„Die beste Kamera ist die, die man dabei hat“. Diesen Leitspruch hat sich ein Pressefotograf zu eigen gemacht, der seine Fotos nicht in den Dienst der Presse stellt. Die Bilder aus der Kamera, die Hinrich Schultze 2006 in Oaxaca dabei hatte, sind zu einem gewichtigen Sprachrohr der „Kommune“ mit der Welt geworden. Mit der Direkten Aktion traf sich der Fotografie-Aktivist zum Gespräch.
Unser Treffen ist kurzfristig umverlegt worden: Anstatt zu ihm nach Hause gehen wir ins „Frappant im Exil“, wo Hinrich sein Büro hat. Das Frappant-Gebäude in Hamburg-Altona ist einer der vielen Orte einer Auseinandersetzung, die sich auf der einen Seite soziale Bewegungen, FreiraumaktivistInnen und die „Recht auf Stadt“-Initiative, und auf der anderen der Hamburger Senat, die Immobilienbranche und etliche GroßinvestorInnen derzeit leisten. Das jahrelang leerstehende Frappant ist ein riesiger Büro-, Wohnraum- und Gewerbekomplex, der durch eine Vielzahl freischaffender KünstlerInnen und MedienaktivistInnen besetzt wurde – und so in dem fast komplett durchgestylten und kommerzialisierten Stadtteil Altona einen Kontrapunkt der Selbstverwaltung setzen konnte. Doch mittlerweile haben die Abriss- und Sanierungsarbeiten am Frappant begonnen: Die Stadt bot all ihre Kreativität auf und schenkt nun mittels breitangelegter Bezuschussung für die notwendige „Infrastruktur“ (Schnellstraßen, Anbindung an die Autobahn) der Welt eine niegelnagelneue IKEA-Filiale. Die bisherigen NutzerInnen, von denen viele schon zuvor aus ihren Räumen auf St.Pauli vertrieben wurden, sind – auch nur aufgrund ihres Protestes – nun vorübergehend in einem Gebäude untergebracht, das in seiner Geschichte schon als Bundeswehrkaserne, als Stützpunkt der Bundespolizei und auch als Unterbringung von AsylbewerberInnen fungierte. Hinrich erzählt mir dies alles, während wir an den schweren Holztüren vorbei ins Treppenhaus des Gebäudes gehen. „Wie lange die Leute nun hier drinnen bleiben können, hängt davon ab, wie sehr sie darum kämpfen wollen, wie immer.“ Während der erste Stock mit flimmerndem Schwarzlicht und wilder Wanddekoration einen Festivalcharakter vermittelt, wird’s im Zweiten schon seriöser. Ein „Zeitzeugen-Archiv“ hat Bilder aufgestellt, eine „Initiative Hochformat“ lädt ein vorbeizuschauen; und auch auf den anderen Gängen scheint sich einiges abzuspielen. Auf dem Weg in den dritten Stock wird mir klar, wie groß das Gebäude ist und wie viele Menschen hier die Räume nutzen. Trotz der Größe des Ortes teilt sich Hinrich einen Raum mit einer zweiten Person – zwei Welten kommen hier zumindest räumlich zusammen, die der Fotografie und die der Malerei.
