Bereits bei Jobeinstieg als Fahrer:in bei Lieferando kann sich ein unangenehmes Bauchgefühl einschleichen, das sich sonst nur bei einer von vielen dystopisch gezeichneten Black-Mirror-Folgen ergibt. Nach einem unpersönlichen Austausch von Personendaten durch die App erreicht uns ein Paket mit all unseren gestellten Arbeitsmitteln. Hauptsächlich sind es die Markenzeichen des Konzerns in leuchtendem Orange. Jedes weitere Mittel, das für die Arbeit notwendig ist, muss von uns gestellt werden. Kurzum bekommen wir nur gesagt für wen wir unser privates Fahrrad fahren und unser eigenes Smartphone über Nacht voll aufladen müssen.
Die meisten werden in ihrer Schulzeit noch über die Benimmregeln im Bewerbungsgespräch aufgeklärt worden sein: Augenkontakt, Handschlag, Selbstpräsentation, usw. Die Realität könnte bei Lieferando nicht weiter davon entfernt sein. Der Arbeitgeber ist eine wabernde Online-Entität, die uns durch ein Programm Aufträge erteilt. Die Büroabteilung ist (wenn überhaupt) nur über Telefon oder Chat erreichbar und der Chef ein faltenlos gebügeltes Twitter-Profil. Unsere Arbeitskolleg:innen erkennen wir oft nur an den gleichen Uniformen. Mit all der Propaganda über die Wunder der digitalen Welt, kann es schwer fallen, den Traum der unternehmerischen Selbstständigkeit, der einem so populär verkauft wird, in der Realität zu fühlen.
Denn wo ist die Erste-Hilfe beim Unfall oder die Fahrradwerkstatt, wenn das Fahrrad versagt? Wenn die Reparaturrechnung nach einem Sturz bei Glatteis, mehr kostet als der tägliche Gesamtverdienst und Lieferando die Reparatur des eigenen Fahrrads, wenn überhaupt, in Form von Amazon Gutscheinen zahlt? Oder der Akku deines Handys langsam den Geist aufgibt und du kein Anrecht auf ein Arbeitshandy, geschweige denn auf unbegrenztes Internetvolumen hast?
Die Gefahr des Jobs zeigt ein Fall im November 2020, als ein Rider in Frankfurt während der Arbeit von einem SUV totgefahren wurde: Schnellstmöglich zu liefern und eine zurückhaltende Fahrweise stehen im Konfliktverhältnis!
All das sind große Fragen für die Einzelnen, Fragen um Lohn und sinnvollen Arbeitsschutz. Darüber hinaus drängen sich die Sinnfragen auf: Wofür lohnt es sich zu arbeiten? Was ist das gute Leben? Wo und wer sind die Mitarbeiter:innen, mit denen wir zusammen für verbesserte Arbeitsbedingungen kämpfen können?
Nach dem „mit wem?“ fehlt uns vor allem ein klarer Begriff des „gegen wen?“. Somit sind wir bei dem Titel des Textes angekommen: Wenn es in der Gig-Ökonomie, so fern von altbackener Fabrikromantik und Fließbandarbeit, um die Durchsetzung von gemeinsamen Interessen geht: Wie sollen wir einen Konzern angreifen, der ungreifbar scheint? Ein Arbeitgeber, der spielerisch Algorithmen anhand unserer Fahrzeit optimiert und anpasst, der aber nicht erreichbar ist, wenn es Probleme bei der Arbeit gibt. Wo sitzen überhaupt Arbeitgeber und Personalabteilung? Immer wieder schallen die alten, radikalen Gewerkschaftsparolen: Arbeitnehmer gegen Arbeitgeber. Produktionsmittel aneignen! Nun, mein Fahrrad, mein Smartphone und mein Mobiler-Daten-Tarif gehören mir bereits und den Imbiss um die Ecke enteignen, tut Lieferando auch nicht weh.
Doch es gibt bereits Beispiele erfolgreicher Organisation, von denen wir lernen können. Proteste und widerständige Aktionen der Foodora-Rider:innen in Turin 2017, „Deliverunion“ und die „Liefern am Limit“ Kampagne, offenbaren die vielseitigen Möglichkeiten gegen Konzerne wie Lieferando zu kämpfen. Angefangen bei der Vernetzung von Rider:innen, über die Gründung von Betriebsräten und weit gespannter Öffentlichkeitsarbeit, kann versucht werden, organisatorisches Potential aufzubauen, das über Lieferando hinaus auch auf Uber, Lyft, Amazon und Co. anwendbar ist.
Der Einfluss von Firmen wie Lieferando besteht eigentlich nur darin, ein Netz als Vermittlungsfunktion zwischen Angebot und Nachfrage zu spannen. In diesem Netz kommen Restaurants, Kundschaft und Rider:innen zusammen, vergessen scheint der Betreiber der Plattform, der die eigentlichen Gewinne abstaubt! Die Beteiligten in diesem Netz haben widersprüchliche Interessen: 1. Kund:innen möchten warmes, günstiges Essen, 2. die Gastronomie eine Gewinnspanne auf ihren Verkauf und 3. Rider:innen bestmögliche Arbeitsbedingungen. Es läge nahe, all diese „User“ als einander konkurrierend zu betrachten, doch die Macht der Konzerne liegt eben darin sie zusammenzubringen. Diese Verbindungsfunktion von Lieferando ist ihre Stärke, da es sie mit ihren Algorithmen und Auswertung persönlicher Daten ungreifbar macht und gleichzeitig ihre Schwäche, da es diese Konzerne von vielen (also mindestens 3) Seiten angreifbar macht.
Die FAU-Heidelberg unterstützt die Organisierung der Rider:innen. Die Forderungen sind konkret und dringlich zugleich: Stundenlohnerhöhungen, Verschleißpauschalen, Übernahme der Reparaturkosten durch Lieferando, sinnvoller Arbeits- und Gesundheitsschutz. Doch oft ist es bereits ein Kampf das Gehalt regelmäßig zu bekommen! Flexible Arbeitspläne schaffen Einkommensunsicherheiten, die erschwert sind durch Unregelmäßigkeiten der Auftragszuteilung, Hürden in der Kommunikation mit der Verwaltung und Isolation von anderen Rider:innen.
Wie die erwähnten Vorbilder möchten wir auch in Heidelberg diese Konditionen ändern. Doch stellen wir fest, dass sich darin neue Herausforderungen in der gewerkschaftlichen Organisation ergeben.
Es gilt nicht nur solide Strukturen von und für Arbeiter:innen zu schaffen, sondern gemeinsam an einer Öffentlichkeit zu arbeiten, in der es möglich wird, an so vielen Punkten wie möglich anzupacken und Lieferando greifbar und angreifbar werden zu lassen:
Für einen Algorithmus, der das Gemeinwohl aller fördert!
Für ein solidarisches Miteinander zwischen Restaurants, Kund:innen und Rider:innen!
Für ein Leben mit Würde, Komfort und Mitbestimmung!