Nach dem Sommer steht nicht nur der Herbst vor der Tür, sondern auch mal wieder die Frage, ob es im Rückblick ein „heißer Herbst“ gewesen sein wird. Verglichen mit den vergangenen Jahren sieht es in diesem Jahr gar nicht so schlecht aus: In Stuttgart stellen sich immer und immer wieder tausende Menschen gegen die Umsetzung des Mammutprojekts „Stuttgart 21“ und damit gegen die Interessen der Obrigkeit, während sich Massen dafür rüsten, den kommenden Castor-Transport im Wendland zu blockieren. Aus den Reihen der Regierungsparteien vernimmt man Gejammer über die neue „Protestrepublik“, in der sich zukünftig keine größeren Projekte mehr realisieren ließen. Die Grünen sind im Aufwind, erklimmen einst unvorstellbare Umfragewerte und können sich endlich wieder als „Bewegungspartei“ profilieren.
Spätestens an diesem Punkt sollte man stutzig werden: Wie kann es sein, dass jene Partei, die Hartz IV mit beschlossen hat und deren ehemaliger Umweltminister einst die Proteste gegen die Castor-Transporte schlichtweg für illegitim erklärte, sich heute wieder als basisnah profilieren kann? Es ist ohne Frage begrüßenswert, dass sich Menschen – sei es in Stuttgart, sei es im Wendland oder sonst wo – gegen die Zumutungen wehren, die ihnen die politische Kaste auferlegt hat. Aber warum gab es die gleichen Proteste nicht gegen die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der letzten Zeit, die alle darauf abzielen, die Lohnabhängigen weiter zu schröpfen?
Es ist auffällig, dass die Proteste, die in Frankreich, Spanien oder Griechenland stattfinden, sich nicht um Bäume und Gebäude drehen, sondern darum, die erkämpften sozialen Errungenschaften für alle Menschen zu erhalten, diese vielleicht sogar auszubauen. Dort handelt es sich um Klassenkämpfe der Lohnabhängigen gegen sehr ähnliche Reformen, wie wir sie hier zu ertragen haben.
So sehr ich mir wünsche, dass „Stuttgart 21“ fällt und der Castor endgültig stehen bleibt, so klar muss aber auch festgehalten werden, dass wir es hier mit bürgerlichen Protesten zu tun haben – Proteste für Ruhe und Sauberkeit. Auch diese können ohne Frage ein Fundament für emanzipative Prozesse bieten. Aber wenn wir es perspektivisch nicht schaffen, den deutschen Betriebsfrieden zu brechen und eine Perspektive für eine Gesellschaft frei von der Lohnarbeit zu eröffnen, werden wir weder Ruhe noch Sauberkeit genießen können. Denn dann haben wir dafür weder Zeit noch Geld. In diesem Sinne wünsche ich euch viel Spaß mit der neuen Direkten Aktion.
Florian Wegner (Redaktion „Hintergrund“)