Das Land der unbegrenzten Ausbeutung

Aufgrund der Anstellung meines Vaters war ich lange Zeit ein Teil der saudischen Gesellschaft. Ich bin dort geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Die Zeit in Saudi-Arabien war für uns alle von Rassismus und Ausgrenzung geprägt. Für die saudischen Mitschüler waren meine Geschwister und ich lediglich „Ajnabi“ (Fremde, Ausländer), die ihre Heimat nur für Geld verlassen haben und ihre Seele für selbiges verkaufen würden. In Deutschland entspricht das in etwa dem Diskurs über sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge. Die Schulzeit war von sinnlosen körperlichen Auseinandersetzungen zwischen „Ajnabis“ und Saudis gezeichnet, die von den Lehrer_innen ignoriert wurden. Der Zugang zu Freizeitangeboten und Sporteinrichtungen war uns Ajnabi-Kindern untersagt. Das Verlassen unseres Hauses ohne Begleitung verboten uns unsere Eltern strengstens, zu oft hörte man Geschichten von entführten Kindern der ausländischen Familien, weil diese so „beliebt“ seien und so exotisch in ihren Jeans aussähen.

Die Skyline von Riad wurde auf Öl gebaut - und auf hemmungslose Ausbeutung

Der saudische Traum

Seit der Entdeckung des Öls 1938 bis zur heutigen Zeit gilt Saudi Arabien als eines der am schnellsten wachsenden Wirtschaftsländer der Region. Mit etwa 90 Prozent Anteil am saudischen Budget und einem reellen Profit von über 102,9 Milliarden Dollar im Jahr 2012 ist das Öl der Garant für das luxuriöse Leben und eine sichere Zukunft. Saudi Arabien wurde aus ökonomischer Sicht zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten; eine Fülle an Stellenangeboten und hohe Verdienstmöglichkeiten sind ein Magnet für Arbeiter_innen aus aller Welt. Heute arbeiten und leben etwa zehn Millionen Ausländer_innen in Saudi Arabien und stellen damit etwa ein Drittel der Bevölkerung. Sie belegen etwa 42 Prozent der Arbeitsplätze, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor. 83 Prozent der ausländischen Arbeiter_innen verdienen weniger als 533 US-Dollar im Monat, und nur 14 Prozent von ihnen verdienen durchgängig mehr als 533 US-Dollar im Monat (vgl. Aljazeera International Academy data). Damit liegen sie fast 200 Dollar im Monat unter dem festgeschriebenen Mindestlohn für Saudis im öffentlichen Dienst. Der private Sektor kennt allgemein keinen Mindestlohn.

Die Verteilung der Arbeitergesellschaft ist klar und einfach strukturiert. Menschen aus Indien, Pakistan und Bangladesch sind meist als Reinigungskräfte oder in der Abfallentsorgung eingestellt; ganz generell findet man sie im Dienstleistungssektor, der vornehmlich schwere körperliche Arbeit beinhaltet. Hier wird man weit und breit keinen Saudi antreffen. Im mittleren Beschäftigungsfeld, in dem zumindest Schul- und Sprachkenntnisse erforderlich sind, z.B. in der Gesundheitsfürsorge oder dem Tourismusbereich und der Gastronomie, findet man vornehmlich Menschen aus den Philippinen oder aus Zentralasien. Ihnen sagt man ein besseres „Hygieneverständnis“, besseres Aussehen und bessere Sprachkenntnisse (vor allem Englisch) nach. Junge Frauen von den Philippinen oder aus Sri Lanka werden auch gerne als „Hausmädchen“ engagiert, fast jede saudische Familie hat zumindest eine. Dies ist jedoch noch mal ein ganz eigenes Thema.Im Bereich der akademischen MINT-Berufe werden vor allem arabische Muttersprachler bevorzugt eingestellt, viele von ihnen kommen aus Ägypten, Syrien, dem Libanon und Jordanien. In den Spitzenpositionen, wie der Geschäftsführung der zumeist privaten Firmen, findet man dann die Europäer_innen oder US-Amerikaner_innen. Viele von ihnen arbeiten für die saudische Erdölförderungsgesellschaft Aramco und leben in vom Rest der Bevölkerung abgeriegelten Siedlungen.

