Mobilisiert von den großen italienischen Gewerkschaften FIM, FIOM, CGIL und UIM demonstrierten am 2. August 2012 ArbeiterInnen in Taranto unter dem Motto „Lieber Krebs als arbeitslos“. Auf dieser Pro-Riva-Demonstration kappten die ArbeiterInnen und AnwohnerInnen, die sich nicht weiter mit der Alternative Arbeit oder Gesundheit und der bekannten Korruption zwischen dem ILVA Werk, der etablierten Politik, den Parteien und den Mehrheitsgewerkschaften abfinden wollten, das Mikrofon von Maurizio Landini, dem Chef der FIOM – Metall – Gewerkschaft.
Im süditalienischen Taranto produziert Italiens größtes Stahlwerk ILVA, Teil der Riva-Group, ca. 9 Millionen Tonnen Stahl-Fertigprodukte pro Jahr. Die Riva-Gruppe betreibt auch in Henningsdorf, Brandenburg an der Havel und in Lampertheim Werke der stahlverarbeitenden Industrie. Im Besitz der Familie Riva sind weitere Stahlwerke in Italien und dem restlichen Europa.
Nähert man sich der Stadt Taranto auf der E 90 von Bari aus, bestimmt schon von weitem das Stahlwerk das Bild der Stadt. Riesige Hallen und Schornsteine ergeben ein bizarres Bild eines großen Monsters, das das Leben der Menschen und die Umweltbedingungen der Region bestimmt, beschreibt Ivan, Journalist aus der Gegend um Taranto, das Werk.
Seit der Privatisierung 1995 häufen sich die Meldungen über Arbeitsunfälle im Werk. So berichtete die DA #191 Januar/Februar 2009 über 44 tödliche Arbeitsunfälle seit der Privatisierung. Hinzu kommen die arbeitsbedingten Erkrankungen und Todesfälle, insbesondere Atemwegs- und Krebserkrankungen, die im direkten Zusammenhang mit der umwelt- und gesundheitsschädlichen Produktionsweise der ILVA stehen. Allein die Zahl der Krebserkrankungen in der Region beträgt schätzungsweise 500 pro Jahr. Das wurde seitens des Riva-Konzerns lange dementiert und mantra-artig auf die Investitionen in Maßnahmen zum Umweltschutz verwiesen.
Eine Farce, wenn man sich die aktuellen Anklagepunkte vom Mai dieses Jahres der Mailänder Staatsanwaltschaft gegenüber Emilio Riva, Chef des Riva-Konzerns, ansieht. Die Anklagepunkte betreffen Umweltverbrechen und den Verdacht auf fahrlässige Tötung.
Im Zuge des Gerichtsverfahrens wurden bereits 8,1 Milliarden Euro des Vermögens der Familie Riva eingefroren, die nach Ansicht der Mailänder Staatsanwaltschaft in Umweltschutzanlagen hätten investiert werden müssen. Diese Unterlassungen führten zu Emissionen von Dioxin und anderen Schadstoffen, die zu Umweltschäden und einer Häufung von Erkrankungen bei ArbeiterInnen und AnwohnerInnen geführt haben.
Weitere 1,2 Milliarden Euro sind bereits beschlagnahmt worden oder werden noch in verschiedenen Steueroasen gesucht. Der Vorwurf gegen Emilio und seinem Bruder Adriano Riva lautet in diesem Fall auch auf Steuerhinterziehung.
Klagen, Verhaftungen und Rücktritte
Es stellt sich die Frage, warum immer noch Anstrengungen von der Regierung in Rom unternommen werden, den Regelbetrieb aufrechtzuerhalten, obwohl die Provinzregierung in Taranto das Werk zumindest zum Teil stilllegen wollte. Die Nichtbeachtung von richterlichen Anordnungen hat bei der ILVA scheinbar Tradition. Seit 2004 sollten mehrere Werksteile laut richterlichem Beschluss stillgelegt werden, was jedoch nicht umgesetzt wurde. Die Stilllegungen sollten dem Schutz der Gesundheit von Bevölkerung und Belegschaft dienen. Im Juli 2012 wurden Emilio Riva, sein Sohn Nicola und sechs weitere Manager verhaftet bzw. unter Hausarrest gestellt. Ein weiterer Sohn, Fabio setzte sich schon 2012 nach London ab, um sich der Verhaftung zu entziehen. Mittlerweile wurde er als Drahtzieher der Steuerhinterziehung in London verhaftet und soll in den nächsten Wochen nach Italien ausgeliefert werden.
