Anarchismus ohne Anarchist_innen?

In diesem Artikel geht es um Wachstumsperspektiven der FAU, die Frage nach der Klarheit politischer Statements nach außen, dem Verhältnis zu anderen linken Bewegungen und dem Umgang mit der Gefahr staatlicher Diffamierung.

Teil der Debatte ist dabei der von Beginn an in der Bewegung schlummernde Widerspruch zwischen einer sogenannten „Interessensorganisation“, also einer Organisation die möglichst allen Lohnabhängigen zur akuten Verbesserung ihrer Klassenlage offen steht und einer „Ideenorganisation“, d.h. einer Organisation die gewisse zwischenmenschliche, politische und wirtschaftliche Ideale klar ausformuliert, sie unter den Mitgliedern mehrheitsfähig hält und für sie auch nach außen wirbt.[1]Nachlesen lassen sich diese Konflikte in unserer Vorgängerorganisation FAUD (1919-1933) u.a. in: Hartmut Rübner – Freiheit und Brot, Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands, Libertad Verlag Berlin, Köln 1994, Ulrich Klan und Dieter Nelles – Es lebt noch eine Flamme, Rheinische Anarcho-Syndikalisten/-innen in der Weimarer Republik und im Faschismus, Trotzdem Verlag, 2. Auflage, Reutlingen 1990

Keine Glaubensbekenntnisse fordern

Eine viel beschworene Losung, die auch von vielen FAU-Mitgliedern immer wieder postuliert wird, ist jene, nach der es sich bei der FAU um eine Organisation nach anarchistischen Prinzipien, jedoch nicht um eine Organisation von und für Anarchist_innen handele.

Konkret soll das bedeuten, dass die Werte von Selbstverwaltung, Basisdemokratie, Föderalismus, Gleichberechtigung der Mitglieder, Minderheitenschutz, Parteiunabhängigkeit und einer klaren Klassenposition zugunsten der Lohnabhängigen[2]Jenen, die nichts Wesentliches zu veräußern haben als ihre Arbeitskraft. von Neumitgliedern bezogen auf die Organisation akzeptiert werden müssen, gleichsam aber kein geschlossenes, anarchistisches Weltbild abverlangt werden darf.

Dieser Grundsatz erscheint logisch, wäre es doch eine Schande und Farce zugleich Kolleg_innen mit konkreten Problemen zunächst politisch abzuklopfen oder eine breite Gewerkschaftsbewegung, die die FAU hoffentlich einmal werden wird, regelmäßigen Gesinnungskontrollen zu unterziehen.

In der konkreten Anwendung zeigt sich jedoch die Widersprüchlichkeit und die blinden Flecken dieses Grundsatzes. So taucht diese Losung regelmäßig in internen Debatten über soziale und politische Standards aber auch in Bündnisdiskussionen und nicht zuletzt im Verhältnis zu direkter Aktion und dem Umgang mit Repression wieder auf. Einem Teil der FAU geht es also offensichtlich nicht nur darum, kein geschlossenes anarchistisches Weltbild abzufordern sondern auch darum, welche politischen Position für eine Organisation wie die FAU unentbehrlich sind, welche nicht, ob und wann diese auch nach außen getragen werden, etc. pp..

Das Verhältnis der FAU zu anderen Anarchist_innen und linken Bewegungen

Um die Vehemenz dieser Diskussionen um politische Standards innerhalb der FAU zu verstehen, ist es notwendig kurz auf die Geschichte der FAU und anderer libertärer und antiautoritärer Akteur_innen einzugehen.

Die FAU gründete sich 1977, blieb aber über Jahrzehnte immer wieder von Spaltungen und Rückschlägen geprägt und bei einigen wenigen hundert Mitgliedern im Wachstum stecken, noch vor 10 Jahren war sie verschwindend klein. Zwar gelangen punktuell auch spektakuläre Interventionen in der betrieblichen Sphäre und immer wieder gute, inhaltliche Interventionen (erinnert sei bspw. an die Hartz-IV-Proteste), im Großen und Ganzen konnten aber kaum nachhaltige Strukturen entwickelt werden.[3]Vgl. Roman Danyluk/Helge Döhring (Hg.) – FAU Die ersten 30 Jahre, 1977-2007, Verlag Edition AV, Lich 2008

In der gängigen innerorganisatorischen Erzählung stellte die maßgebliche Betätigung als eine Ideenorganisation – und eben nicht als eine Interessensorganisation – dafür den Hauptgrund dar. Die FAU betätigte sich demnach ganz maßgeblich mit Vorträgen und Kulturarbeit zum historischen Anarchosyndikalismus und Bildungsarbeit in vielen Themenbereichen, versäumte aber vielerorts einen strukturierten Aufbau konkreter, funktionaler Werkzeuge alltäglich-praktischer Kämpfe wie bspw. Streikkassen, Organizing-Schulungen, Betriebsgruppenstandards, Beratungsleitfäden. Die FAU diente also v.a. auch als Sammelpool für Menschen, die sich eine allgemeine anarchistische Föderation wünschten. Das blockierte auch vielerorts eine Spezialisierung auf ordinär syndikalistische Schwerpunkte.

