Organizing

Um eines gleich vorweg zu sagen: Organizing, wie es von der Service Employees International Union (SEIU)  entwickelt und mittlerweile von sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften weltweit angewandt wird, hat einen bestimmten Fokus: Mitgliedergewinnung. Das ist der Dreh- und Angelpunkt aller Bemühungen und ist darüber hinaus am Ende einer Organizing-Kampagne auch immer der Erfolgsmaßstab.

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Andrew L. Stern, Chef der SEIU, im Interview mit der Welt: „Deshalb geben wir die Hälfte unseres Geldes dafür aus, neue Mitglieder zu werben. Wachstum ist oberste Priorität. Unsere Methode dazu ist das ‚Organizing‘.“[1]http://www.welt.de/wirtschaft/article1229251/Wie-eine-Gewerkschaft-eine-Million-neue-Mitglieder-gewinnen-kann.html

Wenn man bedenkt, wie (nicht nur) die sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften aufgebaut sind, ist das auch sehr einleuchtend. Sie haben einen großen Apparat bezahlter Funktionäre und jede Menge Angestellte, die alle über die Mitgliedsbeiträge finanziert werden müssen. Mitgliederschwund bedeutet sinkende Einnahmen und gefährdet die Jobs im Apparat und den Apparat selbst. So hatten die im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften 1991 im Zuge der „Wiedervereinigung“ ihr absolutes Mitgliederhoch von 11.800.412. Bis 2015 sind ihre Mitgliederzahlen auf 6.095.513 im Jahre 2015 gefallen und liegen damit unterhalb der Mitgliederzahlen von 1990 (7.937.923). Dieser Absturz betrifft alle im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften. Aufgrund des schon 1992 deutlich messbaren Mitgliederschwunds (knapp 800.000 Arbeiter*innen hatten den Gewerkschaften den Rücken gekehrt) sahen sich die Funktionäre gezwungen über neue Wege der Mitgliedergewinnung nachzudenken. Dabei stießen sie auf die „Erfolgsgeschichte der SEIU“ in den USA.[2]Diese hat innerhalb von 12 Jahren ihre Mitgliedszahl von 900.000 auf 1,8 Millionen verdoppelt.

Das Organizing

Jedes Organizing beginnt mit einer Entscheidung an der Spitze der jeweiligen Gewerkschaften. Hier wird entschieden, in welcher Branche und welcher Region eine Organizing-Kampagne durchgeführt werden soll. An der Spitze wird auch entschieden, wie lange die Kampagne dauern soll, wie viele Mittel sie erhalten und was[3]Hierbei handelt es sich um die Vorgabe, wie viele Prozent der Arbeiter*innen nach der Kampagne Mitglied der Gewerkschaften geworden sind. sie erreichen soll um als erfolgreich angesehen werden zu können. Um diese grundlegenden Entscheidungen treffen zu können werden zum Teil Firmen beauftragt unter bestimmten Gesichtspunkten eine Region, Branche oder einen Konzern zu durchleuchten.[4]Aufbau, Verflechtungen innerhalb der Branche, Eigentumsverhältnisse, Geschäftsbeziehungen mit Banken, Investoren sowie Zulieferer- und Kundenstrukturen, betrieblichen Vereinbarungen, Betriebsrat, Vertrauensleutestrukturen usw. Am Ende stehen ein Kampagnenplan und der Startschuss. Jetzt werden die mehr oder weniger professionellen Organizer*innen[5]Zumeist Akademiker*innen, die zum Teil unter sehr prekären Bedingungen die Aufgabe haben sich in einem 24/7-Verhältnis um das Organizing „ihres Betriebes“ zu kümmern. Siehe auch den Bericht eines Organizers der Kampagne in der Sicherheitsbranche in Hamburg in  Wildcat (Nr. 80) in die Betriebe geschickt. Ihre erste Aufgabe ist es mit den Arbeiter*innen direkt und in Einzelgesprächen zu reden.[6]Falls es im Betrieb einen BR gibt und/oder eine Vertrauensleutestruktur, dann sollen die Organizer*innen gezielt diese für die Kampagne ansprechen und sie für die Strategie der Einzelgespräche gewinnen. Dabei haben sie sich strikt an die Regel „70% zuhören und 30% reden“ zu halten. Das eigene Reden besteht in erster Linie aus Suggestivfragen und soll zu einer klaren Verabredung führen.[7]„Ja, ich komme am Samstag zum Aktiventreffen“ oder „Ja, ich bringe Kolleg*in XYZ mit zum Treffen“ Zusammen mit (falls vorhanden) dem Betriebsrat und den Vertrauensleuten wird ein Aktivenkreis aufgebaut. Dieser hat die Aufgabe die Einzelgespräche fortzuführen, die zentralen Probleme der Belegschaft herauszufinden und Handlungsstrategien zu entwickeln. Das Aktiventreffen ist bewusst offen für Nichtmitglieder, denn diese sollen „in eine gewerkschaftlich aktive Struktur und perspektivisch in die verbindlichere gewerkschaftliche Vertrauensleutestruktur eingebunden“ werden.[8] https://www.verdi.de/wegweiser/organizing/wie-geht-das/++co++258c0c16-d684-11e3-bbd8-52540059119e Von Anfang an wird auch das so genannte Mapping betrieben. „Mapping“ bedeutet, dass verschiedene Land- bzw. Betriebskarten angelegt und während des Organizing-Prozesses permanent aktualisiert werden.[9]Spätestens beim Mapping kommt auch das „Ranking“ zum Tragen, d.h. die Organizer*innen erstellen zusammen mit dem BR und/oder dem Vertrauensleutekörper und später auch mit dem Aktivenkreis eine Rangliste der Belegschaft. Bewertet wird die Einstellung zur Gewerkschaft auf einer Skala von 1 (beste) bis 5 (schlechteste). Im Organizing wird sich dann vor allem auf die 2er und evtl. noch auf die 3er als potentielle neue Mitglieder konzentriert. Erfasst werden die Gebäude und die Karte wird dann mit allen möglichen Informationen gefüllt. Zum Beispiel werden die verschiedenen Betriebsabteilungen eingetragen, die Anzahl und der Status der Arbeiter*innen[10]Stammbelegschaft, Leiharbeiter*innen, Aushilfen, usw. aber auch Sprachengruppen, die Gewerkschaftsmitglieder, die aktiven Gewerkschafter*innen, usw.