Verwischte Grenzen zwischen Arbeitsrecht und Leibeigentum

Wer in Saudi Arabien arbeiten möchte, muss sich für gewöhnlich erst einmal bei einer „employ agency“ bewerben, nur danach kann man einen Vertrag bei den zukünftigen Bossen unterschreiben. Erst dann wird vielen bewusst, dass ihr Leben sich nachhaltig verändert hat. „Arbeitgeber“ werden in Saudi Arabien auch „kafiel“ genannt, was übersetzt so viel heißt wie „Bürge“: Jemand, der in allen Bereichen des Lebens für dich als „Arbeitnehmer_in“ verantwortlich ist. Ohne einen „kafiel“ ist die Einreise nach Saudi Arabien schwer möglich. Falls man nicht schon vorgewarnt wurde, wird spätestens nach einer Weile deutlich, dass dieser Kafiel eine schwere Einschränkung der eigenen Menschenrechte bedeutet. Ohne seine schriftliche Erlaubnis war es sehr lange nicht möglich, die Stadt zu verlassen. Erst vor Kurzem wurde diese Praxis offiziell verändert. Viele Nicht-Saudis nennen dieses Papier „Sklaven-Dokument“. Ein Kafiel behält den Reisepass bei sich, meist gut verwahrt in einem Safe. Das Land ohne seine Erlaubnis zu verlassen, ist letztlich utopisch. Es ist nicht möglich, ein Auto kaufen, den Job zu wechseln oder ein eigenes Bankkonto ohne seine Einwilligung zu eröffnen. Der Kafiel wird in jeden Teil des Lebens miteinbezogen, ob es den Arbeiter_innen gefällt oder nicht: Wer einem Kafiel ausgeliefert ist, ist weitgehend unmündig. Anstelle eines Reisepasses händigt der Kafiel ein „Ansässigkeitsdokument“ aus, das die Arbeiter_innen immer, ob Tag oder bei Nacht, bei sich tragen müssen, denn sie werden überall und ständig danach gefragt. Aber all das akzeptieren viele – für das Einkommen, das nirgendwo sonst erzielt werden kann, wozu auch die Steuerfreiheit gehört. Dafür legen viele Arbeiter_innen ihre persönlichen Rechte nieder. Ein Großteil von ihnen hat in der Heimat einfach keine andere Wahl.

Bis heute gibt es keine Organisation, die sich der Rechte und Anliegen der ausländischen Arbeiter_innen in Saudi-Arabien annimmt und sich für sie einsetzt. Die entsprechenden Gesetze und Regulationen für ausländische Arbeiter_innen sehen in Saudi Arabien keine Renteneinzahlung oder Finanzierung der Altersvorsorge vor. Stattdessen gibt es den sogenannten „End of Service Benefit/Award“. Diese Einmalzahlung setzt sich aus den gearbeiteten Jahren und dem zuletzt gezahlten Gehalt zusammen. Allerdings ist diese Einmalzahlung von der Einschätzung des Arbeitgebers abhängig. Ihm sind qua Gesetz unterschiedliche Möglichkeiten zur Einschränkung oder kompletten Streichung der Zahlung gegeben – so dass eine willkürliche Entscheidung nicht gerichtlich angefochten werden kann (vgl. das „System of Employment and Employees law“ von 2005).

Zementierte Chancenungleichheit

Als ich 24 war, verließ meine Familie Saudi Arabien endgültig. Mein Vater ging wie viele andere vor und nach ihm ohne den „End of Service Benefit“ mit 59 Jahren zurück in seine Heimat. Das Schulsystem war relativ unterentwickelt und ohne feste Formen. Das Wiederholen von Schuljahren konnte bis ins Unermessliche gestreckt werden und erlaubte es häufig, dass schon fast erwachsene junge Männer mit Elfjährigen gemeinsam in dieselbe Klasse gingen. Heutzutage haben etwa 68 Prozent der Saudis einen High-School- oder einen geringeren schulischen Abschluss. Die Arbeitslosenquote liegt bei ihnen bei zwölf Prozent.

Für uns arabischsprachige Ausländer_innen war es sehr schwer. Doch unsere Schwierigkeiten waren nichts im Vergleich zu dem, was viele Menschen über sich ergehen lassen mussten, die keine Muttersprachler waren. Für sie war es schlichtweg verbal zu schwierig, sich selbst zu verteidigen. Vor allem waren sie häufig um einiges mehr auf ihre Anstellungen angewiesen als viele arabischstämmige Familien.

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