Die Gewerkschaften sind in der Krise. Und das schon länger, nicht erst seit der sog. Finanzkrise. Mit Wirtschaftskrise hat das dennoch zu tun, denn Deregulierung, Flexibilisierung und Prekarisierung sind politisch gewollte Prozesse, die das Kapital aus der Krise der 1970er Jahre holen sollten. Diese Prozesse hat die Klientel der Gewerkschaften, die Arbeiterklasse, in vielerlei Hinsicht neu zusammengesetzt: Ausbildung, Alltag, Lebensumstände und -weisen neuer Schichten in der Arbeiterklasse sind oft anders als früher. Arbeitslosigkeit und gewerkschaftsfreie Zonen, geschaffen durch Outsourcing, Leiharbeit, Werkverträge, Schein- und Soloselbstständigkeit, lassen die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften kontinuierlich sinken – und dies im globalen Maßstab. Die „atypischen Beschäftigungsverhältnisse“ betreffen besonders häufig MigrantInnen, Frauen und junge Menschen.
Die etablierten Gewerkschaften tragen z.T. Mitschuld an dieser Misere, denn sie haben die politischen Prozesse, die den wirtschaftlichen Wandel begleiten, mit durchgestimmt und durchgesetzt oder, wo nicht, zumindest den aktiven Widerstand dagegen verhindert. Dennoch: Die globale Wanderung der Industrie und die damit einhergehende „Dienstleistisierung“ finden auch ohne Zutun der Gewerkschaften statt. Und jede Gewerkschaft, die es ernst meint damit, für die Interessen der Lohnabhängigen zu kämpfen, muss bereit sein, ihre Konzepte zu erneuern.
Die langjährige Ignoranz und jetzige Zaghaftigkeit der etablierten Gewerkschaften gegenüber den prekär Beschäftigten kann dabei als Chance für Selbstermächtigung und Selbstorganisation begriffen werden. Mit aus den USA übernommenen „Organizing“-Ansätzen nähern sich zwar auch die DGB-Gewerkschaften den „Besonderen“, wie sie im ver.di-Jargon heißen, an, dies jedoch zumeist auf eine paternalistische Weise. Jene Organizing-Konzepte haben in den USA eine lange Tradition. In der intensiv geführten Diskussion darüber wird oft auf Saul Alinskys „Community Organizing“ verwiesen. Dass gewerkschaftliches Organizing eben aber auch eine spezifisch syndikalistische Strategie ist, fällt zumeist unter den Tisch. Für neue gewerkschaftliche Wege lohnt sich daher auch ein Blick in die eigene Geschichte.
Aber auch das Schlagwort „Community“ ist für eine Neuorientierung geeignet: Das „Organizing“ im Betrieb kann nur dort funktionieren, wo es noch einen Betrieb gibt. Call-Center-Jobs z.B. sind zwar relativ neue Tätigkeiten, sie bieten aber für gewerkschaftliche Kampagnen einen guten Ausgangspunkt, weil hier – sogar eher zunehmend – viele ArbeiterInnen gemeinsam an einem Ort ansprechbar sind. Ganz anders sieht dies dort aus, wo ArbeiterInnen vereinzelt, von zu Hause aus, in virtuellen Netzwerken oder in Cafés arbeiten. Wo der Betrieb zur virtuellen Cloud wird, muss auch die Gewerkschaft virtuelle Strategien erlernen (siehe dazu auch die Artikel Taylorismus 3.0 und Das Syndikat als virtueller Mob). Wo vereinzelt gearbeitet wird, wenn ArbeiterInnen umherschweifen, dann muss auch die Gewerkschaft ausschweifen. Kulturelle Aspekte, Stadtteilarbeit, soziale Organisierung und virtuelle Methoden sind daher zukunftsträchtige Themen.
Aus den „Dinosauriern“ wendige Chamäleons zu machen, wird jedoch nicht ausreichen. Das zeigt sich insbesondere am Beispiel jener vermeintlich Selbständigen (von Wirtschaftsliberalen gern als „Arbeitskraftunternehmer“ verstanden), die sich von Auftrag zu Auftrag hangeln: Arbeitsrechte, soziale Absicherung und finanzielle Sicherheit sind hier oftmals nicht gegeben. Auch die elementarsten Rechte – regelmäßige Pausen, Wochenenden, Feiertagszuschläge – finden hier keine Anwendung. Wenn sie alleine streiken, bestreiken sie sich theoretisch selbst. Und wenn die „Crowd Workers“ der Zukunft sich vernetzen, riskieren sie ihre Aufträge, denn die virtuellen „Working Clouds“ der Zukunft werden gewerkschaftliches Engagement schnell registrieren. Die „schwarzen Listen“, die wir aus der Geschichte der Arbeiterbewegung kennen, sind in Zeiten von Google längst Realität.
Um aktions- und kampffähig zu bleiben, um mit dem Wandel der Arbeitswelt Schritt zu halten oder ihn gar vorwegzunehmen, müssen die Basisgewerkschaften neue Bewegungs- und Organisierungsstrategien erproben. Sie müssen neue Kampfformen entdecken und alte wieder entdecken. Und womöglich wird dies eine vollkommene Umstrukturierung der vorherrschenden Gewerkschaftsform bedeuten. Alles neu macht eben nicht der Mai. Das muss man schon selber machen.