Die reine Ideenorganisation im Sinne allgemeiner, anarchistischer Organisationen hat sich historisch jedoch nicht bewährt. Sie konnte nirgends aus eigener Kraft (sondern maximal im Fahrwasser syndikalistischer Organisationen) größere Teile einer Bevölkerung an sich binden, bzw. syndikalisierte sie sich dort, wo sie wuchs durch die Bildung von Gewerkschaften und Genossenschaften. Die Ursache dafür ist augenscheinlich ein konzeptionelles Problem: Allgemein-anarchistische Organisationen sind i.d.R. vor allem Propaganda- und Bildungsorganisationen. Sie appellieren an die Überzeugungen und die Einsicht der Menschen, sind also idealistisch. Die Motivation sich ihnen anzuschließen, ist meist das Richtige zu tun, unter Inkaufnahme eigener Nachteile wie Ächtung und Repression. Es lässt sich beobachten, dass dies in jeder Zeit nur einen bestimmten Teil der Bevölkerung abholen konnte.

Der syndikalistische Ansatz ist nüchterner: Er hofft Mitmenschen auch ganz materialistisch, das heißt durch die potentiellen wirtschaftlichen und sozialen Vorteile der Organisation zu gewinnen und ihnen so einen praktischen Beweis für die Funktionstüchtigkeit gemeinschaftlich-solidarischen Handelns zu vermitteln. Historisch hat sich dieser Ansatz als tragfähiger erwiesen, während allgemein-anarchistische Organisationen immer wieder auf marginale Randphänomene begrenzt blieben.[4]Siehe dazu auch für das deutsche Beispiel der FKAD: Helge Döhring – Anarchisten auf Sinnsuche, Die Föderation kommunistischer Anarchisten Deutschlands (FKAD) 1919-1933 Band 2, Verlag Edition AV Aus dieser historischen Erkenntnis heraus, sind große Teile der FAU verständlicherweise bemüht, ihren klaren, auf die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage ihrer Mitglieder fokussierten Anspruch kenntlich zu machen und gegen ein Abgleiten in reine Theorie-Zirkel zu verteidigen.

Ein weiterer Punkt des Abgrenzungsbedürfnisses betrifft weite Teile der heutigen radikalen Linken im Allgemeinen. Wie schon in vielen Beiträgen unter dem Stichwort der „Neuen Klassenpolitik“ thematisiert, haben viele Strömungen und Gruppen das Ringen um gesellschaftliche Mehrheiten und revolutionäre Emanzipationsprozesse weitgehend aufgegeben (auf die Ausnahmen komme ich später).[5]Einen tollen Diskussionsbeitrag zu dieser Thematik lieferte jüngst Robert Misik – Die falschen Freunde der einfachen Leute, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019 Mehr und mehr geht es eher darum selbst „sauber zu bleiben“, sich in korrektem Verhalten, korrektem Umgang und korrekten Gedanken zu üben, unabhängig vom eigentlichen gesellschaftlichen Veränderungsgehalt dieser Bemühungen. Das ist sicher nicht nur zufällig passend zum ich-bezogenen Zeitgeist einer neoliberalen Epoche und kann dabei gleichzeitig an das Erbe christlicher Sünden- und Läuterungslogik andocken.

Diese Verfasstheit der radikalen Linken verwundert um so weniger, wenn wir bedenken, dass die Träger_innen dieser Bewegungen in den letzten Jahrzehnten immer stärker von Menschen mit hohem kulturellen, ökonomischen und/oder sozialen Kapital[6]Kulturelles Kapital meint an dieser Stelle bspw. den Bildungsgrad der Eltern, der allgemeine außerschulische Bildungsgrad und das in der Jugend vermittelte, intellektuelle Selbstvertrauen das in der Regel sozial vererbt wird. Soziales Kapital meint den Grad an Beziehungen ins gesellschaftliche Establishment, also bspw. familiär erwachsene Kontakte in Universitäten, Medien, Politik und Wirtschaft. geprägt wurden, sich also immer stärker von den ärmsten Teilen der Bevölkerung entfremdet und damit selbst einerseits Privilegien zu verlieren haben und andererseits weniger Leidensdruck für die Schaffung materialistischer Strukturen ausgesetzt sind.

