Die Befreiung der Arbeit

Wie kann die Arbeitswelt in einer emanzipierten Gesellschaft von morgen aussehen? Und wie wurde diese Frage von der Linken bisher zu beantworten versucht? Im ersten Teil dieses Artikels1 ging es um die historischen Versuche selbstorganisierter Betriebe und Gesellschaften. Dabei wurden die konkreten Erfahrungen mit Kollektiven im Kapitalismus, während einer Revolution sowie im Realsozialismus erläutert und ihre Funktionsweisen skizziert. In diesem zweiten und letzten Teil soll es schließlich um die dabei aufgekommenen Konflikte und Schwierigkeiten gehen.

 [Redaktion Zeitlupe]

Matrosen bilden in der Novemberrevolution 1918/19 einen Soldatenrat. Quelle: Bundesarchiv (CC-BY-SA)Konfliktlinien und offene Fragen

Aus den bisher angehäuften Erfahrungen mit der Arbeiterkontrolle, den Räten und der Selbstverwaltung ergibt sich erheblicher Diskussionsbedarf. Dabei muss genau zwischen vollständiger Selbstverwaltung mit uneingeschränkter Arbeiterkontrolle und einer Praxis der Mitverwaltung oder der Teilhabe im Rahmen staatlicher Institutionen differenziert werden. In Zeiten großer Veränderungen und gesellschaftlicher Umbrüche regen sich Belegschaften in den Betrieben und erlangen nicht selten Handlungsmacht. Doch dadurch überwiegen praktische Momente und unmittelbare Handlungsweisen vor Ort, was häufig den Blick der Basisinitiativen trübt, um zu erkennen, dass noch andere Ziele, beispielsweise machtpolitischer Art, im Spiel sind. Auch von Vollversammlungen gewählte Räte und Komitees garantieren nicht automatisch das Verschwinden von hierarchischen Strukturen, und seien sie nur informeller Art. Die algerische Erfahrung mit der Selbstverwaltung 1962-1965 zeigt zudem, dass eine gesetzliche Absicherung bzw. Regulierung eher zur Aushöhlung der autonomen Strukturen in den Betrieben führt als zu ihrer Stärkung.

Selbst in Fällen (vorübergehend) erfolgreicher Revolutionen tauchten in größerem Umfang Probleme in den selbstverwalteten Betrieben auf. Eine der Konfliktlinien betraf das Spannungsverhältnis von Basismacht und Gewerkschaften. In Spanien 1936/37 waren die Fabrikomitees der CNT und UGT zwar demokratisch gewählt, aber ihre Interessen prallten auf diejenigen Teile der Belegschaften, die den Kampf gegen die Lohnarbeit fortsetzten.2 Das Verhältnis von abseits stehenden Beschäftigten, den Betriebskomitees und den landesweiten Gewerkschaften scheint sehr konfliktreich zu sein. Die Komitees sind basisdemokratische Organe der gesamten Belegschaft, die von Vollversammlungen eingesetzt, kontrolliert und gegebenenfalls auch wieder abgesetzt werden. Die Gewerkschaften sind hingegen die Interessenvertretungen der organisierten Teile der Belegschaften, und zwar aller selbstverwalteten Betriebe. Betriebskomitees sind Organe einer einzelnen Arbeitsstätte und somit Ausdruck eines Arbeitsplatzes. Gewerkschaften hingegen sind Interessensgemeinschaften der gesamten Arbeiterklasse und somit nicht arbeitsplatzbasiert. Auch im autonomen Kampfzyklus der ArbeiterInnen 1967-1980 in Italien ergaben sich an ähnlichen Fragen größere Verwerfungen innerhalb der radikalen Linken. Diese spitzen sich zwischen dem Konzept der autonomen Arbeiterversammlungen in den Betrieben und den gewählten Fabrikräten zu. Operaistische und autonome Betriebsmilitante lehnten das Delegiertensystem der Fabrikräte ab und trugen damit dazu bei, dass die Gewerkschaften nach und nach ihren Einfluss in den Räten ausweiteten. Die Linksradikalen waren also an der Frage über die Beurteilung der Delegiertenräte gespalten und uneinig.

Doch nicht nur innerhalb der selbstverwalteten Betriebe brechen Konflikte auf. Spanien 1936/37 hat gezeigt, dass das Überleben einer sozialen Revolution entscheidend davon abhängt, ob eine alternative Struktur zur staatlichen Macht aufgebaut wird. Es braucht ein verbindliches Netzwerk aus Komitees, Kollektiven und Kommunen sowie eine landesweite, verlässliche Koordination des politisch-wirtschaftlichen Lebens. Ohne Zweifel muss den revolutionären Komitees und den Kollektivbetrieben auch eine freiwillige Miliz zur Seite gestellt werden, um die Entstehung oder Restaurierung eines Staatsapparates verhindern zu können. Die spanische Erfahrung lehrt, dass die Revolution nicht nach einem ersten großen Paukenschlag gewonnen ist, sondern viele Probleme damit erst anfangen. Daraus ergibt sich, dass eine nur auf selbstverwaltete Betriebe bezogene Strategie zwangsläufig scheitern muss. Das Schicksal eines Systems der Arbeiterselbstverwaltung wird im politischen Bereich entschieden. Selbst wenn eine Welle von erfolgreichen Enteignungen und Inbesitznahmen von Betrieben durch die Lohnabhängigen eine funktionierende libertäre Ökonomie in Gang setzt, entscheiden über den Fortgang der Kollektivwirtschaft die politischen Machtverhältnisse in der Gesellschaft.

