Keine Frage, der Schock über die drei erstickten Angestellten in der Athener Marfin-Bank, die während des Generalstreiks am 5. Mai, aus der Demonstration heraus mit Molotow-Cocktails in Brand gesetzt worden war, sitzt tief. Die antiautoritär-anarchistische Bewegung diskutiert seither erbittert über eine „Kultur des Wegschauens gegenüber nihilistischer Macho-Militanz“, die sich seit Jahren eingebürgert habe. Zeit für eine gründliche Aufarbeitung bleibt allerdings kaum. Razzien und ständige Polizeiprovokationen im Athener Szene-Stadtteil Exárchia, Verhaftungen und Prozesse gegen AktivistInnen, aber auch Streiks und Demonstrationen gegen den von EU und Internationalem Währungsfond (IWF) aufgezwungenen Sparkurs der sozialdemokratischen Pasok-Regierung und neue Hausbesetzungen bestimmen das aktuelle Tagesgeschehen. Da alles parallel geschehen muss, ist der Druck, unter dem die heterogene Bewegung steht, enorm.
Mit dem Ablauf des von den staatstragenden Gewerkschaften (GSEE und ADEDY) kontrollierten Generalstreiks gegen die Reform der Sozialgesetzgebung am 20. Mai – dem vierten Generalstreik 2010 – konnte Regierungschef Giórgos Papandréou zufrieden sein. Überall in Griechenland blieb es verhältnismäßig ruhig. Die Beteiligung an der Athener Demonstration blieb mit 40.000 Menschen weit hinter der Mobilisierung vom 5. Mai, mit 250.000 Demonstrierenden, zurück. Auch ein erneuter Versuch, das Parlament zu stürmen, und Straßenschlachten mit der Polizei blieben aus. Weitere Mobilisierungen von GSEE und ADEDY, wie die Demonstration in Athen am 5. Juni, oder verbalradikales Drohen mit weiteren Generalstreiks dürften Papandréou keine großen Sorgen bereiten. Weit weniger gefällt ihm und den Kontrolleuren des IWF die brodelnde Unruhe, die selbstorganisierten Streiks, die spontanen Mobilisierungen und Besetzungen im ganzen Land.
Beim fünftägigen Fest und Kongress der von der „Antiautoritären Bewegung“ (AK) herausgegebenen anarchistischen Monatszeitschrift Babylonía vom 26.-30. Mai in Athen verfolgten 40.000 Menschen die Kulturveranstaltungen und beteiligten sich an den Diskussionen. Auch außerhalb der anarchistisch-antiautoritären Bewegung ist die Forderung nach einem Verweigern der Schuldenzahlungen Griechenlands immer öfter zu hören. Notfalls müsse dies durch neue Aufstände erzwungen werden. AK bereitet für den 8.-10. September einen „Internationalen Kongress der direkten Demokratie“ in Thessaloníki vor. Einen Tag danach wird am 11. September die Internationale Messe Thessaloníki traditionell mit einer „Rede zur Lage der Nation“ vom Ministerpräsidenten eröffnet. Die Mobilisierungen für Großdemonstrationen gegen die Regierungspolitik laufen bereits.
Und die Stimmung ist schlecht. Erstmals seit seinem Amtsantritt wurde Papandréou bei einem Theaterbesuch am 11. Juni vom Theaterpublikum ausgebuht und beschimpft. Schon Mitte Mai musste sich Kulturminister Pános Geroulános während der Einweihung eines fertiggestellten Teilabschnitts der Restaurationsarbeiten an der Akrópolis vor Streikenden in Sicherheit bringen. Dass EU und IWF dem Land „Fortschritte bei den Sparbemühungen“ bescheinigen, hilft da wenig.
