Der Professor Klaus Dörre forscht und publiziert seit vielen Jahren zu prekärer Beschäftigung, Arbeitsbeziehungen und Arbeitskämpfen sowie Kapitalismustheorien. Unter anderem beteiligte er sich in den letzten Jahren an Büchern über Rechte in den Gewerkschaften und Betriebsräten und dem Streikmonitor, der jährlich die Zahl der Streiks in der BRD erfasst. Nun hat er in diesem Herbst in einem Thesenpapier seine Analyse der gegenwärtigen Klassengesellschaft zusammengefasst.[1]Umkämpfte Globalisierung und soziale Klassen. 20 Thesen für eine demokratische Klassenpolitik, in: Candeias/Dörre/Goes, Demobilisierte Klassengesellschaft. Kurzfassung erschien unter dem Titel Blinde Macht. Thesen zum Zustand der Klasse der Lohnabhängigen in der jungen Welt vom 25.10.2019 Ich möchte in dieser Rezension vier der wichtigsten Thesen vorstellen.
Deutschland als »demobilisierte Klassengesellschaft« (S. 22f.)
Die Bundesrepublik ist heute eines der OECD-Länder mit der höchsten Ungleichheit. Die Lohnquote[2]Anteil der Löhne am Umsatz eines Unternehmens bzw. gesamtwirtschaftlich am Bruttosozialprodukt. ist seit den 1980er Jahren kontinuierlich gesunken, umgekehrt nahm die Vermögenskonzentration zu. Trotz dieser Ungleichheit, so Dörre, seien die Organisationen der Arbeiterklasse »so schwach wie nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte«. Er sieht das als Ergebnis eines »erfolgreichen Klassenkampfs von oben«.
Nicht eine lohnabhängige Klasse, sondern drei (S. 28f.)
Dörre hält es für notwendig, unter den Lohnabhängigen – und neben bürgerlichen Klassen – zwischen drei Klassen zu unterscheiden: Erstens die Arbeiter und Arbeiterinnen mit mittlerer Qualifikation und kommandierten Arbeitstätigkeiten. Diese sind aus Sicht Dörres in den letzten Jahrzehnten in die Defensive geraten und haben daher auch mehrheitlich eine defensive Grundhaltung. Zweitens die akademisch gebildeten Beschäftigten ohne Kontrollmacht – also keine Chefs. Eine laut Dörre wachsende Gruppe, die sich aufgrund ihrer Stellung als Hochqualifizierte keine Sorgen um materielle Sicherheit machen müsse. Drittens die neue Unterklasse. Diese Gruppe aus prekär und informell Beschäftigten, Langzeitarbeitslosen, etc. bewege sich schon an oder unterhalb der Schwelle der gesellschaftlichen Respektabilität.[3]»An der ‘Trennlinie der Respektabilität’ grenzt sich die Mitte, der es um einen sicheren Status geht, von den Angehörigen der unterprivilegierten Milieus ab, deren Status unsicher ist.« Diese Unterklasse »hat niedrige Bildungs- und Sicherheitsstandards und ist daher stärker auf Strategien der Gelegenheitsnutzung und der Anlehnung an Stärkere angewiesen. Doch genau diese Strategien sind in der sog. respektablen Mitte als Zeichen einer moralisch anstößigen Lebensführung verpönt.«, so Michael Vester in Vester/Kadritzke/Graf, Klassen – Fraktionen – Milieus, S. 53. Das bedeutet unter anderem, dass sie von den anderen Gruppen nicht als verbündet gesehen wird, im Gegenteil, allein ihre Existenz »wirkt disziplinierend auf andere beherrschte Klassen«.
Die Marginalisierung der Industrie- und Produktionsarbeiter (S. 29f.)
Wie bereits erwähnt versteht Dörre unter Arbeitern nicht alle Lohnabhängige, sondern nur jene Beschäftigte »mit mittleren und niedrigen Qualifikationen, die bei der Herstellung von Gütern und Dienstleistungen operativ und manuell tätig sind oder Tätigkeiten in unmittelbarer sozialer Nachbarschaft [zur Werkstatt oder Fertigungshalle] ausüben«. Diese Arbeiterschaft schrumpft, verschwindet aber keineswegs. Sie macht gegenwärtig immer noch ein gutes Drittel der Bevölkerung aus. Allerdings hat ihre Organisationsmacht und Durchsetzungsfähigkeit Dörre zufolge nachgelassen und er befürchtet, dass sie aus der politischen Öffentlichkeit verschwinde.