Revolutionäre Prozesse wurden in der bisherigen Geschichte jedoch von stark benachteiligten und eben nicht von relativ behüteten Gesellschaftsteilen angestoßen.[7]Dazu findet sich ein spannender Vergleich der französischen und spanischen Arbeiter_innenklasse für die Zeit der französischen Volksfront-Regierung und der spanischen Revolution im Buch von Michael Seidman – Gegen die Arbeit, Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936 – 38, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2011 Kurz um, in den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen muss eine revolutionäre Organisation v.a. die Linderung von Alltagsnöten schaffen können. Die Prekärsten der Gesellschaft haben wenig Zeit und Verständnis für ewige Debatten, die scheinbar keine konkreten Ergebnisse zeitigen, sie haben in der Tendenz weniger Selbstbewusstsein sich in theoretischen Fragen zu artikulieren, sie haben ebenso in der Tendenz weniger literarische Übung und steigen schneller bei intellektuellen Texten aus etc. pp.. Jede syndikalistische Organisation tut daher gut daran, sich von Symbolpolitik und einem Ruf als einem Laber- und Theoriehaufen wirksam zu distanzieren.

Ohne Anarchist_innen zu Anarchie?!

Doch so ganz ohne den Anarchismus zu propagieren wird es vermutlich schwer zur Anarchie bzw. zum freiheitlichen Kommunismus zu gelangen. Aus der internationalen Arbeit wurde mir neulich von einem Genossen ein eindrucksvolles Beispiel dafür gegeben, wohin diese Logik unter Umständen führt: Der Genosse war damit betraut potentielle Beziehungen zu einer syndikalistischen Organisation in Osteuropa auszuloten. Bei seiner Recherche über die Organisation stellte sich heraus, dass mehrere Mitglieder eines Ortsverbandes der Organisation gleichzeitig aktive und bekennende Mitglieder stalinistischer, frauenfeindlicher, homophober und verschwörungstheoretischer Organisationen sind. Darauf angesprochen antwortete der internationale Sekretär der Gewerkschaft:

„Wir sind eine Organisation nach anarchistischen Prinzipien, keine Organisation von Anarchist_innen.“

Die Parole, zumindest absolut interpretiert, macht uns also letztlich unfähig rote Linien zu ziehen und potentiell auch unfähig die weniger privilegierten Mitglieder in unseren Reihen (Frauen, PoC, Homosexuelle, trans Personen, …) effektiv zu schützen. Natürlich führt das auch dazu, dass entsprechende Betroffenengruppen gar nicht erst Mitglied werden.

Die Kernfragen sind also, wie finden wir das richtige Maß aus politischer Klarheit und Progressivität einerseits und Niedrigschwelligkeit und Offenheit andererseits? Wo sind die Orte und Ebenen der politischen Bildung und Diskussion? Sind Bildung und Diskussion im gesamtgesellschaftlichen Diskurs überhaupt Kernaufgaben oder ergibt sich diese am Rande bspw. betrieblicher Organisierung und Kämpfe eher nebenbei?

Die Thesen/Alternativen im Überblick:

a) Vertrauen darauf, dass anarchistische Strukturen langfristig automatisch anarchistische Zielsetzungen schaffen

b) wir bleiben offen, aber eigentlich steuert eine anarchistische Avantgarde informell die inhaltliche Ausrichtung der Organisation, da sie sich in der Versammlungsdemokratie aus verschiedenen Faktoren (Zeit, intellektueller Background bzw. intellektuelle Schulung, geschickter Fraktionsbildung) mehr Durchsetzungskraft verschaffen kann

c) stärkere Hinwendung zur formalisierten Hierarchie, Ausweitung inhaltlicher Entscheidungsbefugnisse für einzelne Mandate, weg von den Basisversammlungen, Etablierung eines Kadersystems mit politischer Schulung. Letztlich also die transparentere Variante von b)

d) langsameres Wachstum mit dem Versuch intensiver Diskussion und gemeinsamer Weiterbildung mit möglichst vielen Neumitgliedern, dabei ernst nehmen von neu hinzutretenden Perspektiven

e) das Aufgeben einer revolutionären Stoßrichtung zu Gunsten einer schnell wachsenden, alternativen Gewerkschaftsbewegung

Bezüglich These a), die sicherlich die angenehmste Variante wäre, müssen wir leider skeptisch sein. Zwar darf davon ausgegangen werden, dass Selbstbestimmungsrechte und eine wirtschaftliche Gleichheit innerhalb der Organisation von ihren Mitgliedern ggf. auch verteidigt werden und sich die Verselbstständigung einer Führungsriege schwierig gestaltet. Damit dies so ist, muss der Vorteil der Selbstbestimmungsrechte jedoch erst einmal praktisch erlebt werden.

