Und wieder andere Wege gehen…

Die Zeitschrift Gǎi Dào war mehr als nur das Presseorgan der Anarchistischen Föderation. In den 10 Jahren ihres Bestehens gab sie vielen Anarchist*innen und am Anarchismus Interessierten Einblicke in Theorie und Praxis, vermittelte Wissen über laufende Kampagnen und spannende Aktionen und ermöglichte 115 Ausgaben lang den Austausch unterschiedlichster Menschen und Projekte. Die Gǎi Dào war nicht nur ein Medium, das zum lustvollen Konsumieren einlud (und im Online-Archiv weiter einlädt). Sie bot Aktivist*innen auch die Möglichkeit, die Zeitung selbst mitzugestalten, sich durch Berichte, Analysen und subjektiv geprägte Beiträge in Debatten einzubringen und die eigenen Sichtweisen mitzuteilen. Über die Bedeutung und Reichweite von Gǎi Dào sowie über seine persönlichen Erfahrungen und Reflexionen über die eigene Sicht auf die anarchistische Szene schreibt für die Graswurzelrevolution Jonathan Eibisch. (GWR-Red.)

Mit der 115. Ausgabe im Juli 2021 wird die Zeitschrift der Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA) nun nach zehn Jahren ihres Bestehens eingestellt. Dies ist eine Gelegenheit, einige persönliche Gedanken zu formulieren, um die Publikation und die damit verbundene Herangehensweise zu würdigen. Immerhin gibt es kaum anarchistische Zeitschriften, in denen überregionale Beiträge erscheinen und Artikel unkompliziert eingereicht werden können. Ich selbst habe die Gǎi Dào seit 5 Jahren meist mit gemischten Gefühlen gelesen und will mir nicht anmaßen, über das Projekt insgesamt zu urteilen. Wer noch nie etwas von der Gǎi Dào gehört hat und sich selbst einen Eindruck verschaffen möchte, der*dem empfehle ich das technisch sehr gut umgesetzte Archiv, in welchem alle Ausgaben digital und kostenlos heruntergeladen werden können. [1]https://fda-ifa.org/gaidao/ausgaben/

In den Fußstapfen der Anti-Autoritären

Es muss um das Jahr 2012 herum gewesen sein, als mir ein Genosse in spe die Gǎi Dào auf einem grauen, hässlichen Platz in die Hand drückte. Es war die Lebensphase, in der ich mich selbst gezielter A-sozialisierte und begann, meine antiautoritären Reflexe, meinen spontaneistischen Aktionismus, meinen eigenwilligen Undogmatismus wie auch mein Interesse für theoretisches Denken mit Begriffen zu erfassen. Der Anarchismus, das sind die Freikirchen im Sozialismus… Ich blätterte also in der Gǎi Dào und erfuhr so vom 9. Kongress der IFA, der Internationale der anarchistischen Föderationen, der an dem traditionsreichen Schweizer Ort Saint-Imier stattfand. Dieses Treffen inspirierte zu dieser Zeit – wie ich vom Hörensagen später mitbekam – eine ganze Anzahl von Menschen. 140 Jahre zuvor wurde dort unter anderem unter der Federführung von Michail Bakunin und James Guillaume die Antiautoritäre Internationale gegründet, welche im Unterschied zur zentralisierten und auf Linie gebrachten Internationalen Arbeiterassoziation an den Prinzipien des Föderalismus, der Autonomie seiner Sektionen und einem libertären Sozialismus mit der Zerschlagung aller Herrschaftsstrukturen festhalten wollte.

