Die 20 haben sie bald voll. So viele Generalstreiks haben die griechischen ArbeiterInnen seit Beginn der Krise bereits hinter sich. Einher gehen sie mit unzähligen Arbeitskämpfen in einzelnen Betrieben und einer Reihe von sozialen Kämpfen. Dies geschieht nicht etwa, weil „die Griechen“ besonders kampfeslustig wären. Es geht nicht nur um unterschiedliche Vorstellungen, wie die Dinge zu laufen haben. Viele GriechInnen kämpfen schlichtweg um ihre Existenz. Den Luxus, Zurückhaltung zu üben, können sie sich gar nicht mehr leisten. Insofern sind es zunächst einmal Defensivkämpfe, in denen sich ein Großteil der Bevölkerung sieht. Die Krise als „revolutionäres Morgenrot“ – davon spürt man derzeit wenig in Hellas.
Selbstverwaltung als Überlebenshilfe
Während sich die Generalstreiks gegen die drastischen Sparpakete und gegen die Demontage der sozialen Sicherungen richten, gelten die betrieblichen und sozialen Kämpfe der Abwehr ganz konkreter Auswirkungen der Wirtschaftskrise selbst: von Lohnausfällen, Betriebsschließungen, Erwerbslosigkeit, Mittellosigkeit bis hin zur Obdachlosigkeit, aber auch von Hunger und Krankheit. Von letzterem zeugen insbesondere die Versuche zahlreicher Menschen, sich selbst zu helfen. So üben sich einige in Subsistenzwirtschaft, hantieren mit Alternativwährungen oder etablieren Strukturen des Direkt- und Tauschhandels, wie etwa die sog. „Kartoffelbewegung“. Weniger bekannt dürften dagegen die Projekte im Gesundheitsbereich sein. So gibt es in Athen und Thessaloniki kleine, selbstorganisierte Einrichtungen, wo engagierte ÄrztInnen umsonst behandeln.
Diese Praktiken der Selbstverwaltung sind die letzte Auffanglinie. Wer davon Gebrauch macht, tut dies in der Regel, um zu überleben. Sicherlich mögen sie zum Teil den Charakter eines sozialen Experiments tragen, an dem es vielen Linken, die das Ideal der Selbstverwaltung hochhalten, gelegen ist. Diese Bedeutung erhalten sie jedoch vielfach unfreiwillig. Denn die Krise zwingt die Menschen regelrecht zu Experimenten. Ob sich daraus ein Transformationsprozess ergeben kann – bekanntlich wohnt Krisen auch die Chance auf eine Neugestaltung inne – muss sich noch zeigen. Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass die Selbstverwaltung eine Elendsverwaltung bleibt.
Dass jene Aktivitäten derzeit eher die letztgenannte Funktion einnehmen, dafür spricht auch, dass sich deren Vernetzung noch in Grenzen hält. Eine parallelökonomische Formation zeichnet sich noch nicht so recht ab. Das mag auch an der geringen Dichte dieser „Experimente“ liegen. Zwar lassen sich diese an auffällig vielen Orten und in vielen Bereichen ausmachen – mehr als sie in anderen Ländern zu finden sind. Um eine Massenbewegung, die einen Großteil der Bevölkerung erfasst hätte, handelt es sich aber nicht.
Ein Hauch von Argentinien
Allerdings deutet sich derzeit an, dass die Krisenerscheinung der Selbstverwaltung einen neuen Schub bekommen könnte. Denn in den Betrieben nehmen die Diskussionen über Arbeiterselbstverwaltung langsam an Fahrt auf. Sollten sich auch im Produktionsbereich solche selbstorganisierten Strukturen herausbilden, bestünde zumindest theoretisch die Möglichkeit, die verschiedenen Momente der Selbstorganisation im Bereich der Distribution und des Konsums auf eine qualitativ neue Basis zu stellen.
Auch in den Betrieben folgt die Tendenz zur Selbstverwaltung weniger einem Ideal als dem existentiellen Druck. Es ist für viele Lohnabhängige – das kennen wir bereits aus der argentinischen Krise – ein Mittel, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Gerade weil das Arbeitslosengeld nur noch zwölf Monate ausgezahlt wird, stellt sich diese Frage für viele Beschäftigte pleite gegangener Betriebe immer dringlicher. Genau dies sind etwa die Motive der ArbeiterInnen in der Metallfabrik „Bio Metalliki“ in Thessaloniki. Diese haben das Betriebsgelände besetzt, nachdem sich der insolvente Besitzer davon gemacht hatte. Nun beabsichtigen sie, die Produktion als Arbeiterkooperative wieder aufzunehmen.
Arbeit ohne Lohn
Betriebsschließungen gibt es derzeit in allen Wirtschaftssektoren Griechenlands. Weitere Betriebe stehen vor dem Aus und zahlen keine Löhne mehr an die Beschäftigten aus, teilweise seit Monaten. Ob sie diese noch erhalten, steht in den Sternen. Denn ein im Zuge der Krise verabschiedetes Gesetz (Artikel 99) ermöglicht es bankrottgefährdeten Unternehmen, Ausnahmen für die Abtragung der Schuldenlast zu erwirken. Das kann auch beinhalten, dass das Unternehmen nur einen Bruchteil ausstehender Löhne an seine Beschäftigten zahlen muss, um die Gläubiger bedienen zu können.
