Sozialer Notstand à la US-Amerika

Der Bus 22 fährt als einzige Linie volle 24 Stunden von Palo Alto nach San Jose und zurück. Doch dieser Bus ist inzwischen nicht mehr nur ein reiner Nachtbus durchs reiche kalifornische „Silicon Valley“, er ist vielmehr inzwischen auch Bleibe für viele Wohnungssuchende geworden. Dabei bleiben viele dieser „neuen“ Obdachlosen über Nacht im Bus, bezahlen die $2 pro Fahrt oder gleich die $70 pro Monat, sofern sie sich das wenigstens leisten können. In dem Bus sind neben alleinstehenden Obdachlosen ebenso ein Familienvater und seine Kinder zu Gast. Er ist ein Sinnbild der vielen seit 2008 obdachlos gewordenen Menschen, die mangels Geld für eine neue Bleibe ähnlich „kreativ“ bei der Suche nach Obdach sein müssen. Viele Unterkünfte sind überfüllt, in San Francisco müssen, laut einer Meldung von Anfang Dezember, Obdachsuchende inzwischen sieben Monate auf einen Platz warten.

Eine kürzlich im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen gesendete Dokumentation zeigte ähnliche Verhältnisse quer durch die USA. Ein besonderer Fokus waren die vielen kinderreichen Familien, die nun schon seit Jahren in billigen Motels dauerhaft wohnen müssen, wenn sie Glück haben. Vielen blieb nur noch das Auto oder eben der Nachtbus, wenn sie nicht die Straße auf und ab gehen und so tun, als wäre alles in Ordnung. Denn niemand der Betroffenen möchte sich die Blöße geben müssen, als Obdachloser auch nach außen zu leben – viele hatten vor Beginn der Finanzkrise 2007 ganz andere Perspektiven im Leben.

In der Nachbesprechung der Dokumentation sagte ein eingeladener Wirtschaftswissenschaftler, das ganze sei etwas für die USA Normales und deshalb nicht weiter zu dramatisieren. Dies spiegelt sehr treffend die Haltung breiter Teile in der US-Öffentlichkeit wider. Viel zu stark ist dort der Leistungsgedanke – nach dem Motto „der Stärkere wird reich“ – tonangebend. Dass von der Obdachlosigkeit nach der Krise 2007/2008 aber zahlenmäßig in viel stärkerem Maße Familien mit Kindern betroffen sind, die ihre Wohnungen verloren haben, lassen viele dabei unberücksichtigt. Aktuelle Zahlen sagen zwar, dass die Obdachlosenrate im Zeitraum 2012-2013 leicht gesunken sei, dies betrifft im wesentlichen die ländlichen Bereiche. In New York und Los Angeles steigen die Zahlen hingegen. Grundsätzlich sind diese ersten Erfolge auf verbesserte Programme der Bundesstaaten sowie der Regierung in Washington zurückzuführen. Allerdings erfassen diese Zahlen nicht diejenigen, die sich aus Scham oder anderen Gründen „unsichtbar“ machen und keine Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Aktuelle Zahlen, die die auf der Straße lebenden Kinder betreffen, die vom Bildungsministerium in Washington in diesem Jahr herausgegeben wurden, zeigen jedoch besorgniserregende Entwicklungen.

In der im Oktober veröffentlichten Studie wird nachgewiesen, dass die Zahl der obdachlosen Kinder seit Beginn der Finanzkrise um sage und schreibe 72 Prozent gestiegen ist. Sie liegt aktuell bei 1.168.354 Kindern. Im letzten Untersuchungszeitraum, von 2011 bis 2012, stieg sie um zehn Prozent. Dabei sind 43 Bundesstaaten von dieser letzten Erhöhung betroffen, in einigen Staaten waren es über 50 Prozent mehr wohnungslose Kinder als im Vorjahr. Die größte Zahl an Kindern, die keine feste Wohnung hatten, lebte in den Staaten New York, Texas, Kalifornien und Florida. Dies sind zugleich die Staaten mit den höchsten Zahlen an Obdachlosen. Ein Großteil dieser Kinder, 72 Prozent, wohnen in „doubled-up“ Situationen. Sie wohnen also in wechselnden Wohnungen, je nachdem, wie sich ihre Lage wieder verbessert oder gar weiter verschlechtert. 15 Prozent leben in Heimen, gar vier Prozent nur auf der Straße. Viele dieser letzteren „wohnen“ also in ähnlichen Situationen wie im oben beschriebenen Bus 22.

Seit dem Platzen der großen Immobilienblase im Jahr 2007 ist es vermehrt zu dieser Situation gekommen. Viele hatten vorher den Verlockungen der Hypotheken- und Kreditwirtschaft nicht widerstehen können. In der Folge mussten sie danach bitter erfahren, wie wenig sich viele Institute um ihre teilweise falschen Versprechen scherten und einen nach dem anderen vor die Tür ihrer Privatwohnungen, aber auch Mietwohnungen setzten. Seitdem hat sich das Bild der Obdachlosen in den USA stark gewandelt: Heute sind es viele kinderreiche Alleinerziehende und Familien, die kein festes Heim haben. Paradoxerweise haben sogar viele von ihnen Arbeit, doch verdienen sie nicht genug in ihren Jobs. Die Arbeitslosenzahlen gehen zwar zurück, aber ähnlich wie in Deutschland wird dabei wenig gefragt, welche Jobs das sind, die diejenigen in „Lohn ohne Brot“ halten.

Dabei stellt in den USA zweierlei ein Problem dar: Erstens sind gerade in den Gebieten, in denen sich viele Obdachlose aufhalten, die Mieten unbezahlbar. Viele der auf der Straße Lebenden müssten bei dem derzeitigen US-Mindestlohn von $7,25 24 Stunden am Tag in mehreren Jobs arbeiten gehen, um die Mieten in Ballungsräumen wie um San Francisco oder Los Angeles bezahlen zu können. In ländlichen Regionen hingegen gibt es keine ausreichende Infrastruktur zur Beherbergung von Obdachsuchenden. Außerdem ist das Jobangebot dementsprechend geringer. Das ist ein Grund, warum erneut viele dieser „neuen“ Obdachlosen und andere am Existenzminimum Lebende Anfang Dezember erneut die großen Fast-Food-Ketten bestreikten (siehe dazu den Artikel in der vorherigen DA-Ausgabe). Sie fordern einen Mindestlohn von $10, um ihre Familien durchfüttern zu können und am sozialen Mindeststandard leben zu können.

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