In der aktuellen Verfasstheit syndikalistischer Organisationen ergeben sich Berührungspunkte für inaktive Mitglieder wohl nur in bestimmten Situationen aller paar Jahre, wie in konkreten Problemen am Arbeitsplatz. Hätten syndikalistische Strukturen bereits die Größe und Breite erreicht, dass sie uns im Alltag in jedweden Bereichen berühren und weiter helfen würden, das Selbstbestimmungsrecht würde sicherlich von breiteten Mitgliederanteilen aktiv in Anspruch genommen und geschätzt werden. So hilft die FAU den meisten nur da und dort und dazwischen geht es um einen relativ großen und bürokratischen Überbau, von dem die meisten ganz froh sind, sich nicht damit befassen zu müssen. Eine Hierarchisierung und ein Verlust der Einspruchsmöglichkeiten der gesamten Gewerkschaftsbasis würde von dieser aktuell und wohl auch in nächster Zukunft wohl kaum bemerkt oder problematisiert werden, v.a. ist sie noch zu abstrakt, als das sich daraus quasi von selbst gesamtgesellschaftliche Utopien ableiten würden.

Ebenso sensibilisiert ein Erleben eigener Rechte leider noch lange nicht für die Rechte anderer. Vielleicht ist es auf diese Weise möglich, eine basisdemokratische Gewerkschaftsbewegung wachsen zu lassen und auch basisdemokratisch zu bleiben. Ob sich ohne inhaltliche Auseinandersetzung dabei jedoch ein kritisches Bewusstsein und eine Reflexion eigener Privilegien, bspw. im globalen Kontext oder im Kontext der Geschlechterverhältnisse ergibt, ist mehr als fraglich.

Die Variante b) findet sich u.a. im klassischen Plattformismus, einer Art bolschewistischer Variante des Anarchismus:

„Mit anderen Worten, in die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung müssen wir als organisierte Kraft hineingehen, eine Kraft, die für die Arbeit der allgemeinen anarchistischen Organisation in den Syndikaten verantwortlich ist und die von der Organisation geleitet wird.“[8]Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union von 1926, zitiert nach Kollektive Einmischung, Ausgabe 2: https://www.dieplattform.org/wp-content/uploads/2019/05/KE2-5-1.pdf

Varianten b) und c) verwerfen letztlich den Gedanken von einem Proletariat, welches für sich selbst Entscheiden lernt. In Variante c) wird an das alte Funktionär_innentum angeknüpft aber immerhin besteht noch die Möglichkeit zur Transparenz und Abwahl. Variante b) ist ungleich schlimmer, da sich diese ideologische Leitung durch plattformistische Organisationen oder informelle Zirkel potentiell im Geheimen vollzieht, eine unsichtbare Fraktionierung darstellt, demokratische Prozesse aufgeweicht und Misstrauen geschürt werden.

Problematisch an beiden Varianten ist, dass Kader, seien sie formal bestellt oder Aktivist_innen, die mit viel Einsatz im Hintergrund wirken, ihre ganz eigene Lebensrealität entfalten und sich nur ganz bestimmte Menschen für diese Arbeit finden. Es entsteht wieder eine Kluft aus der Masse, die gelenkt wird und jenen, die für die Masse die „richtigen“ Strukturen und Positionen zu finden suchen. Zu Grunde liegt die oft unausgesprochene Grundannahme, dass von der Mehrheit der Leute nichts Wesentliches zu lernen und zu erwarten sei. Schnell führen solche Strukturen auch dazu, dass passionierte Berufsrevolutionär_innen die Lebensrealität anderer revolutionärer Genoss_innen mit anderen Schwerpunkten, bspw. ihrer Berufung als Pflegekräfte, Eltern, Landwirt_innen, Handwerker_innen etc. pp. nicht mehr in die revolutionäre Gleichung einbeziehen und ihre Leidenschaft und zeitintensive Beschäftigung mit der Organisation und Politik als neue Norm ansetzen, so dass der Mensch sich wieder der Utopie anpassen soll und nicht umgekehrt.