Die historischen Erfahrungen der letzten einhundert Jahre haben gezeigt, dass die verschiedenen Formen der Arbeiterselbstverwaltung auch an ihren eigenen Begrenzungen gescheitert sind. Obwohl sich die ArbeiterInnen dabei oft in wichtigen Wirtschaftsbereichen der Kontrolle über die Produktionsmittel bemächtigt haben, haben sie es regelmäßig versäumt, die Selbstverwaltungsstrukturen in die Gesellschaft hinein auszuweiten. Dies gilt sowohl in wirtschaftlicher wie politischer Hinsicht. Ökonomisch muss die Arbeiterkontrolle von den Lohnabhängigen beständig ausgedehnt werden und müssen die einzelnen selbstverwalteten Betriebseinheiten in einem größerem Rahmen koordiniert bzw. aufeinander abgestimmt werden. Eine ökonomistische Bewegung, die gleichzeitig keine politische Macht von unten aufbaut, steht den gesellschaftlichen Gegenkräften bald hilflos gegenüber.

Vorläufige Schlussfolgerungen

Isolierte selbstverwaltete Betriebe können den ungleichen Kräfteverhältnissen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene nicht standhalten. Jenseits von Betriebsegoismus müssen Bemühungen in Richtung wechselseitiger Planungsprozesse und gesamtwirtschaftlicher Koordination erfolgen. Selbstverwaltungsinitiativen müssen sowohl auf Betriebsebene wie auf gesellschaftlicher Ebene zur Geltung kommen, denn die Atomisierung der Selbstverwaltung war bisher ein ernsthaftes Problem. Daher muss eine sinnvolle Regelung für den Interessengegensatz zwischen einzelnen selbstverwalteten Betrieben und dem Allgemeinwohl, dem übergeordneten gesamtgesellschaftlichen Erfordernissen gefunden werden.

Es braucht also eine überregionale Koordination der selbstverwalteten Betriebe, Stadtteile und Kommunen. Und es wird eine landesweite und internationale Wirtschaftsplanung vonnöten sein. Doch auch diese politische und ökonomische Planung muss auf basisdemokratische Art und Weise, das heißt durch Räte von unten nach oben vonstattengehen.

Die bisher besprochenen Schwierigkeiten mit der Selbstverwaltung konzentrierten sich vor allem auf drei Faktoren:

a) Betriebsinterne Probleme,

b) Das politische Machtverhältnis zwischen Betrieb und Gesellschaft,

c) Überbetriebliche Ausweitung und überregionale Koordination.

Doch die soziale Emanzipation beinhaltet mehr als die Übernahme der Betriebe und die Ersetzung des Staates durch eine Rätedemokratie. Selbstverwaltung in der Ökonomie heißt Dezentralisierung und Autonomie in der Produktion sowie Entschleunigung der Wirtschaftsleistung, da die kapitalistischen Produktionsmethoden nicht einfach übernommen werden können. Es muss ein qualitativer Wandel stattfinden und die Trennung zwischen dem Politischen und dem Ökonomischen, das heißt zwischen Leben und Arbeit, aufgehoben werden. Dazu wird eine gesellschaftliche Kultur der Gleichheit vonnöten sein, die den bisherigen Geist der hierarchischen Autorität ersetzt. Das Rätewesen muss als klare Alternative zu den bisherigen ökonomischen und staatlichen Strukturen und Institutionen verstanden und praktiziert werden. Eine Art Mischform zwischen Räten und Parlamenten bzw. staatlichen Verwaltungen ist der allmähliche oder sofortige Tod einer jeden Rätebewegung. Doch Befreiung hat auch eine soziale Dimension und die äußert sich unter anderem durch einen neuen, auf den Menschen bezogenen Inhalt in den gesellschaftlichen Beziehungen. Wie bereits angeklungen, spricht vieles dafür, dass zur Emanzipation die Trennung von Produktion und Konsum, von Leben und Arbeit aufgehoben werden muss. Die Geschichte der bisherigen Arbeiterräte wirft diesbezüglich jedoch mehr Fragen auf als sie Antworten darauf gibt. Alle Versuche der Arbeiterselbstverwaltung praktizierten zwar eine interne Demokratie und waren weitgehend antibürokratisch bzw. antihierarchisch, doch niemand richtete bisher die kapitalistischen Produktionsmethoden neu aus, um eine nichtkapitalistische, libertäre Ökonomie zu etablieren. Dies scheint einer der Knackpunkte einer auf Selbstverwaltung aufgebauten Kollektivwirtschaft zu sein.

Anmerkungen:

[1] siehe DA #220, Seite 8 oder www.direkteaktion.org/220/die-befreiung-der-arbeit

[2] siehe dazu auch das Buch „Gegen die Arbeit“ von Michael Seidman

Quellen und Literatur zum Weiterlesen:

Dario Azzellini/Immanuel Ness (Hrsg.): „Die endlich entdeckte politische Form.“ Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute. Neuer ISP Verlag, Köln 2012

Roman Danyluk: Befreiung und soziale Emanzipation. Rätebewegung, Arbeiterautonomie und Syndikalismus. Edition AV, Lich 2012

Oskar Anweiler: Die Rätebewegung in Russland 1905-1921.E.J. Brill, Leiden 1958

Lucien van der Walt /Michael Schmidt: Schwarze Flamme. Revolutionäre Klassenpolitik im Anarchismus und Syndikalismus. Edition Nautilus, Hamburg, 2013

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