Es schadet nicht, an diese und andere Geschichten zu erinnern und sich selbst womöglich in dieser Tradition zu verorten, denn nur wer die eigene Geschichte kennt, kann sich auf die Zukunft hin orientieren, im Hier und Jetzt handeln und andere Wege gehen, als sie uns Staat, Kapitalismus, Patriarchat, weiße Vorherrschaft und Naturbeherrschung nahelegen. Neben der regelmäßigen Lektüre von Indymedia erhielt ich damit also einen Einblick in eine überregional, ja international vernetzte Szene. Ich bekam einen Vorgeschmack darauf, dass es in vielen Städten der BRD und sogar weltweit Menschen geben musste, die meine (anti)politischen Vorstellungen, meine Herangehensweise an Organisationen und meine ethischen Werte teilten. Was sehr banal klingt, ist deswegen ein paar Zeilen wert, weil mir später immer bewusster wurde, wie wenig selbstverständlich derartige Zugänge sind, wie notwendig es ist, dass wir unsere Überzeugungen vermitteln, mit ganz unterschiedlichen Menschen ins Gespräch kommen und Schnittpunkte zwischen uns suchen.

In diesem Sinne ist die Gǎi Dào als ein ideologisch-weltanschauliches Projekt einer „Ideenorganisation“ zu verstehen, zu der sich Anarch@-Syndikalist*innen bekanntermaßen gerne mit dem strategischen Argument abgrenzen, Gläubige könnten nicht an den realen Lebensverhältnissen ausgebeuteter und unterdrückter Gruppen andocken und sie nicht anhand ihrer eigenen Interessen organisieren, wie es der Anspruch autonomer Gewerkschaften ist. Dies ist verständlich, aber umgekehrt kein Argument gegen die Vermittlung von Grundlagenwissen über den Anarchismus, gegen das Abdrucken von Aufrufen, Berichten, mehr oder weniger ausgereiften eigenen antiautoritären Überlegungen oder Buchbesprechungen. Denn es gab und gibt sie, die diffuse ominöse anarchistische Szene, welche bald hier, bald dort in großen und kleinen Städten, bisweilen auch in ländlichen Gegenden auftaucht, einige Jahre ihre Wirkung entfaltet und dann einschläft, weiterzieht oder einfach wieder stiller wird. Die Gǎi Dào sollte das Medium der FdA sein und wurde diesem Anspruch in den ersten Jahren ihrer Existenz gerecht. Dass sie nun eingestellt wurde – zumindest bis sich ein eventuelles Nachfolgeprojekt gründet, welches jedoch sicherlich einen anderen Charakter aufweist –, sagt eher etwas über den Zustand und die Struktur der FdA aus als über ihre Zeitschrift. Auch wenn sie größtenteils als ein von ihr autonomes Projekt funktionierte.

Auf der Suche nach dem modernisierten Anarchismus

Im Editorial der ersten Ausgabe wurde der Anspruch formuliert: „Mit diesem Zeitungsprojekt versuchen wir einen weiteren Schritt zu einer anarchistischen Föderation zu gehen. Darüber hinaus hoffen wir neben Zeitungen wie der Graswurzelrevolution und der Direkte Aktion und Internetportalen wie Syndikalismus.tk weiterführende Informationen zur aktuellen anarchistischen Bewegung geben zu können. Dabei bemühen wir uns über den Tellerrand des deutschsprachigen Raumes hinaus zu sehen – ob und wie uns das gelingen wird, hängt auch von eurer Mitarbeit ab. Gleichzeitig wollen wir perspektivisch auch Platz für theoretische Auseinandersetzungen bieten, denn immerhin sind viele unserer Gedanken schon mehr als 150 Jahre alt. Es gilt also sie an unserer alltäglichen Praxis zu prüfen und zu sehen ob sie noch Zeitgemäß sind und wie ggf. ein modernisierter Anarchismus im dritten Jahrtausend (nach unserer Zeitrechnung) aussehen könnte.“ [2]https://fda-ifa.org/%e6%94%b9%e9%81%93-g%c7%8ei-dao-nr-01-01-2011/