Die Varianten d) und e) sind sehr nüchtern. Akzeptiert die erste, dass es eben so schnell nicht geht mit dem Aufbau einer revolutionären Bewegung, ist die letztere bereit Abstriche im revolutionären Programm hinzunehmen um immerhin trotzdem ein demokratischeres Gewerkschaftsmodell als das bisher bekannte in Deutschland groß zu machen.

Ob die Debatte aber nicht am Ende vorrangig aus heißer Luft besteht, da die Hindernisse für ein Wachstum der Organisation nicht so sehr entlang ihrer anarchistischen Positionen und Äußerungen oder ihres staatsfeindlichen Rufes sondern wo ganz anders liegen, ist lange nicht gesagt. Es fehlt dazu schlicht überzeugendes Datenmaterial und es wäre nicht das erste Mal, dass sich organisationsinterne Debatten an einer Projektion austoben.

Welches Wachstum tut uns gut?

Sichten wir die Debatten der letzten Jahre, stellen wir nun fest, dass es im Wesentlichen zwei Vorstellungen vom Wachstum der FAU in den nächsten Jahren gibt.

Die eine besagt, dass wir mit unserer aktuellen Größe quasi unfähig zu tatsächlichen Aktionen in vielen relevanten Gebieten sind. Die meisten Syndikate wären überfordert mit dem Eintritt von 200 Arbeiter_innen aus einem einzelnen Werk auf einmal – eine Qualität die unsere polnische Schwesterngewerkschaft IP bereits erreicht hat. Auch in der Frage nach Massenprotesten und  Massenstreiks, sei es gegen die Unterstützung Deutschlands für die türkische Diktatur oder seien es Kampagnen wie der Fem*Streik oder die Klimastreiks, reicht unsere Basis noch nicht aus, um die Bewegungen mit qualitativen Sprüngen zu unterstützen, wie es bspw. durch die CNT und andere syndikalistische Gewerkschaften in Spanien der Fall ist. Der Wunsch bei diesen Kämpfen nicht an der Seitenlinie zu stehen, ist sehr verständlich. Um so mehr, weil wir immer wieder erleben müssen, wie Aktivist_innen der streik-enthusiastischen Strömungen in Deutschland weiterhin naiv auf eine Beteiligung der DGB-Gewerkschaften in diesen Kämpfen hoffen, da ihnen die syndikalistischen Gewerkschaften zu marginal erscheinen. Und auch in den alltäglichen betrieblichen Kämpfen stellt uns unsere eigene Marginalität natürlich immer wieder vor Probleme. So sind wir oft auf v.a. auf rein juristisches Vorgehen zurück geworfen oder können in Großbetrieben angesichts Tarifeinheitsgesetz und Union Busting durch Zentralgewerkschaften nur abwarten und uns langsam sammeln.

Auf der anderen Seite gibt es Bedenken, Abstriche an den falschen Stellen zu machen. So ist ein Wachstum was auf einem geringeren Minderheitenschutz, auf einem Kuschen vor gesellschaftlichen Vorurteilen gegenüber Geflüchteten und Migrant_innen, gegen trans Personen etc. basiert, nicht hinnehmbar. Auch eine Verleugnung der revolutionären Agenda unserer Gewerkschaft kann kaum zielführend sein. Als eine Gewerkschaftsföderation, die sich der Emanzipation verschrieben hat, müssen wir mit Gegenwind von den Profiteur_innen der herrschenden Ungerechtigkeiten – eben auch innerhalb der Arbeiter_innenklasse Deutschlands – rechnen. Es kann uns wenig nützen, wenn sich die Mitglieder unserer Gewerkschaft nicht darüber klar sind, auf was sie sich einlassen und dass eine anarcho-syndikalistische Gewerkschaft – wo sie erfolgreich wird – zwangsläufig im Fokus von Kapital, militanten Rechten, der Mafia und des Staates steht.

Im Mikro-Organizing wird die Aufklärung über mögliche Gefahren und Rückschläge von Kolleg_innen als „impfen“ bezeichnet und im viel beachteten Handbuch „Geheimnisse einer erfolgreichen Organizerin“[9]Alexandra Bradbury, Mark Brenner, Jane Slaughter – Geheimnisse einer erfolgreichen Organizerin, Schmetterlingsverlag, Stuttgart 2018 vor falschen Abkürzungen gewarnt, die sich immer als fatal erweisen. Selbiges lässt sich auch über das Organizing für die Gesamtorganisation sagen. Was nützt uns der Aufbau einer breiten Mitgliederbasis, wenn diese bei der ersten staatlichen Diffamierungskampagne das Weite sucht? Oder was, wenn wir zwar die Mitgliederzahlen für wirksame betriebliche Aktionen am 8. März entwickeln, zu dem Preis, dass diese Aktionen aber gar nicht mehr mehrheitsfähig sind, weil wir mit diesen neuen Mitgliedern in keinen offenen, inhaltlichen Dialog getreten sind?

