Die Kämpfe der Arbeiterklasse um die Einführung des 8-Stunden-Tags Ende des 19. Jh. werden als ein wesentlicher Faktor für die Entstehung des 1. Mai als internationaler Arbeiterkampftag gesehen. Auch heute, mehr als 100 Jahre später, kommen Auseinandersetzungen um Arbeitszeit in gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen eine große Bedeutung zu. Diese sind, wie auch Kämpfe um Lohn, Ausdruck des Interessenwiderspruchs zwischen der Klasse der Lohnabhängigen und der Klasse der Kapitalisten. Für Lohnabhängige ermöglicht eine Verringerung der Arbeitszeit (bei vollem Lohnausgleich) eine generelle Steigerung der Lebensqualität.
Von Unternehmerseite aus besteht prinzipiell kein Interesse an kürzeren Arbeitszeiten, denn Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohn- und Personalausgleich verringern das Angebot an billigen Arbeitskräften und damit auch die Macht der Unternehmen, Arbeitsbedingungen diktieren zu können. An dieser Logik hat sich bis heute nichts geändert. Es überrascht daher nicht wirklich, dass es in den letzten Jahren immer wieder Forderungen von Arbeitgeberseite gab, Regelungen und Mindeststandards zur Arbeitszeit zum Nachteil der Arbeiter*innen aufzuweichen. So sprach sich 2016 der Arbeitgeberverband Gesamtmetall für eine Abkehr vom Achtstundentag aus [1]http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/metall-arbeitgeber-wollen-abkehr-vom-acht-stunden-tag-a-1127303.html. Auch der Arbeitgeberverband Handwerk fordert eine “Flexibilisierung” der Arbeitszeiten [2]https://www.tagesschau.de/wirtschaft/handwerk-arbeitszeit-101.html. Der Bundespräsident der Arbeitgeberverbände Ingo Kramer foderte in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung “mehr Öffnungsklauseln” und mehr Flexibilität der Arbeitszeiten [3]https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ingo-kramer-in-der-f-a-z-mehr-tarifbindung-nur-mit-neuer-tarifpolitik-15831322.html. Die von Unternehmerseite oft beschworene Flexibilisierung dient vor allem dazu, unternehmerische Risiken auf die Arbeiter*innen abzuwälzen, ohne mehr Personal (fest) anstellen zu müssen. Dies äußert sich für die Arbeiter*innen durch Mehrarbeit bei Auftragsspitzen, oder analog, eben keine Arbeit bei fehlenden Aufträgen. Entsprechend gab es in letzter Zeit einige medial viel beachtete Versuche von Arbeitgeberseite, diese Forderungen mit Hilfe der Politik in die Tat umzusetzen.
Ein Fall, der vielen noch in Erinnerung sein dürfte, war das sogenannte loi El Khomri in Frankreich, benannt nach der damaligen französischen Arbeitsministerin Myriam El Khomri, die maßgeblich an der Erarbeitung des Gesetzes beteiligt war. Das Gesetz eröffnet die Möglichkeit, die in allgemeinen Tarifverträgen und teilweise auch Arbeitsgesetzen festgehaltenen Mindeststandards durch Betriebsvereinbarungen aufzuweichen. Dadurch kann die tägliche Arbeitszeit auf bis zu 12 Stunden ausgedehnt werden und die maximale Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden, in Ausnahmezeiten sogar auf 60 Stunden. Die französische Bevölkerung reagierte auf diesen massiven Angriff mit Massenprotesten und teilweise mit Streiks, konnte das Gesetz jedoch nicht verhindern.
Noch weiter geht der Vorstoß der Bosse in Österreich, wo durch ein neues Arbeitszeitgesetz die 60 Stunden Woche legalisiert wurde. Trotz Beteuerungen von Seiten der rechten Regierung, dass dies im Einzelfall rein auf Freiwilligkeit der Arbeitnehmer*innen beruhe, gab es bereits kurz nach der Einführung erste Missbrauchsfälle. Eine Frau wurde nach 20 Jahren als Hilfsköchin in einem Wiener Restaurant entlassen, weil Sie sich weigerte 12 Stunden zu arbeiten [4]https://www.jungewelt.de/artikel/342795.%C3%B6sterreich-husch-pfusch-gesetz.html. In diesem Fall wurde das Gesetz missbraucht, um eine Angestellte loszuwerden.
