Das Maß des Elends

Wann immer die deutschen Medien Armut thematisieren, hat das reflexartige Empörung zur Folge. Wie zuletzt nach der Veröffentlichung des aktuellen Armutsberichts der Bundesregierung dürfen sich landauf, landab PolitikerInnen, SozialarbeiterInnen und weitere ominöse Repräsentanten des öffentlichen Lebens in Zeitungsinterviews und Talkshows darüber ereifern, dass es in einem „reichen Wohlstandsstaat“ wie dem unsrigen unschicklich wäre, von Armut zu sprechen. Das Magazin Focus etwa verwies darauf, dass die Zahl von Bettlern und Obdachlosen seit Jahren rükkläufig sei. Dem Stern missfällt schon lange, dass eine sich fleißig fortpflanzende Unterklasse gemütlich in der sozialen Hängematte schaukele und dabei fröhlich die Daumen über Handytastaturen und Joysticks kreisen ließe. Und in der ARDTalkshow „Anne Will“ ging einer Politikerin glatt die Hutschnur hoch, als da jemand von Armut in Deutschland sprach. So etwas über ein Land zu behaupten, in dem niemand hungern oder auf der Straße lebe müsse, sei zynisch.

Es sind keineswegs nur konservativ oder wirtschaftsliberal eingestellte Menschen, die so denken. Dass es den BewohnerInnen Deutschlands ganz allgemein „viel zu gut“ gehe, hört man immer wieder, durchaus auch in linken Kreisen. Von Afrika und Indien ist dann oft die Rede. Wenn man vergleiche, wie es den Armen dort gehe, seien doch die Unterprivilegierten hierzulande doch nun wirklich nicht bedauernswürdig.

Auf diese Weise wird die Armut der einen mit der Armut der anderen relativiert, und stets dräut dabei der erhobene Zeigefinger. Ob sich Menschen als arm bezeichnen dürfen oder nicht, wird zu einer moralischen Frage erklärt.

Offizielle soziale Statistiken wie genannter Armutsbericht gehen da schon nüchterner ans Werk. Sie begreifen Armut auch relativ, aber eben in Relation zum Lebensstandard und den Kosten für das Notwendigste wie Ernährung und Unterkunft innerhalb einer Nationalökonomie. Und wer Strom, Miete, Heizung nicht finanzieren kann, gilt dann eben als arm. Tja, und davon sind in Deutschland gar nicht mal so wenige betroffen. Allein in Berlin ist 16.000 Privathaushalten derzeit der Saft abgedreht, um nur eine Zahl zu nennen.

Das juckt allerdings die moralisierenden Gutmenschen von Kirche bis Erste-Welt-Laden nicht besonders. Es gebe nämlich viel zu viele Menschen auf der Welt, denen es weitaus schlechter gehe, um nicht zu sagen, wirklich schlecht. Da sollten wir mal ganz still sein.

Sich auf diese Weise über das Aufbegehren sozial schwächer Gestellter zu echauffieren, ist in Wahrheit nichts anderes als eine altbewährte rhetorische Figur, die Ungleichverteilung ökonomischen Reichtums zu rechtfertigen. Wenn eine soziale Gruppe aufbegehrt und ein größeres Stück vom Kuchen verlangt, wird umgehend klargemacht, dass sie noch gar nicht an der Reihe sei, denn schließlich seien viele Menschen noch viel ärger dran. Dieses Argument ist so alt wie die Ausbeutung selbst. Richtiger wird es dadurch jedoch nicht.

Ein Bekannter von mir, angestellt in einem Friseursalon, suchte einmal das Gespräch mit dem Chef. Was denn nun mit der Lohnerhöhung sei, fragte er, schließlich werde er deutlich unter Tarif bezahlt; von diesem Gehalt könne er jedenfalls nicht leben. Daraufhin entgegnete ihm sein Boss, er habe heute einer jungen Frau eine Perücke verkauft. „Chemotherapie, Krebs, weißt du“, sagte er mit großen Augen, „und da behauptest du, dass es dir schlecht geht“. Das Thema Gehaltserhöhung war damit für ihn erledigt.

Oder schauen wir doch mal auf eine dieser Regionen, die in der Armutsdiskussion immer wieder an erster Stelle angeführt werden: Indien. Im Mittelalter erschütterten dort wiederholt Bauernaufstände die festgefügte soziale Ordnung. Neben der Abschaffung des Kastensystems forderten die Rebellen dabei immer wieder Fleisch für alle. Nachdem die Maharadschas mit Müh und Not die Ordnung wiederhergestellt hatten, ließen sie sich ein neues Argument einfallen: Fleisch sei grundsätzlich unrein, sündhaft, schlecht fürs Karma. Nur die Kaste der Bramahnen, der Reichen und Herrscher also, sei aufgrund ihrer gottgegebenen Reinheit immun dagegen. So kam der Hinduismus zum Vegetarismus der Massen. Und fortan wurde daraus ein Muster, das sich bis heute wandelbar auf jedwede soziale Ungleichheit anwenden lässt: Armut ist rein und tugendhaft, Reichtum eine Bürde, die nur die Verantwortungsvollsten stemmen können. Wer dagegen aufbegehrt, macht sich schuldig, denkt er doch nur an den eigenen Vorteil und handelt unverantwortlich gegenüber der Gesellschaft. Schämen sollst du dich, wenn du nicht mehr arm sein willst.

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