In einiger Hinsicht erfüllte die Gǎi Dào meiner Ansicht nach diesen Anspruch und mauserte sich von einem Kleinprojekt zu einer immerhin in einer gewissen Szene bekannten Zeitschrift. Tatsächlich wurden erstaunlich viele Beiträge zur Situation der anarchistischen Szenen in anderen Ländern veröffentlicht. Regelmäßig gab es Berichte von Treffen und aus Gruppen, Informationen zu Kampagnen und Analysen von reaktionären Tendenzen. Insbesondere die Offenheit der Redaktion ermöglichte es zahlreichen Einzelpersonen, ihre anarchisierenden Gedanken zu formulieren und sich möglicherweise zum ersten Mal zu trauen, sie – meist unter Pseudonym – einem größeren, wenn auch ihnen unbekannten, Publikum vorzustellen. Gelegentlich gab es daraufhin Reaktionen, die jedoch nie die Form einer strukturierten Debatte annahmen. So etwas wäre allerdings sinnvoll gewesen, um dem Anspruch auf eine ernstzunehmende theoretische Auseinandersetzung gerechtzuwerden. Mehrere Beiträge zur anarchistischen Theorie, die unter anderem ich selbst in den letzten Jahren beisteuerte, mögen zwar informativ und ganz nett sein. Zu wirklichen produktiven Auseinandersetzungen, die eine tatsächliche Weiterentwicklung des anarchistischen Denkens ermöglicht hätten, kam es in der Gǎi Dào allerdings kaum.

Spiegelbild der anarchistischen Szene

Hierbei geht es nicht um die abstrakten Theoriebeiträge, in welchen sich viele orthodoxe Marx-Exeget*innen verlieren. Regelmäßige Beiträge dazu, wie bestimmte Ereignisse und Entwicklungen in emanzipatorischen sozialen Bewegungen aus anarchistischer Perspektive interpretiert und eingeschätzt werden – und somit eine gute Vermittlung zwischen Theorie und Praxis –, gab es ebenfalls selten. In diesem Zusammenhang hätte die Gǎi Dào eine Funktion einnehmen und eine Leerstelle füllen können, die in selbstorganisierten, antiautoritären Kreisen leider oftmals vorhanden ist. Bei vielen Genoss*innen scheint neben der nicht immer berechtigten Angst, den staatlichen Behörden unnötig Informationen zukommen zu lassen, zu gelten: Warum sollte ich (mit)teilen, was ich selbst erlebt habe? Doch diese Denkweise ist problematisch – zumindest wenn Menschen denken können und die Zeit zum Formulieren hätten. Denn anarchistische Perspektiven auf alle Bereiche und Fragen in der Gesellschaft zu entwerfen, ist eine Aufgabe, welcher sich Anarchist*innen widmen müssen, wenn sie eine gewisse Relevanz erhalten wollen.

Neben den begrenzten Kapazitäten der Redaktion besteht also auch ein Unwille vieler Anarchist*innen, ihre Gedanken zu Papier zu bringen und zur Debatte zu stellen. Darüber hinaus führte allerdings auch ein krampfhaft aufrechterhaltener Undogmatismus dazu, dass die Gǎi Dào immer ein Flickenteppich verschiedenster Beiträge blieb. Persönlich fand ich das lange Zeit sehr sympathisch. Strategisch ist es so aber unmöglich, ein handelndes Subjekt zu konstituieren, es zu motivieren, zu seiner Bewusstseinsbildung beizutragen, über soziale Kämpfe systematisch zu reflektieren und damit auch Außenstehenden ein verständlicheres Bild davon zu vermitteln, worum es im Anarchismus geht. Doch dies ist meine übergroße Vorstellung davon, wie eine anarchistische Bewegung sein müsste und zu funktionieren hätte, mein nach wie vor vorhandenes Drängen nach Veränderungen, auch wenn es im Laufe der Jahre seine Ausdrucksformen verändert hat. Immer wieder begegnete ich Leuten, die viel Kritik anbringen konnten, die ich manchmal völlig daneben und manchmal absolut berechtigt und zutreffend fand. Gelegentlich sind mir Dinge peinlich, die einige Anarchist*innen tun. Dann schäme ich mich fremd, denn ich gehöre ja zu ihnen – auch wenn ich mir das nicht ausgesucht habe. Doch hier beißt sich die schwarze Katze in den Schwanz, denn wer Kritik übt, soll sich auch einbringen, etwas anpacken, etwas verändern wollen. Die Gǎi Dào bot dazu immerhin die Möglichkeit – genutzt wurde sie nur von wenigen. Und damit ist sie in vielerlei Hinsicht ein Spiegelbild der anarchistischen Szene selbst.

