Krisen. Darüber, was sie sind, was sie ausmacht, wie sie entstehen und wie sie gelöst werden können, gibt es eine Vielzahl an Theorien und Interpretationen. Das ist sicherlich mit gutem Grund so, doch eines sollte klar sein – sie sind kapitalistischem Wirtschaften inhärent, immer wiederkehrend und nur zeitweise lösbar.
Dennoch tritt im Angesicht jeder neu aufkommenden Krise das große Vergessen darüber ein, dass es vergleichbare Situation seit dem Anbeginn kapitalistischer Vergesellschaftung immer wieder gegeben hat. So partiell die Suche nach den Verantwortlichen geführt wird, so partiell sind auch die jeweiligen Lösungsansätze. Die gesellschaftlichen Folgen dieser „Lösungen“ hingegen wirken sich mit aller Härte auf große Teile der Gesellschaft aus.
In Deutschland erleben wir seit einigen Jahren einen Krisendiskurs, der suggeriert, dass die vermeintlich Schuldigen der EU-Schuldenkrise im europäischen Süden nun „zu Recht“ in ihren Ansprüchen auf ein gutes Leben kürzer treten müssten, während wir im Hier und Jetzt noch ganz gut davonkommen würden. Während der Export-Weltmeister Deutschland sich selbst feiert und Politik und Medien stetig bemüht sind, ein mögliches Ankommen der Krise bei uns als drohenden Zeigefinger gegen Forderungen sozialen Ausgleichs zu nutzen, sieht die Realität für viele Menschen auch hierzulande brutal aus.
Zehn Jahre nach Einführung der Agenda 2010 und den dazugehörigen „Reformen des Arbeitsmarkts“, von der Grünen Göring-Eckardt damals „Frühling der Erneuerung“ genannt, verdienen acht Millionen Menschen ihren Lebensunterhalt im Niedriglohnbereich. Ein Viertel aller Beschäftigten lebt mit prekären Arbeitsverhältnissen. Teilzeit-Beschäftigungen, befristete Arbeitsverträge, Leiharbeit und Minijobs haben die „Normal-Beschäftigung“ teilweise verdrängt, so dass der Lohn immer häufiger nicht zum Leben reicht. So kommt es, dass es in Deutschland 2013 42 Mio. Beschäftigte gab – so viel wie noch nie – während gleichzeitig 12 Millionen Menschen in Armut lebten oder als armutsgefährdet galten. Fast 20 Prozent aller Personen unter 18 Jahren sind von sogenannter Einkommensarmut betroffen. Würde der Hartz-IV-Regelsatz 50 Euro höher sein als jetzt, hätten eine halbe Million mehr Menschen Anspruch auf Transferleistungen. Privatisierungen, steigende Mieten und höhere Lebenshaltungskosten tun ihr übriges, die Situation zu verschärfen.
Unabhängig von der Einkommenssituation ist praktisch überall ein immens gestiegener Konkurrenz- und Leistungsdruck zu verzeichnen, sowie eine steigende Arbeitsdichte. Ein zwanghaftes Bestreben nach einem lückenlosen Lebenslauf auf der einen Seite und ein Zuwachs an psychischen (Stress-)Erkrankungen wie Burnout auf der anderen Seite sind entsprechende Folgen. Die Angst vor dem sozialen Abstieg ist größer denn je, denn das soziale Netz besteht inzwischen größtenteils aus Löchern. Die Behauptung, die Menschen in Deutschland seien von der Krise kaum betroffen, ist also nicht nur grob fahrlässig, sondern faktisch falsch.
Trotzdem scheint ein Großteil der Bevölkerung darauf zu warten, dass die Krise wie eine Gewitterwolke vorbeizieht oder sich nur über den Nachbarn abregnet. Sicherlich ist dies häufig nicht einmal als Boshaftigkeit zu fassen, den „Nachbarn“ im globalen Kontext gegenüber, in Europa, am eigenen Arbeitsplatz, im Viertel oder in der Supermarktschlange. Doch die Hoffnung, sich irgendwie durchzuwuseln, der Versuch, den Kopf in den Sand zu stecken oder alle Probleme auszusitzen, scheinen weiterhin Oberhand zu behalten. Selbst dort, wo die Krise eigentlich lange angekommen ist.
Konkrete Interventionsmöglichkeiten gegen die beschriebenen Zustände scheinen deshalb bei einem Großteil der Bevölkerung wenig Anklang zu finden. Dies verwundert in Anbetracht der beschriebenen Situation. Zumal es im Kapitalismus normal ist, dass es Gruppen von Menschen gibt, bei denen das vorhandene Geld nicht zum Leben reicht. Unterstützung von Kämpfen im europäischen Süden, wo sich mehr Menschen gegen ihre Lebensbedingungen wehren als hierzulande, bis hin zur Initiative eines europäischen Generalstreiks, sollten deshalb nicht nur aus gelebter Solidarität heraus unterstützt werden. Vielmehr gibt es offensichtlich auch hier mehr als genug Gründe, die alltäglichen Bedingungen aufzudecken und anzugreifen, um sie zu verändern. Wann, wenn nicht jetzt!?!