschung auch noch nicht abgeschlossen sein mag und ich den Punkt an der Stelle nicht weiter ausführen will, das wesentlich erstrebenswertere Ziel. Jetzt zur wieder sehr ernst gemeinten Frage: Wenn wesentliche Gemeinsamkeiten in den beiden Theorierichtungen vorhanden sind, das eine aber vom Konkreten, das andere vom Abstrakten aus gedacht wird, hälst du es für zu naiv, dass diese beiden Herangehensweisen zusammengebracht werden können, ohne, dass jede für sich ihre bestimmenden Qualitäten verliert? Oder meinst du, der Syndekalismus braucht nichts Äußeres zu den gewerkschaftlichen Kämpfen? Mit dem Commoning, das m.M.n. auch noch einen konstruierten Aspekt benötigt um gesamtgesellschaftlich wirkungsfähig zu sein, würde ja etwas existieren, das tatsächlich einen Kontrast zu den bestehenden Institutionen setzt und nicht in diese integriert werden kann.

    Soweit vielleicht nur. Ich hoffe, die Fragen sind halbwegs verständlich und wäre gespannt, auf deine Antwort. Aber in jedem Fall: Starker Text.

  4. Hi Holger,

    danke für diesen interessanten Anstoß. Zweierlei habe ich anzumerken:

    Erstens, auch mir scheint die sinnvolle Differenzierung in die drei beschriebenen Ebenen mehr in einen Appell für das Label „Syndikalismus“ und seine Geschichte abzugleiten. Durch diese Brille muss doch sich die historische Suche nach Beispielen, wo Gruppen und Strukturen die jeweilige Ebene gut ausgekleidet haben, zu sehr verengen.

    Zweitens plädierst du ja ganz klar für ein Denken von der Mesoebene aus und meinst, dass eine gute Ausformung dieser auch bestes Potential bietet um Menschen an die eigenen Strukturen andocken zu lassen – also als Erfüllungsgehilfe für die Mikrostruktur. Soweit so plausibel. Wenn du jedoch nur erwähnst, dass es gegenwärtig Ansätze gäbe, die eine vorbildliche Mikropolitik betreiben würden, aber nicht erwähnst, was du dabei im Kopf hast und ebenso verschweigst, was gute Mikropolitik ausmacht, scheint mir als würdest du hier ebenso wie das Gros der Linken einen Automatismus voraussetzen, der mit durch die richtige Formulierung der Ziele bzw- in deinem Fall der richtigen Gegenwartsorganisation, Mitstreitende in die eigenen Reihen spülen würde. Mir scheint jedoch eben auch die Frage nach der Ausgestaltung der Mikroebene überhaupt unterbelichtet zu sein. Wie treten wir denn auf unsere zu gewinnende Basis zu?, wie knüpfen wir Beziehungen?, halten sie und bauen so verlässliche und solidarische kollektive Strukturen auf vor allem auch im Hinblick darauf zahlenmäßig (wieder) wahrnehmbar und so durchsetzungsfähig zu werden. Eine Debatte innerhalb der deutschen Linken scheint mir bitter nötig und gleichzeitig komplett zu fehlen.

    Summa summarum: Mir gefällt der Aufschlag der Ebenen-Dreiteilung. Durch dein Plädoyer für den Syndikalismus scheint mir jedoch die nüchterne und offene Frage, wie die jeweilige Ebene ausgeprägt sein sollte, gar keine richtige Rolle zu spielen. Jenseits der Labels die guten historischen Beispiele in den Blick zu kriegen, scheint mir jedoch, als Teilantwort auf die Frage, wie wir uns organisatorisch gut aufstellen, hilfreicher.

    Bin gespannt auf Teil 3. & 4

    Christian

  5. Hey, könnte man den Artikel bitte mal als .epub oder so bereitstellen? Er ist recht lang und ich würde ihn gerne auf dem E-Reader lesen. Mit der derzeitigen Formatierung geht das sehr schwer.

  6. „Der Widerspruch zwischen arbeitender und unternehmender Klasse ist dabei nur einer von mehreren. Andere sind die zwischen mietender und vermietender Klasse, zwischen konsumierender und distributierender Klasse, zwischen verwalteter und verwaltender Klasse. “

    Ein Klassenverhältnis ist aber nicht einfach bloß ein Verhältnis zwischen Unterdrücker*innen und Unterdrückten, sondern enthält eine Extraktion von Mehrverwert. Deswegen ist das Verhätnis zwischen Vermieter*innen und Mietenden kein Klassenverhältnis, auch wenn die Mietfrage Klassenmerkmale hat (Wie z.B. Lohn und Miete zusammenhängen) (Siehe auch: „Kampf um die eigenen vier Wände – Die Wohnungsfrage als Teil Neuer Klassenpolitik“ von Phillip Mattern. )

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