Wir sind nicht die einzigen Syndikalist_innen auf dem Platze

Besonders ärgerlich an der ganzen Debatte ist das Kleinreden der eigentlich noch vorhandenen linksradikalen Potentiale. Es gibt nicht nur die oben beschriebene radikale Linke, die sich in Subkultur, Abgrenzung, reiner Lehre und katechistischen Verhaltenskodexen ergießt, viele Strukturen und Strömungen gehen einen anderen Weg, stürtzen sich ins Getümmel außerhalb von Szenekiezen, Großstädten und angeblich homogenen Blasen und bauen langfristige Strukturen auf. Genannt seien hier nur exemplarisch die kurdische Bewegung, Ende Gelände, die Mietwahnsinn-Stoppen-Bewegung, die Mietshäusersyndikat-Bewegung, die linksradikale Opposition innerhalb der DGB-Gewerkschaften. Überall dort und anderswo sind tausende Lohnabhängige aktiv, die mit unseren Grundsätzen und Analysen Vieles teilen und die wir zum größten Teil noch nicht für unsere Gewerkschaftsbewegung gewinnen konnten. Wenn wir darüber nachdenken, schlagkräftiger zu werden und mehr Massenbasis zu entwickeln, könnten wir erst einmal überlegen, wie wir diesen Teil unserer Klasse stärker für gewerkschaftliche Aktionseinheit begeistern können. Die Debatte innerhalb der radikalen Linken aber eben auch innerhalb der FAU macht oftmals eine Unterscheidung zwischen Linksradikalen/Anarchist_innen einerseits und den Lohnabhängigen andererseits auf – damit marginalisieren wir uns völlig ohne Not selbst – auch anarchistische und antiautoritäre Arbeiter_innen sind Arbeiter_innen!

Für eine bewusste Gewerkschaftsbewegung und eine mittelfristige Diskursverschiebung!

Als FAU müssen wir nicht in Panik verfallen. Auch wenn die Langsamkeit unseres Fortschritts nervt, unser Wachstum ist seit Jahren stabil und steigend, was dieser Tage für Gewerkschaften in Deutschland keine Selbstverständlichkeit ist.[10]So hat sich die Mitgliederzahl seit 2013 bspw. verdreifacht.

Auch wenn wir uns erst mal „nur“ an den klar antikapitalistischen und antiautoritären Teil der Lohnabhängigen in Deutschland halten, der keinerlei Berührungsängste mit Feminismus etc. pp. hat – also v.a. die breiten Nachbarschafts- und Mietshausbewegungen, die Kurd_innen etc. pp., kann unsere Gewerkschaft noch um tausende Mitglieder wachsen.

Meiden sollten wir, wie oben beschrieben, die Marktplätze linker Rechthaberei, die Rethorikwettbewerbe und die links-bürgerlichen Charity-Veranstaltungen. Zusammenarbeit macht dort Sinn, wo versucht wird, linke Mehrheiten zu organisieren, wo mensch einsieht, dass sich Gesellschaft mit einfachen schwarz-weiß Schemata nicht greifen lässt und wo Menschen bemüht sind, effektive und nachhaltige soziale Strukturen aufzubauen und sie mehr und mehr Menschen zugänglich zu machen.

Vergessen dürfen wir dabei auch nicht, was wir schon in den letzten Jahren erlebten: Eine stärker werdende syndikalistische Bewegung, mit der die FAU dank unter_bau, IWW, GG/BO und anderen Initiativen in Deutschland ja zum Glück nicht allein ist, strahlt auch auf die anderen sozialen Bewegungen aus. Sie hat Einfluss auf deren Analysen, Schwerpunkte und Zusammensetzungen. Im Vorfeld unserer Organisationen findet daher auch immer eine Diskursverschiebung und eine Veränderung der proletarischen Kultur statt, ähnlich wie das v.a. im Kleinbürgertum durch die AfD zu Gunsten der Reaktion geschieht.

Müßig sind aktuell geistige Verrenkungen darüber, wie wir um jeden Preis „proletarische Massen“ ohne bisherige Anknüpfungspunkte an soziale Bewegungen gewinnen können. Viele wachsende Syndikate sind gerade noch vollends damit beschäftigt, organisatorische Lösungen für den aktuellen Zulauf zu finden. Wo es aktiven Syndikaten an Mitgliedern mangelt, reicht bis jetzt schon der offensivere Hinweis auf Beratungs- und Hilfsangebote, um schnell weitere Fälle und Mitstreiter_innen aufzutun.