Von einem Auftragsreisenden zum Chronisten einer historischen Situation
Draußen zeigt sich das Hamburger Wetter von seiner altbekannten Seite; gegen Kälte und Nässe reicht mir Hinrich Schwarzen Tee. Er will gleich loslegen, über Panama, die aktuelle Situation der ArbeiterInnenkämpfe und die Repression des Staates. Ich halte ihn zurück: „Erzähl doch erst mal über dich!“. Ich hatte Hinrichs Fotos bei Veranstaltungen zu Oaxaca gesehen und war sofort eingenommen gewesen von dieser unglaublichen Nähe und vor allem der solidarischen Perspektive, die auf den Bildern der Straßenschlachten, Streiks, Blockaden, Demonstrationen und Streiks immer zum Ausdruck kommt; Hinrichs Fotos bilden die Bewegung nicht einfach ab, vielmehr spricht aus ihnen der Moment, die Situation direkt zu uns. „Nun ja, also, ich bin halt tatsächlich gelernter Fotograf“, lässt Hinrich ein wenig missmutig von Panama, dem Ziel seiner letzten Lateinamerika-Reisen, ab. Ihm geht es deutlich mehr darum, die politische und soziale Lage der Orte, die seine Fotos bebildern, zu schildern als über sich selbst zu reden. Studiert hat Hinrich in Kassel und arbeitete dann als Pressefotograf mit dem Fokus auf soziale Themen, 13 Jahre lang schoss er Bilder für die Taz. 2006 kam dann der Umbruch: Für eine deutsche Stiftung ging er nach Mexiko, um in Chiapas Bilder über die Zapatistas und die aktuelle Lage zu machen. „Aber auf dem Weg dahin bin ich in Oaxaca hängen geblieben“ – Hinrich geriet mehr oder weniger zufällig in die soziale Revolte, die heute als die „Kommune von Oaxaca“ bekannt ist. Seitdem liegt sein Schwerpunkt auf den Kämpfen der emanzipatorischen Bewegungen in Mittelamerika. „Die drei Monate in Oaxaca während der Kommune haben mich tief beeindruckt. Ich habe das damals Anfang der 80er miterlebt, als sich Gleichgesinnte von überall her zusammengetan haben, um sich im Projekt ‚Freie Republik Wendland’ unabhänig vom Staat sozial zu organisieren. Aber 2006 in Oaxaca wurde das über Monate in einer Großstadt realisiert, und zwar von Menschen, die nicht schon vorher eh jahrelang politisch aktiv waren. In der ganzen Stadt gab es keine Regierenden, keine Gerichte, keine Polizei mehr – und es hat einfach verdammt gut funktioniert!“ All die bürgerlichen Schreckgespenster über Chaos, Kriminalität und das Versagen des sozialen Lebens beim Fehlen einer staatlichen Ordnung seien in Oaxaca als Hirngespinste entlarvt worden. „Es war einfach sicherer in Oaxaca ohne den Staat als mit ihm.“ Natürlich sei auch „viel Scheiße passiert“ bei den brutalen Straßenkämpfen mit der Polizei und den oft genug auch tödlichen Auseinandersetzungen mit den Paramilitärs. Aber die Selbstorganisierung der Bevölkerung funktionierte, und zwar ohne dass eine Partei oder sonstige hierarchische Organisationen, ohne dass irgendwelche „FührerInnen“ die Stadt und die Bewegung kontrollierten; basisdemokratisch koordinierten die Delegierten der verschiedenen Gruppen und Initiativen den Widerstand und das Leben.
Von öffentlicher Solidarität und dem Desinteresse der Öffentlichkeit
„Die derzeitige Repression bezieht sich ja immer noch auf das, was 2006 passiert ist.“ Der Staat und sein rechter Anhang sind mit der „Kommune von Oaxaca“ auch nach ihrer gewalttätigen Zerschlagung noch nicht fertig. Erst am 22. Oktober diesen Jahres wurde Catarino Torres, Mitglied des „Komitees der Verteidigung der BürgerInnen“ (Codeci) ermordet – er war 2006 nach der Einnahme der Stadt durch den Staat einer der ersten gewesen, die inhaftiert worden waren. Das Problem der gezielt mordenden Paramilitärs ist die größte Bedrohung der sozialen Bewegungen in Mexiko und stellt auch einen qualitativen Unterschied zu Panama, Hinrichs derzeitigem Schwerpunkt, dar. „Was damals mit Brad, dem Indymedia-Journalisten aus den USA passiert ist, wissen wir ja alle“. Brad wurde 2006 in Oaxaca auf offener Straße von Paramilitärs erschossen. Seine Mörder wurden zwar fotografiert, brauchen aber eine Verfolgung durch den Staat nicht zu fürchten. Hinrich hatte Brad noch persönlich kennen gelernt, war mit ihm in einer Gruppe von etwa zehn solidarischen ausländischen Journalisten in Oaxaca unterwegs gewesen. Er selbst, sagt Hinrich, hatte während seines Aufenthalts jedoch kaum Probleme – nur ab und zu hätten sie wegen der Bedrohung durch die Paramilitärs die Wohnung wechseln müssen. Ich frage, ob die Intensität der Auseinandersetzung nicht eine Hemmschwelle für ihn gewesen wäre, selber Bindungen dort aufzubauen. Doch Hinrich findet die Frage unangebracht. „Die Leute waren einfach unglaublich warmherzig und interessiert, und obwohl ich nicht gut Spanisch spreche, war ich ständig in Kommunikation, habe ungemein viel gesehen und erlebt.“ Die Situation der Menschen sei doch noch viel mehr Grund, da zu sein und hinzuschauen, als sich aus dem Staub zu machen. „Denn das schlimmste für die Leute ist es, wenn niemand mitbekommt, was für ein Unrecht passiert, oder sich einfach niemand dafür interessiert.“
