Cover des Buches Supermilch

„Wenn wir alle in Ordnung sind, dann kann es nur besser werden.“

In der Zukunft ist der Himmel voller Drohnen und die Fahrradfahrer:innen tragen Gasmasken, während unter ihnen Abfallfettberge die Kanalisation verstopfen. Die wenigen positiven Augenblicke bilden das Drehen von Clips für Social-Media-Plattformen oder der ungehemmte Alkoholismus. So könnte die nahe Zukunft aussehen, die der Kulturschaffende Philipp Böhm in seiner neusten Veröffentlichung schildert.

Die Dystopie der Start-ups

Supermilch ist die zweite Veröffentlichung von Böhm beim Verbrecher Verlag. Der Band zeichnet in neun Erzählungen ein dystopisches Bild einer postkapitalistischen Gesellschaft durch intensive Kurzeinblicke in die Gedanken verschiedenster Charaktere. Vertreten sind Einblicke in eine wohlhabendere Klasse – zum Beispiel durch einen sich leer fühlenden, investigativ arbeitenden Journalisten in einem Start-up-Unternehmen – als auch Eindrücke aus der untersten Schicht. Beispielsweise besteht das Leben eines Hausmeisters in einem gigantischen Wohnblock in einem Armutsviertel aus dem Ärger über seinen nicht mehr ausziehenden Dauerübernachtungsgast und dem heimlichen Anhimmeln seiner Arbeitsagentur-Vermittlerin. Erschreckend wenig überzogen schaffen es die Figuren in dem Wohnblock wie in einem Banlieue nicht mehr ihren Stadtteil zu verlassen und die Trennung der Klassen wird auf die Stadtstruktur erweitert.

Auch die Überziehung der Arbeitssituation wirkt in Anbetracht unserer sich derzeit erweiternden Gig Economy und neoliberalen Fehlentscheidungen weniger surrealistisch als viel mehr wie eine realitätsnahe Spiegelung – wie zum Beispiel ein erwähntes Start-up-Unternehmen, das Scheinselbstständige einstellt, um Vermieter:innen dabei zu helfen, Menschen aus ihren Wohnungen zu schmeißen. Wie in unserer Gesellschaft zunehmend leiden die Figuren unter einem immensen Druck der ständigen Selbstoptimierung, um für den Arbeitsmarkt ausreichend zu sein. Dieser zerstört nicht nur das Leben gutbürgerlicher Angestellter höherer Ränge in Start-up-Unternehmen. („Ich halte die Geschichte der Company tief in meinem nervösen Herzen und kann nicht schlafen. Ich kann schon lange nicht mehr schlafen.“ (S. 12)) Von Kund:innen genutzte Bewertungssysteme, wie sie seit Neustem in der Gig Economy verwendet werden, könnten zu dem immensen Druck geführt haben, durch den der Hausmeister des Armutsviertels seinen Beruf als Busfahrer nicht mehr ausführen konnte. Er erinnert sich an seine alte Arbeit wie folgt: „Ich denke an die Nächte, in denen ich Quarkbecher mit ganzen Packungen voll Vanillezucker füllte und im kalten Schein meines Bildschirms die übersüßte Masse in mich hineinstopfte, weil ich wusste, dass es nicht ausreichend war, einfach nur Passagiere von einem Ort zum nächsten zu fahren, sondern dass ich dabei mein Unternehmen auf eine kreative und witzige Art zu präsentieren hatte. Der Zucker half.“ (S. 103)

Ein kleiner Grundstein der Solidarität

Hoffnung bleibt in dem Sammelband auf dem ersten Blick kaum übrig. Die wenigen Versuche der Figuren zu rebellieren erscheinen sinnentleert. Die meisten Figuren finden sich mit ihrem Schicksal ab: Sie betäuben sich mit Alkohol oder werden zu Gesellschaftsaussteiger:innen. Zur Selbstbeschäftigung fährt eine Gruppe jugendlicher Waisenkinder einmal im Monat in die Innenstadt, um Diplomat:innen zu verprügeln. Die beschriebene Gesellschaft scheint auf der Stelle zu stehen, was die eigentliche Tragik der beschriebenen Dystopie ausmacht. Eine revolutionäre Bewegung, die sich auf Feliks Dzierżyński bezieht, wirkt kaum greifbar, aggressiv und misanthropisch.

Der einzig positive Lichtblick bildet eine Bewohnerin des Armutsviertels, die ihre Situation bejahend akzeptiert und einen Blog über die Leben ihrer Mitmenschen aus der scheinbar vergessenen Klasse führt – nicht um die Situation einer Öffentlichkeit zu präsentieren, sondern um „meine eigene Einstellung zu meinem Ort zu verändern, dem Ort, an dem ich stehe. Und zu mir, die dort an diesem Ort steht: Wenn jede dieser Geschichten aufbewahrenswert und aufschreibenswert ist, dann ist es auch meine eigene. Wenn alle interessante Menschen sind, dann bin ich es auch. Wenn alle es verdient haben, getröstet zu werden, habe ich es auch verdient. Wenn wir alle gescheitert sind, dann ist es kein Scheitern mehr. Wenn wir alle hierhin aussortiert wurden und trotzdem gut sind, ist es besser, dass wir beieinander sind. Wenn wir alle in Ordnung ist, dann kann es nur besser werden.“ (S. 112)

Könnte diese Einstellung nicht den ersten Grundstein bilden für mehr Zusammenhalt? Für das Erkennen, dass dieses Scheitern kein eigenes ist, sonders jenes des Kapitalismus und dieser Gesellschaftsform? Und letztendlich einen Grundstein bilden für eine agierende und nicht „nur“ reagierend-zerstörerische Revolution?

In Supermilch wird dieser Gedanke nur wenig angedeutet und Böhm verbleibt überwiegend in einer pessimistischen Zukunftsperspektive. Zu hoffen bleibt, dass er damit weniger die Realität abgebildet hat, als vielmehr eine schaurig-schillernde Zukunftsperspektive skizziert, die sich nur dann umsetzt, wenn wir aufhören als Arbeiter:innenklasse zusammenzuhalten. In diesem Sinne kann der Erzählband auch dazu beitragen zu motivieren, gegen Missstände aktiv zu werden.

Als gelungene Kapitalismuskritik ist die Geschichtensammlung jedenfalls absolut empfehlenswert und regt nicht nur zum Nachdenken an – Böhm gelingt es zutiefst empathisch die Probleme unserer heutigen Zeit zu überziehen durch eine große Nähe zu seinen vielschichtigen Charakteren, meist in kleinen, intimen Augenblicken in ihrem Leben und erzeugt dadurch eine besondere Lesefreude.

Philipp Böhm: Supermilch. Erzählungen. Berlin: Verbrecher Verlag 2022.

Beitragsbild: Cover des Buches Supermilch, Quelle: Jona Larkin W.

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