Dass die Firmenleitung des ILVA-Werkes über Jahre hinweg scheinbar unbehelligt Arbeitsschutz- und Umweltschutzauflagen verletzen konnte, zeigt, wie tief das Geflecht Politik-ILVA-Mehrheits-Gewerkschaften ist.
Am 25.05.2013, dem Tag, an dem der Aufsichtsrat der ILVA zurücktrat, fand im Berliner FAU-Lokal die erste von mindestens zwei Veranstaltungen zu den verbrecherischen Machenschaften der Riva-Gruppe statt. Zu Gast waren Giovanni, Aktivist aus dem Komitee „Comitato Cittadini e Lavoratori liberie pensanti“ (Komitee freier und denkender BürgerInnen und ArbeiterInnen) und Ivan, Journalist aus Taranto. Zu der Veranstaltung des Taranto-Soli-Komitees, bestehend aus tie germany, labournet.tv und der Sektion Bau und Technik der FAU Berlin, kamen BesucherInnen aus Berlin und Riesa. Auch Arbeiter aus dem Henningsdorfer Werk, wo am 1. Mai durch ein Flugblatt auf die Situation in Taranto und die Veranstaltung im FAU-Lokal Berlin aufmerksam gemacht wurde, kamen zur Veranstaltung.
Die Region wehrt sich
Giovanni berichtete von den aktuellen Kämpfen der ArbeiterInnen und AnwohnerInnen in und um Taranto: „Der Druck auf die Regierung und die Werksleitung steigt, was man daran sieht, dass immer mehr Menschen bewusst unabhängig von den großen Gewerkschaften und Parteien auf die Straße gehen.“ Laut Giovanni folgten den Aufrufen des „Comitato“ im Spätsommer letzten Jahres 300 Menschen zu Kundgebungen. Am 1. Mai 2013 zogen bis zu 50.000 Menschen auf die Straßen und Plätze und setzten ein Zeichen gegen die 1.Mai-Kundgebungen der großen Gewerkschaften.
Dabei machten Giovanni und Ivan deutlich, wie das System Riva-ILVA in Taranto über Jahre funktionieren konnte. Eine große Überraschung war es nicht, zu hören, dass die Familie Riva ein weitgestricktes Netz von finanziellen Zuwendungen aufbaute, um sich unabdingbar zu machen. So berichteten sie von Finanzhilfen der Riva-Gruppe an politische Parteien jeder Richtung von der Mitte aus.
Abgesehen von diesen „Beihilfen“ war und ist das Erpressungspotential hinsichtlich der Arbeitsplätze enorm. Apulien gilt als strukturschwächste Region Italiens, und die Riva-Gruppe argumentiert mit dem Wegfall von bis zu 20.000 Arbeitsplätzen direkt in Apulien und Zehntausenden in der Zulieferindustrie. Mit dem Verlust des Arbeitsplatzes lassen sich bei den Menschen Ängste schüren. Es war ein langer Weg, so Giovanni, dass sich die Menschen in Taranto selbstorganisieren, um für Arbeitsplätze und ihre Gesundheit zu kämpfen. Schon seit vielen Jahren tragen besorgte ArbeiterInnen und AnwohnerInnen Fakten und Unterlagen zusammen, die beweisen, dass ILVA die Menschen krank macht.
Für diese Menschen war es nicht immer leicht, sich Gehör zu verschaffen, denn ILVA bedeutet eben auch Lohnarbeit. Seit 50 Jahren gehört die Fabrik mit ihrem bizarren Bild und dem Schmutz zur Stadt. Vor ILVA wanderten große Teile der Bevölkerung aus oder arbeiteten unter prekärsten Bedingungen als Fischer, Landarbeiter auf einem Großbesitz oder für das Militär. So versprach ILVA zunächst ein wenig Unabhängigkeit. Die Privatisierung im Jahr 1995 nahmen viele Menschen in Taranto erleichtert auf, weil sich die ausländischen Investoren aus Japan, Indien oder Deutschland nicht durchgesetzt hatten. Dadurch blieb die Hoffnung erhalten, dass die Brosamen des Reichtums der ILVA weiterhin in die Region fließen. Erst langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass sowohl vor ILVA, während der Zeit als Staatsbetrieb und unter Emilio Riva, das Werk und der Schmutz zwar in Taranto war, aber das Geld nach Rom bzw. nach der Privatisierung nach Mailand wanderte. „Die Menschen sehen mittlerweile ein, dass ein Weg gefunden werden muss, am eigenen Schicksal teilzuhaben“, kommentiert Giovanni die aktuelle Entwicklung. Ein neuer Slogan des „Comitato Cittadini e Lavoratori liberi e pensanti“ lautet passenderweise: Io non delego, io participio (Ich delegiere nicht, ich mache mit).