Die doch nicht so demobilisierte Klassengesellschaft (S. 31-38)
Wenn man die Ebene der Politik verlässt stellt sich heraus, dass innerhalb der Betriebe in den letzten Jahren Konflikte ungleich härter ausgetragen werden. Auch der zahlenmäßige Umfang der Streiks hat zugenommen, seit 2012 haben sich in den meisten Jahren mehr als eine Million Beschäftigte an Streiks beteiligt. Laut Dörre verschiebe sich dabei die Konfliktdynamik, vom Dienstleistungs- und Sozialbereich, wo sie ihren Anfang nahm nun in den industriellen Sektor. Er spricht dabei von einem »Guerillakrieg, in dem wieder um basale Arbeitsstandards gerungen wird.«
In der gleichen These versucht Dörre, zwischen verschiedenen Arten von Arbeitskämpfen zu unterscheiden. Neben branchenbezogenen Tarifkonflikten gebe es auch stärker staatszentrierte Arbeitskämpfe wie jene im Sozial- und Erziehungswesen, die von Natur aus politisch seien. Arbeitskämpfen innerhalb eines einzigen Unternehmens – prominent in den letzten Jahren diejenigen bei der Post und bei Amazon – schreibt er eine wachsende Bedeutung zu. Zudem meint Dörre beobachtet zu haben, wie bei vereinzelten Streiks die beteiligten Gewerkschaften wieder anfingen, sich als eine soziale Bewegung zu verstehen und wie neben dem Lohn auch die Themen Leistungsintensivierung, Arbeitszeit, Gesundheit und Weiterbildung ähnlich hohe Bedeutung bekamen. (36) Diese vorsichtig optimistischen Beobachtungen muss er aber am Ende der These wieder relativieren: »Über Kampf- und Streikerfahrung verfügen nur vergleichsweise kleine Teile der lohnabhängigen Klassen. Ein sozialer Block aus abhängig Beschäftigten ist bisher [nicht] entstanden.«
Dieser Abschnitt des Textes, in dem das Streikgeschehen der letzten Jahre beschrieben und analysiert wird (These 12), ist aus gewerkschaftlicher Sicht eindeutig der interessanteste. An anderen Stellen merkt man dagegen schon, dass hier ein Soziologie-Professor für die Stiftung der Linkspartei schreibt. Er liebt es Dinge zu unterteilen, manchmal sinnvoll, manchmal nicht. [4]So gibt es für Dörre zwei Welten in Bezug auf die Regulation der Arbeitsbeziehungen: eine gute mit Tarifbindungen und eine unsichere, kaum regulierte Arbeitswelt. Aber »die Grenzen zwischen ihnen sind fließend« und außerdem gibt es noch eine Art Zwischenraum. Wenn das so ist, hätte er sich die Unterteilung auch sparen können. Er liebt es, schlau klingende Adjektive vor wichtige Begriffe zu setzen. [5]»demobilisierte Klassengesellschaft«, »demokratische Klassenpolitik«, »transformierende Klassenpolitik«, etc. Und natürlich wird immer wieder im Text erörtert, was die Linkspartei machen muss, um das Proletariat wieder für sich zu gewinnen. Er ist lesenswert, weil der Autor seinen hohen Wissensstand sowohl in genaue Beschreibungen der arbeitenden Klassen und ihrer Arbeitskämpfe als auch in theoretische Überlegungen münden lässt.
Ein Verständnis der Klassengesellschaft entsteht nicht am Schreibtisch. Trotzdem ist es für Basisgewerkschafterinnen und -gewerkschafter sinnvoll, auf das zurückzugreifen, was fortschrittliche Sozialwissenschaftler an umfangreichen Erfahrungen und Materialien zusammengetragen und ausgewertet haben. Die vorliegende Broschüre bietet dafür einen guten Einstieg:
zusätzlich interessant:
Liebe Basisgerwerkschafter/innen,
vielen Dank für die solidarische Kritik! Ich halte sie übrigens in manchem für berechtigt. Ich meine, dass die Rolle der kleinen Basisgewerkschaften als Korrektiv zum DGB größere Aufmerksamkeit verdient.Vielleicht finden wir nach dem Ende der Pandemie mal eine Gelegenheit, darüber zu diskutieren. Ich stehe jedenfalls zur Verfügung. Es grüßt herzlich,
Klaus Dörre
Wie begründet er den die Behauptung von drei lohnabhängigen Klassen? Knüpft er an die marxsche Klassen-Theorie an? Diese von oben beförderten Differenzierungen zwischen Unterschicht, der technischen Intelligenz und dem “Mittelbau” der Lohnabhängigen in der Industrie scheinen mir Elemente einer Klasse zu sein.