Genau dieser Vorwurf ist aber so gut wie allen Medien in Deutschland zu machen. Eigentlich sind die großen Zeitungen und Nachrichtensendungen hierzulande immer sehr hinter Bildern von brennenden Barrikaden, Aufnahmen von Straßenkämpfen, Meldungen von Toten und Verletzten her. Doch während ansonsten jede Unruhe in der medial sogenannten „Dritten Welt“, solange sie nur spektakuläre Bilder liefert, in die westlichen Klischees gezwängt wird und dann als Kurzmeldung ihren Weg in unsere Nachrichten findet, schwieg die deutsche Presse beinahe gänzlich während der sechs Monate der „Kommune von Oaxaca“, wie sie auch heute zu der Repression in Mexiko schweigt. „Ich habe meine Fotos der Presse angeboten, aber bis auf die Junge Welt hat sich niemand mit Oaxaca beschäftigen wollen. Vielleicht passte es einfach nicht ins Weltbild der deutschen Medienlandschaft, dass die Unterdrückten eine Zeit lang nicht bloß die Opfer waren, sondern ihr Schicksal selbstbestimmt in die Hand genommen haben.“ Noch nicht einmal die Taz, Hinrichs ehemaliger Arbeitgeber, nahm sich des Themas an. „Der Taz-Korrespondent sitzt halt in Mexiko City und fährt wohl nicht gerne in die Provinz. Das ist typisch für deutsche Zeitungen.“ Die offizielle Regierungspolitik und der Drogenkrieg sind für deutsche Medien anscheinend das Wichtigste, über das es aus Mexiko zu berichten gilt. „Dabei war Oaxaca ein wirklich wichtiges, einschneidendes Ereignis.“ Ich frage ihn, wie es denn für die Leute vor Ort war, wenn er mitten in den Auseinandersetzungen mit dem Staat oder abends bei den Barrikaden mit der Kamera auftauchte – schließlich herrscht auf deutschen Demos oft eine sehr ausgeprägte Ablehnung gegenüber FotografInnen. „Wenn es nicht in Ordnung war für die Menschen, hab ich natürlich nicht fotografiert. Aber allgemein war ihnen das Interesse der Öffentlichkeit immer enorm wichtig. Schon paradox, dass gerade der enorme Grad der Repression dazu beigetragen hat, dass sich die Leute in der Frage der Bilder ganz anders verhalten, als es auf den meisten Demonstrationen in Deutschland der Fall ist.“ So werden seine Bilder, auf denen kämpfende Menschen ohne Vermummung oder Verpixelung der Gesichter zu sehen sind, nicht nur in Deutschland ausgestellt, sondern auch von der Bewegung in Mexiko gerne auf Veranstaltungen gezeigt. Während sie in Oaxaca dem kollektiven Gedächtnis und der Dokumentation der eigenen Verhältnisse dienen, sind Hinrichs Bilder in Deutschland vor allem dafür von Wert, dass die Ereignisse jenseits der wenigen Berichte für uns überhaupt vorstellbar sind. Und in dieser Funktion stoßen die Momentaufnahmen aus der „Kommune von Oaxaca“ auf vielfaches Interesse – wenn auch die Presse ihm die kalte Schulter zeigte, so kann sich Hinrich zumindest nicht über einen schleppenden Verkauf seiner Fotos auf Veranstaltungen oder über das Hamburger Café Libertad Kollektiv beschweren. Dass so etwas aber nur ein Nebenaspekt für ihn darstellt, versteht sich von selbst – die Erfahrungen und Freundschaften sind das Wichtigste, das Hinrich aus dieser Zeit mitnehmen konnte. Seine Kontakte pflegt er daher weiter, erst vor kurzer Zeit begleitete er einen Bekannten aus Oaxaca auf dessen Info-Tour durch Europa.
Hierzulande eine Solidaritätsstruktur aufzubauen, wie sie etwa für die Zapatistas in der südlichen Nachbarprovinz Chiapas besteht, gestaltet sich jedoch schwierig. „Peace Brigades International hat angefangen, sich der Thematik anzunehmen, und auch Café Libertad versucht, zu unterstützen. Doch die Repression ist einfach enorm.“ Ein Aktivist aus Finnland, der in Oaxaca Kontakte zu Kollektiven aufbauen wollte, wurde von Paramilitärs erschossen – die Zapatistas haben den mexikanischen Staat auch gelehrt, Solidaritätsbewegungen frühzeitig anzugreifen.