Fahren wir also lieber erst mal auf Sicht, machen wir uns Gedanken, wie wir Aktive in anderen sozialen Bewegungen auch für eine Mitgliedschaft in der FAU begeistern können, nehmen wir uns die Zeit neue Mitglieder wann immer möglich aktiv einzubinden und mit ihnen Vorstellungen, Überzeugungen und Analysen auszutauschen. Wir werden trotzdem weiter wachsen, auch an Arbeits- und Mietkämpfen wird vermutlich kein Mangel entstehen. Mit unserem Wachstum, das zeigen uns u.a. die Erfahrungen aus Spanien und teilweise auch in Deutschland, werden sich die Zentralgewerkschaften mehr und mehr veranlasst sehen ebenfalls entschlossenere Töne anzustimmen, um nicht den Anschluss zu verlieren. So können wir, wenn auch zunächst weiter als Minderheit in der deutschen Gewerkschaftslandschaft, die Freund_innen der Sozialpartner_innenschaft ein wenig – und bald schon vielleicht ein wenig mehr – vor uns her treiben.

Mit dieser Strategie haben wir dann auch keine Not, unseren Wunsch nach einer kommunalistisch selbstverwalteten Gesellschaft ohne Kapital und Ausbeutung zu verschweigen, uns von den Mitteln der direkten Aktion zu distanzieren oder unsere Bekenntnisse zum Feminismus für alle Geschlechter oder nach offenen Grenzen zu verschleiern.

Aktuell steht uns mit den wirtschaftlichen Folgen von Corona eine neuerliche, gravierende globale Krise ins Haus. Nicht unwahrscheinlich ist da, dass gerade jene am meisten Aufmerksamkeit gewinnen, die die Missstände, die Entrechtungen und die Dysfunktionalität des Systems am klarsten benennen.

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10 Kommentare zu «Anarchismus ohne Anarchist_innen?»

  1. Das hier halte ich für eine sehr gewagte Aussage:

    „´Wir sind eine Organisation nach anarchistischen Prinzipien, keine Organisation von Anarchist_innen.´

    Die Parole, zumindest absolut interpretiert, macht uns also letztlich unfähig rote Linien zu ziehen und potentiell auch unfähig die weniger privilegierten Mitglieder in unseren Reihen (Frauen, PoC, Homosexuelle, trans Personen, …) effektiv zu schützen. Natürlich führt das auch dazu, dass entsprechende Betroffenengruppen gar nicht erst Mitglied werden“

    denn

    „Mit dieser Strategie haben wir dann auch keine Not, unseren Wunsch nach einer kommunalistisch selbstverwalteten Gesellschaft ohne Kapital und Ausbeutung zu verschweigen, uns von den Mitteln der direkten Aktion zu distanzieren oder unsere Bekenntnisse zum Feminismus für alle Geschlechter oder nach offenen Grenzen zu verschleiern.“

    Genau dies streben nicht nur Anarchist*innen an, sondern ebenso Menschen aus radikaldemokratische Strömungen die sich zb auf den Marxismus (zb Anton Pannekoek) oder sogar den Liberalismus (zb John Dewey) beziehen.

    Das Problem mit eindeutigen ideologischen Festlegungen sind eben doch die daraus resultierenden blinden Flecken, die etwas abgedroschen auch als „ideologische Scheuklappen“ bezeichnet werden.

    Sie machen blind für solche Zusammenhänge, die sich in der Vergangenheit gebildet haben und aus denen in der Zukunft sehr viel größere Bezugsgruppen hervorgehen könnten, wenn wir zulassen, dass sie sich gegenseitig befruchten und unter heutigen Bedingungen weiterentwickeln.

  2. Hallo,

    ich habe das Gefühl, dass du teilweise eher einen Strohmann verbrennst. Wer fordert denn in der Diskussion bisher, dass wir Feminismus oder Antistalinismus oder allgemein die Gleichberechtigung aller Menschen aufgeben sollten? Das sind alles Werte, die in Mitteleuropa grundsätzlich bis in die bürgerliche Mitte hinein geteilt werden, und übrigens auch zu den Grundsätzen der DGB-Gewerkschaften zählen. Klar, irgendwo gibt es bestimmt eine Organisation, die sich selbst als syndikalistisch oder anarchistisch bezeichnet und voller Nazis ist, aber es ist doch Konsens, dass die dann auch zu unseren Feinden zählt, eben weil es Nazis sind, egal wie sie sich nennen.

