Man reibt sich schon verwundert die Augen, wenn man in den letzten Wochen die Nachrichten von Warnstreiks im öffentlichen Dienst liest und hört. Nicht nur, weil es sich um für deutsche Verhältnisse erstaunlich breit koordinierte Maßnahmen handelt, die sich auf beinahe alle wesentlichen Sektoren, vom Nahverkehr über Müllentsorgung bis hin zu Kindertagesstätten erstrecken, sondern weil sie gar nicht so recht an die üblichen Warnstreiks einer DGB-Gewerkschaft im Zuge von Tarifverhandlungen erinnern wollen. Denn diese sahen doch eher so aus, dass sich in der Mittagspause oder kurz vor Feierabend einige GewerkschaftsaktivistInnen vor das Werkstor stellten, in der Hand ein gedrucktes Schild mit der Aufschrift „Warnstreik“, und nach 15 Minuten verlegenem Herumstehen von dannen zogen, wenn auch mit einem gewissen „denen haben wir’s aber gezeigt!“ im Hinterkopf. Stattdessen wird jetzt ernsthaft gestreikt. In Berlin etwa kam der gesamte Nahverkehr für fast zwei Tage komplett zum Erliegen, und das ausgerechnet über den Freitag, den 13.
Woher diese plötzliche Kampfeslust? Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ist ja nicht gerade das, was man unter einer kämpferischen Organisation versteht. Eher im Gegenteil. Oder besser gesagt: exakt, vollständig und erschöpfend das 100-prozentige Gegenteil einer Kampforganisation.
Verdi entstand 2001 als Reaktion auf die anhaltende Krise des DGB, die sich in stetem Mitgliederschwund und praktisch nicht mehr vorhandenem Engagement der Basis ausdrückte. Durch die Fusion mehrerer Gewerkschaften, darunter die größte gelbe Gewerkschaft der alten BRD, die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG), die nicht dem DGB angehörte und in direkter Konkurrenz zur ÖTV (öffentliche Dienste, Transport und Verkehr) stand, sollte eine mitgliederstarke Arbeitnehmervertretung geschaffen werden, die zeitgemäßer wäre als die alten Gewerkschaftsstrukturen. Verdi verfolgte ausdrücklich das Konzept, selbst Dienstleisterin für ihre Mitglieder zu sein, mehr Lobbyist denn Gewerkschaft, weniger konfrontativ, mehr pragmatisch und kooperativ – ganz im Sinne der Sozialpartnerschaft. Unter großem Medieninteresse wurde der Zusammenschluss vollzogen, in dem nicht wenige Kommentatoren eine Zeitenwende sahen, das Ende von Arbeitskampf und Lagerdenken, da nun auch der DGB endlich in der Realität einer Gesellschaft angekommen wäre, in der es keine Klassen, sondern nur noch Schichten gäbe. Nicht von ungefähr wählte Verdi für sich die Organisationsform des eingetragenen Vereins, nicht die der Gewerkschaft.
Doch die erhofften Erfolge blieben aus. Auch Verdi liefen die Mitglieder in Scharen davon (von 2,9 auf nunmehr 2,1 Mio.), konnten doch weder neuer Name noch geändertes Konzept den rapiden Sozialabbau aufhalten. Die Einnahmen durch Mitgliedsbeiträge sind so weit gesunken, dass Verdi selbst mehrere tausend Stellen in seiner Verwaltung abbauen will. Schon fast hilflos wirkt da die aufwendige (und teure) Kampagne „genug gespart“, mit der die Dienstleistungsgewerkschaft Sympathien und Mitglieder zurückgewinnen will.
Durch die jüngsten Streikbeispiele kleinerer unabhängiger Gewerkschaften, wie zuletzt der Lokführergewerkschaft GDL oder der Ärztevertretung Marburger Bund, muss Verdi sich nun ernsthaft in ihrer Existenz bedroht fühlen. Denn während Verdi sich z.B. im Fall der Ärzte außer Stande sah, auch nur Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen zu verhindern, erreichte der Marburger Bund konkrete Verbesserung; und diese Kleinstgewerkschaft ist auch noch ausgerechnet eine Verdi-Abspaltung. Die Ankündigung der GDL, sich für weitere Berufsgruppen zu öffnen und sich u.a. auch auf den öffentlichen Nahverkehr, z.B. in Berlin, auszudehnen, muss Verdi eine Heidenangst eingejagt haben. Wenn sie jetzt nicht ihren Mitgliedern beweist, dass sie etwas für sie erreichen kann, droht sie unterzugehen. Die Plötzlichkeit, Dauer und Härte des Warnstreiks in Berlin soll denn auch, glaubt man diversen Berichten, ein Schritt gewesen sein, um einer wilden Streikaktion der durch den GDL-Streik ermutigten BVGler zuvorzukommen. So ist die plötzliche Streiklust bei Verdi nicht Ausdruck des von den Medien herbei geredeten Linksrucks im Lande, sondern schlichte notwendige Reaktion auf entstandene Konkurrenz, die ganz offensichtlich das Geschäft belebt hat.
Ein Kommentar zu «Unter Zugzwang»