Einige Wochen sind seit dem 1. Mai 2013 vergangen, dem Tag, an dem Lutz Schulenburg uns plötzlich verlassen hat. Das Lauffeuer war rasend, die Resonanz entsprach dem Maßstab seines unermüdlichen Wirkens und Arbeitens für sichtbare und unsichtbare Aufstände. Eine Flut von Nachrufen und Trauerbekundungen brach los. Und da war die großartig berührende Trauerfeier am Hamburger Diebsteich. Dort hat Lutz seine letzte Ruhestätte gefunden, in gebührendem Abstand zu den offenen Armen einer bronzenen Maria.
Die Nachricht seines Todes hatte uns alle in Hamburg, die wir ihn kannten, überrascht. Von seinem Aneurysma, welches ihn kurz nach der Leipziger Buchmesse ereilt hatte, schien Lutz sich so blendend erholt zu haben. Mit der gleichen Vehemenz und rebellischen Kraft, mit der er sein Leben lang unterwegs gewesen war. Und als er, aus dem Krankenhaus kommend, seine Reha in Plau am See antrat, da hatten wir ihn doch gerade noch einmal ganz anders kennengelernt… Und er selbst vielleicht sich und sein Leben? Am 21. April, seinem 60. Geburtstag, sagte er auf die Frage, wie er sich denn fühle, leise: „Ach, ich wusste ja gar nicht, dass das Leben auch so sein kann. So leicht, so frei…“ Er sagte das mit einer sanften hellen Stimme, die es nicht gewohnt schien, Worte für dieses ganz Andere zu ertasten. Und dann das letzte Foto von Lutz; KP Flügel hat es drei Tage vor dem letzten Tag während einer Schiffsreise über den Plauer See gemacht. „Ein Mann in Frieden, harmonisch und schön – mit (s)einem liebenswürdigen, leise ironischen Lächeln – in äußerer und innerer Ruhe, geschützt durch Mütze und Brille, das von 1000 Gedanken besetzte Gehirn wie befreit…, beinahe ist so etwas wie Heil-Sein zu spüren, ein im Einklang-Sein. Vielleicht der Ausdruck von tiefem inneren Einverständnis?“ So fragte sein Arzt und Freund Hans Schulz in seiner Traueransprache.
Mit dieser Offenheit und Neugierde hatten wir Lutz ein paar Jahre zuvor kennengelernt. In der „Schwarzen Katze“, einem Kellerlokal in der Hamburger Fettstraße, welches anarchistischen Gedanken und Aktivismen Raum bietet. Da saß der Verleger Lutz Schulenburg bei einem Treffen der FAU. Bescheiden, erwartungsvoll, freies Engagement wertschätzend. Da saßen wir, in elegantem Schwarz, irgendwie anders. Lutz beäugte uns und freute sich. Wir auch. Dann lernten wir seine Partnerin Hanna Mittelstädt kennen. Wir wurden Freunde, wir machten ein Buch zusammen, und manches Interview für die DA, die GWR und Radio FSK.
Offenheit und Neugierde haben Lutz durch das Leben geführt, zuweilen getrieben. Als Schüler wollte er lieber nach Kuba, als in Hamburg-Bergedorf weiter die Schulbank zu drücken. Der Ausreißer kam nur bis München, wo er von der Polizei aufgegriffen und wieder zurückgeschickt wurde. Dieser Freiheitsdrang war für ihn ein bedingungsloser. Engagiert in linken Zusammenhängen, zeigte er sich offen für die Ideen der Situationisten, die den Pariser Mai mit ihren Manifesten und Texten und ihrem Slogan „Ne travaillez jamais!“ entscheidend mit geprägt hatten. Als dann der Situationist Pierre Gallissaires nach Hamburg kam und Lutz auch Hanna Mittelstädt kennenlernte, widmete er sich elanvoll der Verlagsarbeit. In der Edition Nautilus wurden Schriften der Situationisten, Surrealisten und Dadaisten verlegt, neben anspruchsvoller Literatur und politischen Kampfschriften. Zuletzt waren es Der kommende Aufstand, die Protest- und Verteidigungsschriften von Pussy Riot sowie das feministische Manifest von Laurie Penny, mit denen der Verlag eindeutig eine emanzipatorisch-libertäre Position bezog, auch wenn Lutz den Verlag nicht als einen anarchistisch festgelegten verstanden wissen wollte. Und er widmete sich der Fortführung der vom Rätekommunisten Franz Pfemfert 1911 gegründeten Zeitschrift Die Aktion. Eine der ganz wenigen Zeitschriften, die sich konsequent gegen jegliche Kriegsbegeisterung positionierte.
In einem in der April/Mai-Ausgabe der DA veröffentlichten Gespräch über die Neuerscheinung des Trottelbuchs von Franz Jung fand Lutz Sätze über den geliebten Schriftsteller, Aktivisten und Rätekommunisten, als wären sie eine unübertreffliche Selbstbeschreibung. Ersetzen wir also Franz Jung durch Lutz, würde es heißen: „Lutz Schulenburg ist ein von Herzen abenteuerlicher und vom Typus her avantgardistischer Verleger und Aktivist… zugleich umtriebig und Getriebener, Zeitgenosse und natürlich Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse. Aber er war jemand, der seine Zeit sehr genau wahrgenommen hat und immer an Orten war, an denen sich etwas entschieden hat.“
Franz Jung hatte den Satz von Thomas von Kempen „Was suchst du Ruhe, wenn du zur Unruhe geboren bist?“ seiner autobiografischen Schrift Der Weg nach unten vorangestellt. Dieser Satz leitete auch das Programm der Trauerfeier von Lutz Schulenburg ein. Ob er, der Unruhige, jetzt Ruhe gefunden hat?
Was hat Lutz zu allerletzt wahrgenommen, was hat sich und wo genau für ihn entschieden, als er gegangen ist, von hier, ganz und für immer? Was hat sich da seiner Offenheit und Neugierde dargeboten? Diese Fragen bleiben. Lutz hat sie uns gelassen. Die Unruhe der Frage. Der Frage nach der Ruhe in der Unruhe des Erdenlebens.