Organizing bleibt jedoch nicht beim Analysieren und dem Aufbau eines Aktivenkreises stehen. Ab einem gewissen Punkt wird es Zeit auch nach außen hin aktiv zu werden. Der Aktivenkreis nimmt sich anhand seiner Analyse der konkreten Probleme der Belegschaft einen Punkt heraus, der vermeintlich schnell zu gewinnen ist. Ver.di[11] https://www.verdi.de/wegweiser/organizing/wie-geht-das/++co++258c0c16-d684-11e3-bbd8-52540059119e schlägt nun ein ganzes Bündel möglicher „Direkter Aktionen“[12]Das Konzept der „Direkten Aktion“ versteht ver.di insgesamt so: „Direkte Aktionen bedeuten generell, dass die Kolleginnen und Kollegen ihren Anliegen nicht (ausschließlich) delegieren, an Gewerkschafts-Hauptamtliche oder an Betriebsräte, sondern eine gemeinsame Handlungsstrategie mit ver.di-Betriebsräten entwickeln, selbst aktiv (…) und dabei von Hauptamtlichen unterstützt werden. vor[13]Diese sind für alle Gewerkschaften im DGB, sofern sie Organizing betreiben, repräsentativ.:

  • Anstatt das Problem nur über eine Intervention des Betriebsrates zu lösen, schicken sie gleichzeitig eine Delegation zur Geschäftsführung, um dort ihr Anliegen vorzutragen.
  • Zu unerwarteten Zeiten an unerwarteten Orten Öffentlichkeit herstellen.
  • Ein Buttontag im Betrieb
  • Solidaritäts-Mailaktion
  • Spontanbesuch der Aktionärsparty

und noch einiges dieser Qualität mehr. Ein zentraler Punktdes Organizings ist Konfliktorientierung. Dazu gehört auch, dass einer Organizing-Kampagne eine Eskalationsstrategie zu Grunde liegt. Teil dieser ist, andere soziale und politische Bewegungen in den Konflikt einzubeziehen und so den öffentlichen Druck zu erhöhen. Streiks sind in diesem Konzept erst einmal nicht vorgesehen. Allerdings werden Organizing-Kampagnen auch flankierend und vorbereitend zu Tarifauseinandersetzungen eingesetzt. Wo das passiert, sind Streiks im Rahmen der Tarifauseinandersetzungen natürlich auch ein Aspekt in der Organizing-Strategie.

Organizing und
Anarchosyndikalismus

So wie es die sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften betreiben, ist Organizing sicher keine Option für anarchosyndikalistische Organisationen. Das Unbehagen fängt bei der Zielsetzung (Mitgliedergewinnung) an[14]Wie oben schon dargestellt ist Mitgliedergewinnung das Ziel – Organizing das Mittel zum Zweck. Sollte Organizing irgendwann an seine Grenzen stoßen oder gar aufgrund der der gemachten Erfahrungen und der Desillusionierung breiter Teile der Arbeiterklasse seine Wirkung verfehlen, werden die Gewerkschaftsapparate sich auf die Suche nach neuen Strategien der Mitgliedergewinnung machen. Da ausgerechnet die sozialpartnerschaftlichen Apparate das Organizing für dich entdeckt haben, besteht gar die Gefahr, dass sie global gesehen zwar Millionen von Arbeiter*innen erreichen, diese aber ggf. am Ende noch weiter von jeder gewerkschaftlichen Idee und Selbstorganisation entfremdet haben als jetzt schon., geht über die zentralistische Bestimmung des Wann, Wie und Wo bis zur Anstellung von „professionellen“ Organizer*innen, bis hin zu der einfachen Tatsache, dass sie erhebliche finanzielle Mittel erfordern. Nicht zu vergessen ist, dass die Strategie der Einzelgespräche auf einer ganzen Reihe manipulativer Suggestivfragen aufbaut, die sich für uns auch verbieten sollten.