Eine derartige Offensive von Arbeitgeberseite blieb in Deutschland bisher aus. Es wird eher subtil daran gearbeitet, die Obergrenze für die Wochenarbeitszeit aufzuweichen. Exemplarisch dafür ist das sogenannte Pforzheimer Abkommen (2004). Dieses erlaubt es Unternehmen mit „Innovationsbedarf“, unter bestimmten Voraussetzungen tariflich festgelegte Standards temporär auszuhebeln, um „Investitionen zu ermöglichen“, wobei als Gegenleistung von Seiten der Unternehmer Arbeitsplätze „gesichert“ werden. Insgesamt wurden seit Abschluss der Pforzheimer Vereinbarung allein bis Ende 2006 in der Metall- und Elektroindustrie 850 abweichende Tarifvereinbarungen abgeschlossen. (grob 10 Prozent Abweichungsquote in der Metallindustrie) [5]Thomas Haipeter: “Kontrollierte Dezentralisierung? Abweichende Tarifvereinbarungen in der Metall- und Elektroindustrie”. Eine der mit Abstand am häufigsten durchgesetzten Abweichungen stellen dabei längere Arbeitszeiten dar. De facto wurde die bis dahin (in Westdeutschland) in der Metallindustrie geltende 35-Stunden Woche grundlegend aufgeweicht. Entsprechend schrieb der Daimler-Chrysler-Vorstand Günther Fleig damals hocherfreut in den Stuttgarter Nachrichten (28.2.2004): »Mit diesem Vorstoß sind wir bei den Gewerkschaften in die Tabuzone 35-Stunden-Woche gestoßen. […] Wir haben den gesamten Katalog der tariflichen Mindestnormen geöffnet. Wenn es die wirtschaftliche Situation eines Betriebes erfordert, können sämtliche tarifliche Standards auf Absenkung überprüft werden, nicht nur die unentgeltliche Verlängerung der Arbeitszeit, wie ursprünglich gefordert.« [6]”Tarifvertrag bietet enormes Potenzial. Daimler-Personalchef lobt Tarifvertrag“, Stuttgarter Nachrichten vom 28. Februar 2004.
All diese Beispiele haben eines gemeinsam: Es handelt sich um Angriffe der Unternehmer auf die Interessen der Lohnabhängigen. Und wo bleibt ihre Antwort? Tatsächlich machte 2018 ein Tarifabschluss der IG Metall Schlagzeilen, mit dem (unter bestimmten Bedingungen) ein Recht auf eine Reduzierung der Arbeitszeit eingeführt wurde. Diese „Einführung der 28-Stunden Woche“ wurde auch international – teils mit euphorischen Reaktionen – wahrgenommen [7]https://www.theguardian.com/world/2018/jan/08/german-metal-workers-strike-in-bid-to-gain-28-hour-working-weeks[8]https://www.liberation.fr/planete/2018/01/08/la-semaine-de-28-heures-nouveau-modele-allemand_1621058.
Hierzulande, insbesondere innerhalb der Gewerkschaftslinken, gab es auch kritische Stimmen [9]https://www.jungewelt.de/artikel/327264.f%C3%BCr-eine-k%C3%A4mpfende-gewerkschaft.html. Denn bei genauerem Hinschauen merkt man, dass das Ergebnis – bei allen durchaus positiven Aspekten – nicht unbedingt für alle „Mehr Geld und mehr Zeit zum Leben“ bedeutet, sondern dass es sich im Kern um ein individuelles Recht auf befristete Teilzeit handelt. Die Arbeitszeitreduzierung erfolgt nämlich zum Großteil ohne Lohnausgleich. Lediglich Personen, die in Schicht arbeiten oder Leute, die sich um kleine Kinder oder Familienangehörige kümmern, bekommen einen finanziellen Ausgleich. Zudem findet das ganze ohne Personalausgleich statt. Die Reduzierung der Arbeitszeit Einzelner ist daran gekoppelt, dass ein bestimmter Anteil der Kolleg*innen (in manchen Fällen 50%) mehr als 35 Stunden arbeitet. Genauso wenig wird das gesamte Arbeitsvolumen reduziert, es wird lediglich anders verteilt. Anstatt kollektive Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich zu fordern, stehen sich nun also individuelle Interessen der Arbeitnehmer*innen gegenüber.
Was können wir also tun? Als kämpferische Gewerkschafter*innen müssen wir endlich wieder in die Offensive gehen und reale Arbeitszeitverkürzungen fordern, d.h. kollektiv und bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Die Arbeiter*innen haben damit mehr Zeit für Bildung, Organisierung oder politische Arbeit, was entsprechend auch Kapazitäten für gewerkschaftliche Kämpfe freisetzt. Zudem verbessert sich die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer*innen, denn eine Arbeitszeitverkürzung kann das Angebot an Arbeitskräften mindern und damit die Verhandlungsmacht der Lohnabhängigen stärken.
Wir sollten dabei nicht auf bessere Gesetze durch politische Parteien hoffen, denn wie die oben genannten Beispiele zeigen, entscheiden diese viel zu oft im Sinne der Unternehmensinteressen, anstatt derer der Arbeiter*innen. Stattdessen sollten wir den gewerkschaftlichen Kampf in den Mittelpunkt stellen. Nur wenn wir gemeinsam und organisiert unsere Interessen gegenüber den Unternehmen vertreten, können wir dauerhafte Verbesserungen für alle erkämpfen.