Das Laub war noch nicht bunt, da malte die bayerische Presse schon den Teufel an die Wand: Sabotage auf der Wies’n! …ein Nahverkehrsstreik der GdL zum 200. Oktoberfest werde München ins Chaos stürzen (siehe Artikel zu Bahnstreiks: Drei, zwei, eins: Meins). Die neue Freiheit der Gewerkschaften!
Anfang September, knapp zehn Wochen nach Aufhebung der „Tarifeinheit“, schien Bewegung in die Sache zu kommen: Regierungschefin Merkel wollte binnen vier Wochen klar haben, ob ein Gesetz kommt oder nicht. Da war Klärungsbedarf, auf dem Kolloquium im Arbeitsministerium. Neben den unbedingten Verteidigern der Koalitionsfreiheit, die eine gesetzliche Regelung als verfassungswidrig ansehen, suchten andere Juristen „einen Weg in der Mitte“, mit „Vorteilen für alle“. Dem Resümee der FAZ zufolge solle sich die gewerkschaftliche Zuständigkeit nach Arbeitnehmergruppen aufsplitten … Das klingt nach einem bürokratischen Monster, das den Entwurf der „Sozialpartner“ noch übertrifft.
Schon das „Mehrheitsprinzip“, wonach nur die mitgliederstärkste Organisation tarifpolitisch für ihre Mitglieder aktiv werden dürfe, würde „die Gewerkschaften noch weiter in ein kostenintensives bürokratisches Korsett zwingen und ihre Beweglichkeit und Lebendigkeit einschränken“, wenn etwa einem Streik eine notarielle Beglaubigung der Zahlenverhältnisse vorausgehen müsse. So argumentiert die Arbeitsgruppe „Finger weg vom Streikrecht!“ aus der FAU in ihrem Positionspapier. Daher die große Frage: Wäre ein Streik gänzlich verboten, wenn „sich die Nicht-Organisierten als die Mehrheit in einem Betrieb herausstellen“?! „Eine solche Auslegung würde,“ so schwant der AG, „zur Tradition der deutschen Arbeitsgerichte passen.“ Außerdem hieße das vor Gericht und in der Praxis eine Überbewertung der Quantität. Wirklich wichtig sei die „reale Durchsetzungsfähigkeit“ und der „Kampfeswillen“ der GewerkschafterInnen im Betrieb. Einig sehen sich die Anarchosyndikalisten mit Heiner Dribbusch vom DGB-nahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut, der (wie andere, teils hochrangige Funktionäre) das Risiko nicht in einem gewerkschaftlichen Überbietungs- und Konkurrenzkampf sieht. Das Problem des DGB liege eher in seiner vielerorts mangelnden Streikfähigkeit; und gerade das behebe man nicht per Gesetz.
Ganz oben gibt man sich gelassen. Zwar protestiert ein Teil der unteren Ebenen gegen die Rückkehr zur Tarifeinheit. So fühlt sich ein gutes Dutzend Landesfachbereiche von ver.di schlicht übergangen, weil die interne Debatte ausgeblieben war. Zudem können und wollen sie die vorgeschobenen Argumente – den Schutz der Tarifautonomie etwa – nicht nachvollziehen. Doch es hilft nichts: Zu viele Streiks, so ver.di-Vize Herzberg, würden „beliebig und unangemessen“ erscheinen und damit dem Ansehen der Gewerkschaften schaden. Das zweithöchste Gremium der Dienstleistungsgewerkschaft, der Gewerkschaftsrat, bekräftigte Ende September die BDA-DGB-Initiative: Es gelte, so die Beschlussvorlage, „die Tarifeinheit auf Grundlage des Mehrheitsprinzips … zu sichern, um die Entstehung neuer Berufsgruppengewerkschaften zu erschweren. Dieses gesetzgeberische Konzept hat allerdings auch zur Folge, … dass das Streikrecht der Gewerkschaften durch die Ausweitung der Friedenspflicht eingeschränkt wird.“ Man wolle jedoch nicht abwarten, „ob die Prognosen über das Entstehen einer systemgefährdenden Zersplitterung der Tariflandschaft und einer Eskalation der gewerkschaftlichen Streikpraxis … tatsächlich Realität werden“.
Damit steht ver.di sicher nicht allein. Zwar ist es bisher verdächtig ruhig auf der Regierungsbank, und auch im Bundesrat liegt der Tarifeinheitsantrag von Rheinland-Pfalz auf Eis. Auszuschließen ist jedoch nicht, dass hinter den Ministerialkulissen emsig gearbeitet wird. Die FAU wartet übrigens mit einem weiteren Alternativvorschlag zur Lösung des Tarifdilemmas auf: Günstigkeitsprinzip statt Mehrheitsprinzip. Das käme allen zugute.
Im Internet: www.fau.org/streikrecht