Oh wie schön ist…? In Panama schießt der Staat auf Gewerkschafter
„Wie kam es denn dann zu dem Blickwechsel auf Panama?“ Etwas abrupt ändere ich das Thema. Ich merke, dass Hinrich noch sehr viel mehr zu Oaxaca erzählen könnte, der große Stapel an Bildern seiner neusten Fotoreihe, der direkt vor mir liegt, erregt hingegen schon längere Zeit mein Interesse. Doch Hinrich kann hier nahtlos ansetzen: „2007 bin ich wieder nach Mexiko gegangen, wieder nach Oaxaca, dann weiter nach Chiapas. Mit ein paar Freunden von dort bin ich dann mit Bussen durch Mittelamerika gefahren und schließlich in Panama gelandet.“ Kaum dort angekommen, ergab es sich, dass Hinrich sich gleich in die Arbeit stürzen konnte: Er half mit, das alternative, selbstorganisierte Nachrichtenportal „Frenadesonoticias“ aufzubauen. Dieses sendet heute täglich eigenproduzierte Nachrichten als Film und Radiopotcast landesweit und steuert den regierungs- und unternehmerfreundlichen Medien entgegen. Und zu berichten gibt es für Frenadesonoticias einiges: Seit einigen Jahren kämpfen Gewerkschaften und indigene Gemeinschaften gegen einen Staat, der mit zunehmender Brutalität seine turbokapitalistische Entwicklung durchpeitscht. Drei Tote gab es in den letzten Jahren auf Seiten der Bewegungen zu beweinen – ermordet nicht von Paramilitärs, wie es in Mexiko meistens der Fall ist, sondern von der Polizei. Einer der Toten war ein wichtiges Mitglied der BauarbeiterInnengewerkschaft „SUNTRACS“, Hinrich hatte ihn noch persönlich kennen gelernt – womit nun schon zwei Leute getötet wurden, mit denen er Kontakt hatte. „Eigentlich ist es einem ja bewusst, wie heftig der Kampf dort ist“, denke ich, „aber trotzdem fehlt uns so oft der tatsächliche Bezug“. Derweil erzählt mein Gesprächspartner weiter und geht auf die Hintergründe der Auseinandersetzung ein. SUNTRACS ist der Regierung deshalb ein Dorn im Auge, weil es ihr gelungen ist, im boomenden Baugeschäft die ArbeiterInnen massenhaft zu organisieren und so für dortige Verhältnisse hohe Löhne zu erkämpfen. „Das ist der Wahnsinn dort, in der Hauptstadt, entlang des Kanals, überall schießen riesige Hochhauskomplexe aus dem Boden. Und die Inseln werden von reichen Leuten von überall her aufgekauft, um Prachtvillen drauf zu setzen. Das Land ist also enorm von den BauarbeiterInnen abhängig.“ Doch während ein Land wie Panama natürlich gern mit extrem niedrigen Löhnen als Standortfaktor hausieren gehen würde, nutzten die organisierten ArbeiterInnen die Gunst der Stunde – und werden seit dem entsprechend von der Regierung behandelt. Mit Polizeigewalt werden „gelbe Gewerkschaften“ im Interesse der Unternehmen gegen SUNTRACS in Stellung gebracht: „Die SUNTRACS Leute wollten ArbeiterInnen auf einer dieser Inseln, auf denen sich so ein paar Superreiche ihren Lebensabend einrichten lassen wollen, agitieren. Die gelben Gewerkschaften riefen die Polizei, und diese verbot das Verteilen von Flugblättern auf der Insel. Als die SUNTRACS-AktivistInnen dennoch weitermachten, erschoss die Polizei einen von ihnen.“
Mehr als vereinzelte ArbeiterInnen-Kämpfe
Und die Zeichen stehen weiter auf Sturm in Panama. „Der neue Präsident ist selbst Multimillionär und persönlich mit der Industrie verstrickt. Klar, dass der voll auf Konfrontation geht.