Der Medienbereich ist exemplarisch für diese Situation. Gerade er wurde von der Krise besonders stark getroffen. Dort sind die Umsätze drastisch eingebrochen – auch weil in Folge der allgemeinen Wirtschaftslage die Werbeeinnahmen durch Unternehmen ausbleiben. Zahlreiche Medien mussten bereits den Betrieb einstellen, weitere stehen kurz davor. Und in vielen Betrieben kämpfen die ArbeiterInnen um ihre ausstehenden Löhne.
Da wäre etwa der Sender Alter TV, den die Beschäftigten seit Anfang des Jahres besetzt
halten. Zwischenzeitlich haben sie hier selbst produziert und über die Kämpfe im Land berichtet. Dann wurden ihnen die Sendemasten gekappt. Der Eigentümer möchte sich unter den Artikel 99 flüchten, die Beschäftigten sind dagegen und bestehen auf den Lohn für ihre geleistete Arbeit. Ähnlich lagen die Dinge bei der Tageszeitung Eleftherotypia. Auch hier hatten die Beschäftigten zwischenzeitlich Ausgaben selbst produziert. Nachdem das Unternehmen endgültig dicht machte, fanden sich etwa 100 Beschäftigte zusammen. In diesen Tagen wollen sie mit einer neuen, selbstverwalteten Tageszeitung an den Start gehen. Sie selbst sprechen von einem „offenen Experiment in einer schwierigen Situation“. Denn auch sie sind als derzeit Arbeitslose von der Aussicht getrieben, dass schon bald der Leistungsbezug ausläuft.
Friss oder stirb!
Unterdessen wächst der Widerstand gegen die Austeritätspolitik wieder und nimmt die Frequenz der Generalstreiks zu, nachdem es länger ruhiger war. Aus der Verzweiflung erwächst dabei zunehmend militante Wut, wie etwa der jüngste Sturm von 150 WerftarbeiterInnen auf das Verteidigungsministerium zeigt, die seit einem halben Jahr keine Löhne erhalten haben. Auch bei dem Besuch Angela Merkels in Athen waren die Bilder zorniger GriechInnen zu sehen – was hierzulande in der Presse wieder mal als „deutschlandfeindliche“ Haltung „undankbarer“ GriechInnen dargestellt wurde.
Dass sich derlei Protest auch aus Ressentiments gegen „die Deutschen“ speist, ist gewiss nicht auszuschließen. Gründe, um auf die Griechenland-Politik Deutschlands, das bei der Troika-Politik federführend ist, wütend zu sein, haben die DemonstrantInnen allemal. Diese zeugt, das sieht man in der hiesigen Berichterstattung deutlich, von größter Ignoranz. Sie folgt ganz der Devise: „Friss oder stirb!“ Dass das dargebotene Krisenfresspaket pures Gift sein könnte, wird nicht einmal hinterfragt, ebenso wie der Mythos vom deutschen „Zahlmeister“, der den „faulen Griechen“ das Geld hinterher trage.
Dabei ist nicht eine der kursierenden Behauptungen haltbar. Doch die Fakten interessieren hierzulande kaum, ja werden sogar tabuisiert. Als etwa Syriza-Chef Alexis Tsipras im Wahlkampf forderte, dass Krisenprogramm erst einmal auszusetzen, um zu prüfen, welche Auswirkungen dieses überhaupt hat und wer davon profitiert, wurde allein das schon als Unverschämtheit empfunden. Zugleich wird in der Presse schlichtweg mit Verdrehungen gearbeitet. Der neuerliche Aufschub für Griechenland bei der Schuldenbekämpfung sei „nicht verdient“, behauptet etwa Julia Amalia Heyer im Spiegel. Die Regierung hätte nichts getan und lediglich „bei denen gespart, die sich am wenigsten wehren können“. Dass gerade dies das wesentliche Konzept der Troika-Vorgaben ist, wie sie in allen Krisenstaaten zur Anwendung kommt – mit ähnlich verheerenden Konsequenzen – kommt Heyer nicht in den Sinn. Das passt zu ihrer zynischen Haltung, dass die radikale Absenkung des Lebensstandards nicht weiter schlimm wäre, solange nicht „die Mehrheit der Griechen … in Schlangen vor den Suppenküchen stehen“ müssen.
Soziale Pyromanie
Derlei Armenhilfe wird indessen auch von den Faschisten der „Goldenen Morgenröte“ organisiert, die neuerdings in Umfragen als drittstärkste Kraft gehandelt wird. Dies verweist auf eine politische Ökonomie der Krise, für die vielen BeobachterInnen der Blick fehlt. Denn umso mehr sich die Wirtschaftskrise in soziale Verwerfungen übersetzt, desto polarisierter und instabiler werden auch die politischen Verhältnisse. Dass in dieser Situation, in der immer mehr Menschen eine „Exit-Option“ suchen, auch die reaktionären Kräfte profitieren können – darauf wies die DA bereits zu Beginn der Krise hin (siehe „Die Pest der Gegenwart“, DA Nr. 190) – zeigt sich hier ganz plastisch.
Der griechische Premier Andonis Samaras hat nicht ganz Unrecht, wenn er vor „Weimarer Verhältnissen“ in Griechenland warnt. Aber auch das dürfte am vorherrschenden politischen Autismus abprallen, der den Zusammenhang von Wirtschaft und Demokratie nicht mehr sieht und ganz in der Durchsetzung eindimensionaler wirtschaftspolitischer Dogmen aufgeht. Immer deutlicher wird so, dass der Krise der Ökonomie die Krise der Demokratien folgen dürfte. Denn nicht nur in Griechenland schreitet in der Krise die gesellschaftliche Militarisierung voran.