Bedeutung und Reichweite der Zeitschrift

Interessant ist übrigens, dass nie klar war, wer und wie viele Personen die Gǎi Dào wirklich gelesen haben. Abgesehen von den für anarchistische Umtriebe zuständigen Verfassungsschutz-Beamt*innen, die sich mit ihr bilden, nie jedoch strafrechtlich relevante Dinge in Erfahrung bringen konnten. (Noch so ein heikles Thema, innerhalb wie außerhalb der Szene: Wenn sich Menschen öffentlich als Anarchist*innen zu erkennen geben und dazu stehen…) Auf der Homepage der Gǎi Dào ist zwar ein Zähler eingebaut, welcher die Printausgaben und die Online-Abrufe auflistet. Bei der 48. Ausgabe im Dezember 2014 erreichte dieser beispielsweise den höchsten Wert von 4.916 Downloads. Doch funktioniert der Zähler offensichtlich nicht richtig, weswegen sich über die Printausgaben hinaus keine Aussagen über die tatsächliche Anzahl der Leser*innen treffen lassen. Doch warum spekuliere ich an dieser Stelle über die Leser*innenschaft der Gǎi Dào? Macht es Gedanken oder Überzeugungen richtiger oder falscher, wenn sie zahlreiche Menschen oder nur ganz wenige lesen? Sicherlich streichelt es das Ego von Redakteur*innen und Autor*innen, wenn ersichtlich wird, dass ein größeres Interesse an der eigenen Arbeit und Leidenschaft besteht – doch ist dies nicht das wesentliche Antriebsmoment, ein derartiges Projekt zu verfolgen.

Klar ist, dass anarchistische Medien – im Rahmen, den sie aktuell ausschöpfen können – in Zukunft kontinuierlich, zuverlässig und mit anderen Medien verknüpft erscheinen müssen, wenn sie eine signifikante Reichweite und relevante Effekte erzielen wollen. Und in dieser Hinsicht verkörperte die Gǎi Dào den funktionierenden Versuch eines hybriden Projektes von Print- und Online-Format. Sofern Informationsaustausch, das Bedürfnis, abgehackte Pseudo-Debatten zu führen und einfach mal vor oft unbekannten Leuten aus ihrem*seinem Privatleben zu plaudern, durch die Möglichkeiten der sozialen Medien abgedeckt wird, scheint es logisch, dass ein zukünftiges anarchistisches Zeitschriftenprojekt hier einen anderen Weg gehen muss. Es wird sich an Personen richten, die sich bewusst mehr Zeit nehmen wollen – und daher zurecht auch mehr Tiefgang und Qualität erwarten. Die Erwartungen und Vorstellungen von Anarchist*innen und Sym-pathisant*innen aus verschiedenen Orten, in unterschiedlichen Lebensphasen und Erfahrungen in der (Anti)Politik zu bedienen, bleibt dabei ein Spagat. Und dieser wird noch mal größer, wenn ein Synthese-Ansatz verfolgt wird, in dem sich verschiedene Strömungen und Gruppen wiederfinden können – was keineswegs bedeutet, dass sie alles hundertprozentig teilen müssen, aber dass sie bereit dazu sind, sich andere Positionen anzuhören und in die Debatte einzutreten, die erforderlich ist, um unser Denken und Handeln weiter zu entwickeln. Sicherlich ist dies ein großer Anspruch. Aber es waren und sind nie unsere großen Ansprüche, die „falsch“ und „unrealistisch“ sind und an denen wir scheitern – sondern die Weisen, wie wir mit ihnen umgehen.

Dieser Text erschien zuerst in der Graswurzelrevolution Ausgabe 461 von September 2021, bestellbar hier.

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