“ Staatschef Ricardo Martinelli, mit italienischen Wurzeln und besten Beziehungen zu Berlusconi, führt nicht bloß den scharfen Kampf gegen SUNTRACS fort, sondern geht seit seinem Amtsantritt auch vor allem gegen die indigenen Gebiete und die ArbeiterInnen auf den Bananenplantagen vor. Bei Auseinandersetzungen zwischen den ArbeiterInnen und der Polizei am Rande eines Streiks auf einer der zahllosen Plantagen des Landes wurde einigen Menschen mit Schrotflinten ins Gesicht geschossen, so dass diese, grausam entstellt, ihr Augenlicht verloren – was danach vom Präsidenten öffentlich gerechtfertig wurde: Die Schuld sei nicht der Polizei zu geben, sondern den Gewerkschaften, die die ArbeiterInnen aufgehetzt hätten. Gleichzeitig geht die Regierung rabiat gegen alle Umweltbestimmungen vor, die Indigene und soziale Bewegungen zuvor erkämpft hatten. „Eigentlich waren der Umweltschutz und damit verbunden die Rechte der Indigenen sehr weit fortgeschritten in Panama. Doch das wird gerade alles in einem unglaublichen Tempo im Interesse der Industrie weggewalzt.“ Die Kämpfe der BauarbeiterInnen und der Indigenen finden an diesem Punkt ihren gemeinsamen Kontext. Überhaupt seien die verschiedenen Bewegungen sehr gut vernetzt, und Solidarität würde im Kampf mit dem Staat sehr groß geschrieben, erzählt Hinrich. Er zeigt mir Fotos von Demonstrationen von SUNTRACS, auf denen Indigene demonstrativ in ihrer traditionellen Kleidung auftreten. Zudem rekrutiert sich das verarmte Subproletariat Panamas, die Basis der vielen Niedriglohnsektoren des Landes, massiv aus den indigenen Gemeinden. Hinrich zeigt mir auch die Fotos der Großstadtslums, in der die aus ihren Gemeinden Vertriebenen häufig als Tagelöhner auf ihre Anstellung warten.
Ein Lehrstück für die Welt
An dieser Stelle komme ich noch mal auf Oaxaca zu sprechen. Auch dort entzündete sich der Aufstand, aus dem dann die „Kommune von Oaxaca“ erwachsen sollte, an gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen, nämlich dem Streik der LehrerInnen. Gleichzeitig bildeten die indigenen Bewegungen eine wichtige soziale Basis der Kommune. „Die Lehrer haben ja gerade wegen der miserablen sozialen Situation der Familien gestreikt“, nimmt Hinrich den Faden auf. Auch wenn letztendlich die LehrerInnen-Gewerkschaft der Spaltungsstrategie der Regierung auf den Leim ging und sich durch Lohnsteigerungen ruhig stellen ließ, so verfolgten die kämpfenden Lehrkräfte anfangs vielmehr gesamtgesellschaftliche Ziele: Kostenlose Mahlzeiten für die Kinder in der Schule, kostenloses Lehrmaterial, bessere Ausstattung der Schulen, Anerkennung der indigenen Lebensrealitäten im Unterricht und vieles mehr. Dadurch hatten sie die Mehrheit der Bevölkerung von Beginn an auf ihrer Seite – und als die Repression des Staates gegen die LehrerInnen begann, brach ein allgemeiner Aufstand aus. Während der „Kommune von Oaxaca“ waren dann wiederum die gesellschaftlichen Strukturen der indigenen Gemeinden eine wichtige Inspiration für die basisdemokratische Organisierung des Lebens, wobei die Zugehörigkeit zu einem Volksstamm keine Rolle mehr spielte: „So etwas kann ohnehin nur funktionieren, wenn alle zusammenhalten.“
Wie er die aktuelle Lage in Oaxaca einschätzt, will ich zum Schluss unseres Gesprächs noch wissen. „Dass der Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz endlich weg ist, hat nicht viel verändert. Doch das war den meisten Leuten auch klar.“ Die Bewegung sucht derzeit den Weg aus der Defensive, in die sie die Repression gedrängt hat. Die fatalen Erdrutsche vor einigen Wochen, bei denen hunderte Menschen ums Leben kamen, haben die Situation noch verschärft: „Überall sind dort nun Soldaten zu sehen, die angeblich das Land wieder aufbauen. Doch dabei halten sie Gewehre in der Hand – wie soll das bitte gehen?“ Die „Kommune von Oaxaca“ war der Welt ein Lehrstück für eine Gesellschaft jenseits des Staates und seiner Organisationen – umso wichtiger ist es nun, dass ihre AkteurInnen nicht in Vergessenheit geraten.
Marcus Munzlinger