Konflikte an allen Ecken und Enden
Ende Mai blieben zeitweise die populären Straßenmärkte im ganzen Land geschlossen, da ProduzentInnen und Belieferer wegen der Sparbeschlüsse riesige Umsatzeinbrüche vermeldeten und in Streik traten. Auf den täglich von Stadtteil zu Stadtteil wechselnden Märkten deckt die Bevölkerung vor allem den Bedarf an Obst, Gemüse und Grundnahrungsmitteln, aber auch an billigen Bekleidungsartikeln. Vertreter der Vereinigung der KioskbesitzerInnen traten zur gleichen Zeit in einen Hungerstreik gegen die neuen Steuergesetze bei Alkohol und Tabak, die ihnen die Lebensgrundlage entzögen. Mit Zelten belagern sie das Büro des Staatssekretärs im Wirtschaftsministerium Fílippos Sachinídis im zentralgriechischen Lárisa. Der Verband der TankstellenbetreiberInnen gab Anfang Juni die Schließung von bisher 350 Tankstellen aufgrund der enormen Benzinpreiserhöhungen bekannt. Super Bleifrei ist seit Anfang des Jahres von ca. 1 Euro/Liter auf ca. 1,70/Liter gestiegen, der Verbrauch um 60% zurückgegangen. Die Vereinigung der Seeleute rief am 31. Mai zur Blockade aller Häfen des Landes auf. Vom 1.-4. Juni streikten die RechtsanwältInnen gegen die Steuergesetzgebung. Die 41 Schuhgeschäfte der Kette Voi Noi wurden am 12. Juni von Angestellten und UnterstützerInnen in diversen Städten blockiert, um für höhere Löhne, Festanstellungen und gegen den Terror der Geschäftsführung zu protestieren. Schon seit über einem Monat laufen die Mobilisierungen der gefeuerten Angestellten des Restaurants Banquet in Thessaloníki. Mit breiter Unterstützung fordern sie auf Demonstrationen, Blockaden und Live-Konzerten vor den Restaurants ihrer Bosse, die Wiedereinstellung und höhere Löhne für die meist prekär Beschäftigten.
Illegal operierende Gruppen wie die „Feuerzellen“ versuchen derweil, die angespannte gesellschaftliche Lage mit Bombenanschlägen, wie vor kurzem auf das Gericht in Thessaloníki und vor dem Athener Korydallós-Gefängnis, zu eskalieren. Und auch die kommunistische Partei (KKE) lässt die Muskeln spielen. Während sich die zweite im Parlament vertretene linke Opposition, die Allianz der radikalen Linken (Syriza), durch Streitereien und die Abspaltung von vier der dreizehn Abgeordneten gerade selbst zerlegt, führte die stalinistische KKE am 15. Mai eine Demonstration gegen den IWF durch. Mit 70.000 Beteiligten war es ihre größte seit Jahrzehnten.
Repression nach verschiedenen Maßstäben
Unterdessen wurden Epaminóndas Korkonéas und Wasílis Saraliótis, die polizeilichen Mörder von Aléxandros Grigorópoulos, am 6. Juni unter Meldeauflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Während Anarchisten in der Vergangenheit nach Ablauf der gesetzlich festgelegten 18-monatigen Höchstdauer der U-Haft, mit lebensbedrohenden Hungerstreiks ihre Freilassung erkämpfen mussten, erfolgte diese für die Polizisten automatisch.
Ein wegweisendes Urteil erging in Thessaloníki. Vier Polizeibeamte hatten einen jungen Mann bei der Gedenkdemonstration für Grigorópoulos am 6. Dezember 2009 verhaftet und ihm einen Rucksack mit Molotowcocktails untergeschoben. Als „Strafe“ wurden sie nun für drei Monate beurlaubt. Filmaufnahmen hatten bewiesen, wie sie den jungen Mann, der in Schlafanzughosen seinen Hausmüll in der Tonne entsorgen wollte, zu Boden warfen und überwältigten.
Dem am 3. Mai nach Verfolgung und einem Schuss in den Fuß verhafteten Anarchisten Símos Seisídis wurde am 28. Mai der verletzte Fuß amputiert. Seisídis, seit Jahren per Haftbefehl als angeblicher Mittäter eines Banküberfalls gesucht, wurde mit Handschellen ans Bett gefesselt und rund um die Uhr von Polizeibeamten im Krankenzimmer bewacht und schikaniert. Nachdem ihn die Staatsgewalt durch drei Athener Krankenhäuser verschleppte, hatte sich sein Gesundheitszustand nach vier Wochen derart verschlechtert, dass Ärzte sein Leben nur durch die sofortige Amputation des verletzten Fußes retten konnten. Die Griechische Ärztevereinigung OENGE verurteilte am 29. Mai aufs Schärfste „die Orgie der Missachtung jeglichen ärztlichen Berufsethos und aller rechtsstaatlichen Grundsätze während der Behandlung des Patienten Símos Seisídis.“
Ralf Dreis, FAU Rhein/Main