    Grüße,

    Mika

    1. Naja, mir sind tatsächlich schon Töne entgegen gekommen, die die Streichung bestimmter zentraler Prinzipien forderten.
      Abgesehen davon ging es ja hierbei darum, diesen Spagat zwischen Ideen- und Interessensorganisation aufzuzeigen und bestimmte Schlüsse, die man ziehen könnte, kurz zu diskutieren.
      So heißt es ja auch im Artikel: „Die Parole, zumindest absolut interpretiert, macht uns also letztlich unfähig rote Linien zu ziehen […]“

      Würden wir uns strikt an diesem Grundsatz orientieren (was zwar vielleicht nach manchen anarchistischen Analysen der Fall sein mag – lässt man diese aber weg, finden sich natürlich Aspekte aus beiden Herangehensweisen bei uns) könnte das Bedeuten, solche und auch andere Positionen in einem ganz anderen Maßtab in die Gewerkschaft zu holen – und damit ihre revolutionären/emanzipatorischen Charakterzüge zu verwerfen.

      Das gegenteilige „Extrem“ würde uns in diesem Sinne wieder zu einer „Anarcho-Politgruppe“ machen…

  3. Danke für den sehr interessanten Beitrag.

    Eine Frage zur Passage:

    „unseren Wunsch nach einer kommunalistisch selbstverwalteten Gesellschaft“

    Ist der positive Bezug auf den Begriff „kommunalistisch“ common sense in der FAU?
    Auch wenn das jetzt natürlich ein bisschen Wortklauberei ist, sind mir durchaus so einige inhaltliche Differenzen zwischen „(Anarcho)SyndikalistInnen“ und „KommunalistInnen“ (nach Bookchin) bekannt.

    Es wäre schön wenn sich beide Konzepte heute weniger in Gegnerschaft sondern mehr in Synthese verstehen würden.

  4. Sehr guter Artikel, der wichtige Diskussionspunkte anspricht. Es ist nicht so einfach diese Fragen sinnvoll zu diskutieren in Zeiten, da binäres Denken das einzig vorherrschende geworden ist.

    Ich würde allerdings den Punkt, der das Verhältnis von „Berufsaktivist*innen“ und Personen in kraft- und zeitraubenden Arbeitsverhältnissen und/oder Betreuungsverpflichtungen nicht bloss als Randbemerkung stehen lassen.

    „Problematisch an beiden Varianten ist, dass Kader, seien sie formal bestellt oder Aktivist_innen, die mit viel Einsatz im Hintergrund wirken, ihre ganz eigene Lebensrealität entfalten und sich nur ganz bestimmte Menschen für diese Arbeit finden.“

    Diese Frage betrifft den Kern der Existenzberechtigung einer Organisation, die den Anspruch erhebt „Gewerkschaft“, d.h. Selbstorganisation von Arbeiter*innen zu sein.
    Nach meiner eigenen Erfahrung entwickeln die meisten Menschen erst dann ein wirkliches Verständnis für diese Problematik, wenn sie die Lebensrealitäten – nennen wir sie mal ganz unpathetisch „proletarische“ – am eigenen Leib mit Nachdruck erfahren haben. Dann ist es aber subjektiv meist schon sehr schwierig sich noch mit den Mühlen politaktivistischer Meinungsbildungsprozesse auseinanderzusetzen.

  5. @Nestor:
    Deine Frage lässt sich nicht so leicht beantworten. Einerseits, weil es in der FAU leider gerade recht wenig formalen Austausch über theoretische Fragen gibt und mensch so schwer sagen kann, was Common Sense ist und was nicht. Generell denke ich, wenn ich von Kommunalismus rede, weniger an Bookchin (von dem ich selbst sehr wenig gelesen habe) sondern eher um aktuelle Diskussionen in verschiedenen Bewegungen die durch die Revolution in Nord-Ost-Syrien aufgekommen sind. Anarchosyndikalismus hatte aber schon immer auch stark lokalistische Ideen von kommunaler Selbstverwaltung und in diesem Sinne sehe ich die beiden Strömungen auch eher als unterschiedliche Schwerpunkte für unterschiedliche Regionen an, als das ich sie als sich ausschließend empfinde. Und ja, ich denke das geht den meisten so, die sich in der FAU damit beschäftigen.

  6. @Walter
    Ja, da hast du Recht, das wäre aber wohl vermutlich noch mal einen eigenen, längeren Artikel wert. Ich freue mich in Bezug darauf aber sehr, wenn du mehr Gedanken und Erfahrungen teilen willst.

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