Trotzdem gibt es einiges, das wir, da wo wir es noch nicht tun, durchaus übernehmen können. Letztlich handelt es sich hierbei aber um (anarcho)syndikalistische Standards, die jedes Syndikat, jede Ortsgruppe der IWW, jede Basisgewerkschaft im Alltag anwenden sollte und die sich aus jeder klassenkämpferischen Praxis mit zwingender Notwendigkeit ergeben:

  • Ausgangspunkt für die Frage wo wir eine Organizing-Kampagne durchführen ist bei uns natürlich die Frage wo wir selbst arbeiten.
  • Unsere Aufgabe ist es, sowohl individuell als auch kollektiv Wissen über den Betrieb, in dem wir arbeiten, zusammenzutragen (Mapping).
  • Darüber hinaus müssen wir natürlich auch über die Branche Bescheid wissen und die diversen Verflechtungen zumindest grob überblicken können (Recherche). Dabei können wir uns nicht auf professionelle Rechercheure verlassen, schon aus ökonomischen Gründen, sondern müssen dies halt so gut es geht selbst bewerkstelligen.
  • Das Eins-zu-eins-Gespräch sollten wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit führen, aber auch das Gespräch in der Gruppe. Denn Gruppendynamiken sind nicht zu unterschätzen. Dabei geht es nicht darum mithilfe manipulativer Suggestivfragen Kolleg*innen zu rekrutieren, sondern die gemeinsamen Probleme und Interessen zu erkennen.
  • Den Aufbau eines „Aktivenkreises“ würden wir wohl die „Betriebsgruppe“ nennen. Dort können natürlich auch Nicht-Mitglieder mitmachen, denn Praxis der FAU ist es seit jeher offen für Nicht-Mitglieder zu sein.
  • Das was Ver.di „Direkte Aktionen“ nennt, fällt für uns unter den Begriff des Protestes[15]„Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß alle andern auch nicht mehr mitmachen.“ – Vom Protest zum Widerstand, in: konkret 5/1968, S. 5. Der Satz stammt, wie die Autorin im zitierten Artikel schreibt, von einem „Schwarzen der Black-Power-Bewegung auf der Vietnamkonferenz (…) in Berlin“.. Wir erweitern diese Protestformen wann immer möglich um andere Optionen des Klassenkampfes. Diese können eher im Stillen passieren und Formen von individueller oder kollektiver Sabotage annehmen oder aber bewusst nach außen wirken, wie diverse Formen des Streiks, und, da wo es möglich und ihm Rahmen eines Kampfes sinnvoll erscheint, spielt auch der Boykott eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Fazit

Die „Erfolge“ von Organizing-Kampagnen sind also in mehrfacher Hinsicht teuer erkauft: Das fängt damit an, dass die Gewerkschaften meinen, „Expertenwissen“ von außen hinzu kaufen müssen[16]In der BRD gibt es neben Firmen, die Recherche anbieten, vor allem im Wirtschaftsbereich Public-Relations-Agenturen, die spezielle Produkte für Gewerkschaften, NGOs und Parteien anbieten, um diese bei ihren Kampagnen professionell zu unterstützen., geht über die professionellen Organizer*innen, die oft in prekären Verhältnissen und unter den Bedingungen permanenter Kontrolle und extrem verdichteter Arbeit bei völliger Entgrenzung der Arbeitszeiten agieren müssen, bis hin zur Tatsache, dass sowohl der Anfang jeder Kampagne als auch ihr Ende völlig in der Hand des zentralistischen Apparates liegt und eben nicht in der Hand der tatsächlich kämpfenden Kolleg*innen. Es gibt für uns also keinen Grund „neidisch“ auf erfolgreiche Organizing-Kampagnen der sozialpartnerschaftlichen Verbände zu schielen. Vielmehr sollten wir uns weiterhin selbstbewusst auf unsere syndikalistische und klassenkämpferische Tradition besinnen und unser Handwerkszeug, da wo es notwendig ist, an die sich verändernden Ausgangssituationen anpassen. Und den vielen linken und (alt-)autonomen Freund*innen, die sich von den sozialpartnerschaftlichen Verbänden für Organizing-Kampagnen einfangen lassen, raten wir, ihre Organizingerfahrungen auf sich selbst anzuwenden und für die Verbesserungen ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen einzutreten. Sollten sie dabei gewerkschaftliche Unterstützung oder gar eine neue gewerkschaftliche Heimat suchen…